Spaziergang oben ohne
Endlich wird es wärmer. Die Zeit, in der tristes Grau die Natur im Würgegriff hält, ist vorbei. Zumindest hat sie nicht mehr die Oberhand. Schluss mit dicken Klamottenschichten, in denen man aussieht wie ein Michelinmännchen und die einen beim An- und Ausziehen täglich mindestens 30 Minuten wertvolle Lebenszeit stehlen. Bei denen man nicht weiß, ob sich Konfektionsgröße 36 oder 52 darunter verbirgt und manchmal noch nicht mal ob Mann oder Frau. Zumindest nicht solange die Kopfbedeckung nicht gerade genug vom Gesicht Preis gibt um physische Merkmale eines Geschlechts erkennen zu lassen.
Aber genug davon. Jetzt haben wir Mai und die Sonne geizt nicht mit ihren Reizen. Sie wirft ihre Strahlen so euphorisch auf unser schönes Dresden wie ein Karnevalsjeck Konfetti auf das Partyvolk. Mein Gemüt wird förmlich positiv aufgeladen und der Energieschalter in meinem Gehirn auf "Volle Power" umgelegt. Daher muss ich raus. Und ich beginne zu überlegen. Soll ich das erste Mal in meinem Leben oben ohne gehen? Ich ertrage die kratzigen Materialien nicht mehr auf der Haut. Ich schwitze sogar richtig darunter und manchmal habe ich auch rote Stellen. Außerdem muss ich eh was für meinen Vitamin D Spiegel tun hat mein Arzt gesagt und das heißt - je nackiger desto besser. Aber das wichtige ist, ich werde mich befreit fühlen, nicht nur was den Stoff betrifft sondern vor allem von Vorschriften und Konventionen und der Erwartungshaltung unserer Gesellschaft.
Aber wie wird meine Umwelt auf mich reagieren? Sie ist dann schließlich mit einem für sie sehr ungewohnten Anblick konfrontiert. Meine Mitmenschen werden mich ungläubig anstarren, die Blicke an mir haften wie Sekundenkleber an einer zerbrochenen Vase, vielleicht spricht man mich sogar an. Aber sollte mich das kümmern? Ist es nicht mein Recht so draußen herumzulaufen wie ich es möchte? Ist es nicht das Recht eines jeden einzelnen sich in der Öffentlichkeit so zu präsentieren wie er sich gerade fühlt? Popstars wie Lady Gaga schlendern mit Fleischkleidern durch die Gegend, zelebrieren Nippelgates oder veröffentlichen Sexvideos. Da kann ich auch auf eine ungewöhnliche Art Haut zeigen. Natürlich werde ich mit den Reaktionen leben müssen aber sie sollten mich nicht kümmern. Das bin ich. Sollen sie doch glotzen.
Der Entschluss ist also gefasst. Ich wage es.
Also Haut frei gelegt, her mit meinem Kind, rein in die Tragetasche und erstmal 6 Stockwerke nach unten geschleppt. Etwas anderes bleibt mir auf Grund des fehlenden Fahrstuhls leider nicht übrig. Es ist allerdings jedes Mal aufs Neue eine gute Aufwärmübung. Anschließend lasse ich noch die übrigen 15 Treppenstufen ein verstört erschrecktes Baby mitsamt Wagen hinunterhüpfen, immer darauf achtend, dass der Kleine nicht mal bei einer Treppenstufe aus Versehen aus dem Wagen springt. Und dann ist es soweit. Ich trete ins Freie. Frische Luft dringt aus der geöffneten Haustür an unsere Nasen und schlängelt sich bereitwillig in die Lungen.
Ich nehme einen tiefen Zug. Die Mischung aus frischer Stadtluft und einem Hauch Abgasaroma entert meinen Körper. Nichts anderes bin ich von kleinauf gewohnt. Wahrscheinlich würde ein höherer Anteil an Sauerstoff meinen Körper eh nur in helle Aufregung stürzen mit dem Ergebnis, dass sämtliche Funktionen durch ein Übermaß an gesundem O2 überfordert wären.
Auch Rafael scheint es zu gefallen endlich außerhalb unserer vier Wände zu sein, wobei er weniger geflasht von dem Sauerstoffmix ist als von all den interessanten Dingen, die er von seinem Aussichtspunkt im Wagen erspähen kann. Mit 7 Monaten ist man eben auch noch so begeisterungsfähig wie ein kleiner Hundewelpe. Wackelnde Zweige - cool, der Himmel - abgefahren, vorbeigehende Oberkörper (mehr kann er aus seinem Winkel schlecht erkennen) - der absolute Wahnsinn!
Rafael ist beschäftigt und so trete ich also mutig zu meiner Runde an. Vorsichtig biege ich um die erste Kurve hinter meinem Haus. Es ist niemand zu sehen, der mir begegnen könnte und ich fühle einen Anflug von Erleichterung. Nicht, dass das so bleiben würde aber mich erst einmal kurz draußen zu akklimatisieren tut mir gut, denn den Wind auf dieser Hautzone zu spüren ist ein ganz ungewohntes Gefühl. Schließlich habe ich so etwas noch niemals zuvor gemacht.
Ich halte kurz inne, schließe die Augen und spüre den Moment mit all meinen Sinnen. Die kühle Brise umspielt meinen Körper wie ein zartes Seidentuch, das im Wind davontanzt und bildet einen angenehmen Ausgleich zur Umarmung der wärmenden Sonnenstrahlen.
Es ist die richtige Entscheidung, sage ich mir, Du musst nur mutig sein.
Einen Häuserblock entfernt biegt plötzlich ein Mann um die Ecke. Sein Weg wird an mir vorbeiführen und obwohl er mindestens 50 Meter entfernt ist, erkenne ich bereits jetzt seinen Augenausdruck, der verrät, dass er mich anscheinend schon entdeckt und als ungewöhnliches Vorkommnis eingestuft hat. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Soll ich ihm entschlossen entgegenschauen und so verhindern, dass sein Blick an mir kleben bleibt? Oder wäre ein verschüchtert gleichgültiger Blick an ihm vorbei das probatere Mittel um die innere Konfrontation mit dem ersten Fußgänger zu meiden? Ich entscheide mich für letzteres und kann dennoch im Augenwinkel seinen neugierigen Blick erkennen, den er interessiert im Schutze der Anonymität, die meine Vermeidungstaktik ihm bietet, auf mich wirft. Aber er sagt nichts. Mein Schritt beschleunigt sich, um das Aufeinandertreffen schnellstmöglich hinter mir zu lassen und mit jedem Schritt den der Spaziergänger sich weiter in meinem Rücken befindet wiege ich mich deutlicher in der angenehmen Sicherheit der Zweisamkeit von Rafael und mir.
Das schnelle Schieben des Wagens beschleunigt meinen Atem. In Punkto Kondition bin ich momentan leider die einzigartige Mischung aus Faultier und Schnecke. Vom ersten habe die Ausdauer und vom zweiten die Geschwindigkeit. Oder anders herum, was glaube ich keinen Unterschied macht. Das gepaart mit einem Kinderwagen und einem mittlerweile 8 Kilo-Kind ergibt eine 35-jährige Mama die ihr Gefährt des Öfteren leicht keuchend durch die engen Gassen der Plattenbauten manövriert. Es kam sogar schon vor, dass eine 70 jährige hinter mir keck zum Überholvorgang angesetzt hat. Aber solche Zweikämpfe habe ich bisher zum Glück noch immer gewonnen.
Ich sollte einfach wieder mehr Sport machen aber nach der Geburt war trainieren zeitlich nicht drin und mein kleiner Räuber hat eh etwa dagegen, dass ich mir großartig Zeit für körperliche Ertüchtigung nehme anstatt mich mit ihm zu beschäftigen. Seit 3 Wochen habe ich es allerdings einrichten können ca. 15 Minuten täglich mit dem Trx Band im Wohnzimmer zu trainieren während mein Zwerg amüsiert quiekend zuschaut. Das hat meine meine Ausdauer schon fast auf Leistungssportlerniveau gesteigert und ich halte gemütlich schlendernd immerhin nahezu 1,5 Stunden Wagenschieben durch! Und das, obwohl ich mir zusätzlich "Arbeit" aufgehalst habe, indem ich auf meiner Tour regelmäßig verschiedene Sitzgelegenheiten auf gleichbleibende Qualität hinsichtlich der Bequemlichkeit überprüfe. Manchmal teste ich auch nur eine, die aber umso intensiver.
Eine ganze Weile begegnet mir niemand weiteres. Ich habe nun den Bach erreicht, der durch unser Wohngebiet führt, eine kleine Oase als Kontrast zur Hektik des Großstadtdschungels. Ein landschaftliches Idyll inmitten von Betonblöcken und Straßenlärm, flankiert von stattlichen Bäumen, die es gegen seine Umgebung abschirmen. Nur die Spitze des Hochhauses, welches über den Baumkronen zu erkennen ist, lässt erahnen, dass man sich immer noch im Plattenbaugebiet Prohlis befindet. So begehrt dieser Stadtteil noch zu DDR-Zeiten war, weil er sich modern und mit vielen Einkaufsmöglichkeiten präsentierte, verkommt er mittlerweile leider zu einer Ansammlung von öffentlich gefördertem Wohnraum, was bedauerlicherweise regelmäßig schwieriges Klientel mit sich bringt. Wie z.B. die zwei Männer, die nun auf der ersten von zwei Bänken sitzen, die den Wegesrand säumen.
Beide sind in ein Gespräch vertieft, begleitet vom Genuss jeweils eines vormittäglichen Flaschenbieres und einer Zigarette. Sie achten trotz meines ungewöhnlichen Looks nicht auf mich, was vielleicht auf den nicht ganz klaren Zustand zurückzuführen ist, welchen Alkohol am Vormittag so mit sich bringt. Derweilen ich mich den Männern nähere entschließe ich mich meine erfolgreiche Vermeidungstaktik von eben zu wiederholen und starre angestrengt geradeaus während ich mich mutig auf die gleiche Höhe vorarbeite. Wieder beginne ich stechende Blicke auf mir zu spüren, gefolgt von einem verstummten Gespräch der beiden Herrschaften. Als ich es schon fast geschafft habe die beiden hinter mir zu lassen ertönt ein euphorisch-enthusiastisches "Guten Tag" von der Sitzgelegenheit nebenan. Die Begrüßung ist mit nur geringer Beteiligung der Zunge geformt, was darauf hinweist, dass das Bier, was der etwa 50-jährige bärtige Mann mit ungepflegter Erscheinung fest umklammert hält, bei weitem nicht das erste ist an diesem Tag. Dennoch schaue ich in ein freundliches Gesicht, welches sichtlich erwartungsvoll mit einer Antwort rechnet. Auch der zweite Herr lässt nicht vermuten, dass die beiden sich von meinem Anblick irritiert fühlen. Ich grüße kurz nett zurück und versuche möglichst schnell die beiden zu passieren, um dies nicht zum Beginn einer Unterhaltung werden zu lassen. Bevor das Duo noch etwas sagen kann bin ich schon an ihnen vorbeigelaufen.
Wie auch beim der ersten Fußgänger überkommt mich ein wohliges Gefühl der Erleichterung, gepaart mit einem Anflug von Stolz. Ich zeige mich wie ich bin ohne Rücksicht auf die Erwartungshaltung der anderen. Und die scheinen mein Äußeres sogar zu akzeptieren. Bisher kamen keine doofen Kommentare, zumindest keine hörbaren. Der Rest ist mir egal.
Die nächste Stunde bestätigen sich die Erfahrungen der ersten zehn Minuten. Ein paar Jugendliche kreuzen meinen Weg, ebenfalls ein Pärchen und zwei weitere Mütter mit Kinderwagen. Allen ist gemeinsam, dass ich ihnen sehr wohl auffalle aber bis auf irritierte Blicke und verhaltene Musterungen passiert nichts. Allesamt bemühen sich den Anschein von Coolness und Desinteresse zu wahren. Dem Einen gelingt es mehr den anderen weniger. Mittlerweile bin ich mutiger und muss sogar ab und zu in mich hineinlachen, wenn ich mein Gegenüber genauer beobachte und die Veränderung verfolge die geschieht, sobald man mich entdeckt hat. Es beginnt meist damit, dass die Person etwas gedankenverloren vor sich hinschaut, während sie ihren Weg wohin auch immer zurücklegt. Wenn ich auf mehrere Personen treffe, sind diese meist in eine Unterhaltung verstrickt. Dann kreuze ich mit meinem Aufzug ihr Blickfeld und binnen Sekundenbruchteilen weiten sich die Augen meines Gegenübers, bleiben an mir kleben und auch die restlichen Gesichtszüge beginnen leicht zu entgleisen. Unterhaltungen geraten ins Stocken. Doch scheinbar meldet das Gehirn der jeweiligen Person sofort "Achtung, Achtung, Contenance wird verloren! Muskulatur, bitte augenblicklich wieder ursprünglichen Tonus annehmen und Schein wahren. Blick unverzüglich senken oder angestrengt woanders hinblicken. Falls eben noch eine Unterhaltung stattgefunden hat, ursprüngliches Thema wieder aufnehmen und möglichst laut besprechen." Letztendlich laufen die jeweiligen Leute verspannt wie Scots Guards, also die Wächter vorm Buckingham Palace, an mir vorbei, trauen sich aber nicht mich anzusprechen.
Die Meldung bei Menschen über 60 scheint aber etwas anders abzulaufen. Dort schreit das Gehirn "Oh, ungewöhnliches Subjekt auf 12 Uhr. Endlich neues Thema zum tratschen mit Frau Meier gefunden. Bitte Augen darauf richten und intensiv inspizieren. Frühestens Blick nach 5 Minuten abwenden auch wenn das interessante Vorkommnis bereits vorbeigelaufen ist und Hals trotz fortgeschrittener Arthrose in diesem Fall um 180 Grad drehen. Sollte die Person Augenkontakt aufnehmen, unbedingt zurückstarren und dieses Duell für sich gewinnen."
So oder so ähnlich muss es zumindest bei den Damen abgelaufen sein, die mir schließlich am Ende meiner Runde über den Weg laufen. Trotz eines anscheinend nicht mehr vorhandenen Taktgefühls und penetranter Blicke höre ich dennoch wenigstens keine fragenden Bemerkungen solange sie sich in meiner Nähe befinden. Damit kann ich gut leben.
Endlich biege ich wieder um die Kurve vor meinem Haus. Da ist er - mein rettender Hauseingang. Beschwingt lege ich die letzten Meter zurück und schiebe den Wagen samt Rafael in den Flur. Mein kleiner Schatz hat den Großteil des Spaziergangs verschlafen, lässt sich auch nicht stören als ich ihn mit seinem Gefährt unter großen Kraftanstrengungen die Treppe hinter mir hochwuchte. "Nur noch ein paar Höhenmeter", denke ich mir, "dann sind wir wieder in unseren gemeinsamen 4 Wänden. Und dann kann ich sehr stolz auf mich sein."
Also werfe ich mir die Softtragetasche samt Zwerg über die Schulter und arbeite mich Etage für Etage in den obersten Stock, den ich nach gefühlten 10 Minuten mit 2 Zwischenstopps und einem zwischenzeitlich aufgetretenen Atemgeräusch, welches einem altersschwachen kochenden Kessel gleicht, endlich erreiche. Als ich die Wohnungstür hinter mir schließe, ist der Stein der mir vom Herzen fällt bis zu den zwei Gerstensaftliebhabern auf der Parkbank zu hören, die in der letzten Stunde sicher schon drei weiteren Bieren in der Sonne gefrönt haben.
Ja, die liebe Sonne. Sie hat mich ermutigt mich heute unverhüllt zu zeigen. So wie ich bin. Ohne Rücksicht auf die anderen. Und solange sie so intensiv scheint, werde ich ab jetzt immer oben ohne gehen. Ohne meine kratzige Perücke. Bis ich im Herbst die Chemotherapie geschafft habe. Und danach werde ich nur noch nach vorn blicken - auf ein langes gesundes Leben mit meinem Sohn.