Spurlos verschwunden
Warum weine ich um ihn? Die Tatsache, dass die Polizei sein verbeultes altes Cabrio heute morgen auf der Friedrichstraße in der Nähe vom Checkpoint Charlie verlassen aufgefunden hat, bedeutet nicht, dass ihm etwas zugestoßen sein muss. Vielleicht irrt er wie so oft durch seinen „Kreuzberger Kiez“ und hat Zeit und Raum vergessen. Mutters Tod vor zwei Jahren hat Vater aus der Bahn geworfen.
Meine Eltern waren wie für einander geschaffen. Mein Vater liebte Mutter sehr, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab – er umsorgte sie und verschonte sie vor den harten Realitäten des Lebens. Mutter war so lange ich denken konnte von schwacher Konstitution – sie kränkelte viel und jeder kühle Luftzug zog mindestens eine Influenza wenn nicht gar eine Lungenentzündung nach sich. So bald aber Vater den Raum betrat, strafften sich ihre Schultern, ihre Wangen röteten sich, man kann sagen, sie blühte auf in seiner Gegenwart.
Er ist ein wunderlicher alter Mann geworden, der sich mit zwielichtigen Gestalten herumtreibt und in verräucherten Kreuzberger Spelunken um seine magere Rente pokert. Nacht für Nacht besäuft er sich, tritt im Morgengrauen sturzbetrunken den Heimweg – mal mit seinem Auto und hin und wieder mit der U-Bahn – an, und je nach Rausch schläft er in seinem eigenen Bett, aber auch in düsteren Hinterhöfen oder gar in modrigen Gossen. Oft warte ich stundenlang mit dem Abendessen, bis ihn der Hunger irgendwann heim treibt. Nun ist er spurlos verschwunden!
Früher – vor unendlich langer Zeit – schluchzte ich meine Sorgen und Nöte in Vaters leicht nach holzigem Aftershave duftendes Flanellhemd, und er streichelte beruhigend über meine bebenden Schultern. Ich fühlte mich geborgen. Heute – zuletzt vor genau drei Tagen – liegt mein Vater inmitten einer Dunstwolke aus Whisky und Nikotin hemmungslos schluchzend in meinen Armen und beklagt den Verlust seiner Frau. Hilflos ertrage ich sein Jammern. Trost kann ich ihm nicht spenden; ich versuche alles in meiner Macht stehende zu tun, um ihm das Leben erträglicher zu machen. Meine Zweizimmerwohnung in Berlin Mitte teile ich mit ihm, kümmere mich um sein leibliches Wohl und wasche und bügele ihm seine geliebten Flanellhemden. Zudem füttere ich seinen ständigen Begleiter - den Joopie Heesters unter den Hunden - einen trotteligen Mischlingsrüden namens Blackie, der Vater treuherzig auf Schritt und Tritt folgt.
Übrigens hat die Kripo Blackie bei dem verlassenen VW Cabrio gefunden. Sobald sich jemand dem Auto nähert, bellt der alte Rüde, fletscht die Zähne und verteidigt wie ein Junger vehement Vaters Eigentum. Weder mit Lockrufen noch Leckereien lässt sich das arme Tier vom Fundort fortbewegen. Geduldig wartet Blackie auf die Rückkehr seines Herrchens.
Ich trockne meine Tränen, stelle Vaters Abendessen in den warmen Backofen und beschließe, Blackie Gesellschaft zu leisten.