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Stille Nacht

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12.11.2001
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Stille Nacht

„Komm schon, du Memme! Laß uns suchen.“ Tim schubste seinen kleinen Bruder aus dem Sessel.
Anton hätte ihm am liebsten gesagt, daß er ein schlechtes Gefühl dabei hatte die Wohnung nach Geschenken zu durchsuchen, da es ja nur noch drei Stunden bis zur Bescherung waren, doch er wollte vor seinem großen Bruder nicht als Feigling dastehen. „Wenn du meinst. Aber Ma‘ und Pa‘ kommen doch gleich schon mit Oma und Opa zurück.“
„Sei bloß ruhig. Bis die bei dem Schnee im Altersheim sind, vergeht noch mindestens eine halbe Stunde. Außerdem müssen sie den beiden Senilos erst noch erklären, daß Weihnachten ist.“ Tim kicherte.
„Ich mag es nicht, wenn du so über Oma und Opa sprichst.“
„Dann guck doch weiter Trickfilme.“ Tim gab Anton noch einen Schlag vor den Hinterkopf, dann verschwand er im Schlafzimmer seiner Eltern.
Während Anton die Schranktüren schaben hörte, malte er sich aus, was wäre, wenn ihre Eltern früher nach Hause kommen würden. Er beschloß, daß es besser wäre, wenn er dann bei seinem Bruder war um ihm zu helfen. Anton schaltete den Fernseher aus, wo gerade die Flintstones auf Santa Claus trafen. „Tim? Warte bitte auf mich, ich will doch mit dir suchen.“
„Ach, das Bübchen hat doch nur alleine Angst. Na dann komm, du kannst dich unters Bett quetschen.“
Anton ignorierte Tims Beleidigung und setzte sein freudigstes Lächeln auf. Dann verschwand er unter dem Bett seiner Eltern und durchstöberte die Staubschichten nach Geschenken.
„Hey, Maulwurf! Ich glaube nicht, daß die beiden hier etwas versteckt haben.“
Langsam schob Anton sich unter dem Bett hervor. „Warum nicht?“ Kaum hatte er diese Frage gestellt, da bereute er sie auch schon wieder.
„Weil ich das sage, du Idiot.“ Tims Antwort kam synchron mit seiner Hand, die auf Antons Hinterkopf klatschte. „Klar?“
Anton nickte. „Natürlich. Also, wo willst du noch suchen?“
„Wo willst du noch suchen?“ Äffte Tim ihn nach. „Immer soll ich nachdenken, mach’ du doch einen Vorschlag!“
Anton dachte kurz nach. Wenn er sagte, daß sie die Geschenke nie finden würden, so würde Tim das nicht akzeptieren, also sagte er: „Ich würde so etwas auf dem Dachboden verstecken, glaube ich.“
„Na, hoffentlich sind die Beiden so doof wie du. Los, komm’.“ Tim stürmte aus dem Schlafzimmer, quer durch das Wohnzimmer und den Flur entlang in Richtung Dachbodenluke.
Als Anton kurz nach ihm dort ankam, versuchte Tim schon an den Griff zu kommen.
„Verdammt, ich komm nicht dran.“ Er sprang noch einmal so hoch er konnte, verpaßte den Griff aber um einige Zentimeter. „Los, mit dir Zwerg auf den Schultern, kann ich es schaffen.“ Ohne ein Wort zu sagen kam Anton näher, dann packte Tim ihn unsanft an der Hüfte, hievte ihn hoch und setzte ihn auf seine Schulter. „So, du hältst dich jetzt am Griff fest und wenn ich dann weggehe, bleibst du dran hängen. Klar?“ Ohne auf eine Antwort zu warten duckte sich Tim und sprang nach hinten weg.
Einen Augenblick lang geschah gar nichts, doch dann öffnete sich die Luke mit einem leisen Knarren. Noch bevor Anton reagieren konnte, sprang sie auf. Er landete unsanft auf seinem Po. Mit einem heiseren Aufschrei bemerkte er, daß ihm nun die Leiter entgegen raste. Kurz bevor sie seinen Kopf getroffen hätte, wurde er brutal nach hinten gerissen.
„Jetzt schuldest du mir dein Leben. Man, das ist für mich ein scheiß Geschäft.“ Tim half ihm nicht auf, sondern spurtete die Leiter hinauf. Oben angekommen suchte er laut fluchend den Lichtschalter.
Anton kletterte langsam nach oben. Die Energiesparlampe flackerte auf, erhellte die muffig, staubige Umgebung aber nur spärlich. Er stieß einen hellen Schrei aus und wäre fast rücklings die Treppe heruntergefallen. „Tim! DA! DA! Guck doch!“
„Was ist jetzt, du Muttersöhnchen.“ Tim klopfte sich gerade den Staub von der Hose. „Oh Scheiße! Heilige Scheiße. Was macht der Kerl hier.“
In der Mitte des kalten Raumes saß ein dicker Mann auf einem Hocker. Im schwachen Leuchten der Lampe, erkannte man, dass er einen roten, fleckigen Mantel und eine farbgleiche Zipfelmütze trug.
„Tim, ist das der..., der...“ Anton rückte zitternd an seinen Bruder heran.
„Quatsch, es gibt keinen Weihnachtsmann. Das ist ein Penner und ich rufe jetzt die Bullen.“ Er stieß Anton beiseite, blieb aber an der Luke stehen, als der Mann hustete.
„Was wollt ihr hier, Kinder?“ Die Stimme war kaum zu verstehen, dennoch hörte man Traurigkeit in jedem Wort.
Anton sah nun im fahlen Mondlicht sein Gesicht. Wenn das der Weihnachtsmann war, dann ging es ihm aber verdammt schlecht. Seine Backen waren eingefallen, sein weißer Bart wies schmutzige Stellen auf und die Augen, die eigentlich fröhlich leuchten sollten, waren rot und geschwollen. „Äh, wir wollen, äh...“ Anton hatte bis zu diesem Augenblick auch nicht an den Weihnachtsmann geglaubt, doch nun saß er dort.
Tim verpaßte seinem Bruder einen Schlag in die Rippen, worauf hin sich dieser hinter ihm versteckte. „Was geht das sie denn an. Das ist unser Dachboden und sie begehen Hausfriedensbruch oder so. Wenn sie nicht sofort verschwinden, dann rufe ich die Bullen.“
„Tu, was du nicht lassen kannst.“ Er alte Mann blickte traurig nach oben.
Anton erkannte etwas, daß vom Dachbalken herunter hing. Einen Augenblick zweifelte er, doch das Mondlich war hell genug, um es klar zu erkennen.
„Scheiße?“, schnaufte Tim. „Der Penner will sich auf unserem Dachboden aufhängen. Mann, das können sie doch nicht tun!“
Für einen kurzen Augenblick kam eine Funkeln in die Augen des Bärtigen. „Machst du dir etwa Sorgen um mich?“
Anton machte sich Sorgen. Irgendetwas an diesem alten Mann berührte ihn tief in seinem Innersten.
„Sorgen? Was meinen sie, was das Heilig Abend für einen Streß gibt, wenn wir einen toten Penner auf dem Dachboden hängen haben. Sorgen mach’ ich mir höchstens um den Balken, sie sind ja nicht besonders schlank und das Holz schon etwas älter.“
Anton bekam ein mulmiges Gefühl. Nicht, daß er Angst hatte der Fremde würde ihnen etwas antun, er hatte Mitleid mit ihm. Mitleid mit dieser trostlosen Erscheinung, die eigentlich der personifizierte Kindertraum sein sollte. Mit dieser Person, die Weihnachten verkörperte. „Tim, sei nicht so gemein zu ihm. Er ist doch traurig.“
„Halt deine Klappe. Wenn er sich erhängen will o.k., aber nicht hier. Also, verschwinden sie! Wenn sie jetzt gehen, müssen meine Eltern nichts von diesem Vorfall erfahren.“
„Ich wünsche euch ein frohes Fest.“ Seine Stimme zitterte. Langsam stieg er auf den Hocker und schob seinen Kopf durch die Schlinge. Eine Träne schimmert im Mondlicht auf seiner blassen Backe, als er den Knoten enger zog.
„Denken sie nicht, daß wir ihnen dabei zugucken.“ Tim packte Antons Arm und zog ihn mit sich. Im Vorbeigehen schaltete er das Licht aus und kletterte dann mit ihm die Leiter herunter. „Ich hab’ was besseres zutun.“
Für Anton war das alles zuviel. Er begann zu schluchzen.
„Sei still, du Memme. Heul doch nicht wegen einem alten Penner.“
„Und ... was ist, wenn das doch der ... Weihnachtsmann war?“ Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Tim guckte ihn verwundert an. Vom Dachboden hörte man ein Keuchen und dann ein kurzes Knacken. „Na und? Die Geschenke bekommen wir von Ma‘ und Pa‘.“

(Ich wünsche hiermit allen ein frohes Fest
und hoffe auf Erkenntnis,
oder wenigstens auf ein Wort
des Herrn,
denn Weihnachten ist
TOT.)

 

Ich hoffe meine Weihnachtgeschichte, die am 10.12.1998 Gestalt annahm, sagt euch zu.
Natürlich ist sie von Toten Hosen Song „Weihnachtsmann vom Dach“ inspiriert.

 

Beeindruckend!
Eine Geschichte, die nachdenklich macht.
Ich hab sie mir mal zum zeigen ausgedruckt.
In ca. 2 Jahren gebe ich sie meiner Tochter zum lesen.

Im Bewunderung :eek:
Manfred

 

Ich hab mich gerade an diese Geschichte erinnert.
Die zwei Jahre sind vorbei, aber am Sonnhtag werde ich sie mal meinen Leuten vorlesen

 

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