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Tantalus
Tantalus
Er fährt an dem schmalen Flussbett entlang, und nach und nach enthüllt sich die vermüllte Landschaft: umgekippte Eimer an der Biegung des Flusses, ein kaputter, unkrautüberwucherter Kinderwagen, ein Benzinfass, das eine trockene Zunge aus Rost herausstreckt, der Kadaver eines Kühlschranks in den Brombeersträuchern. Menschen, die ihr Leben an diesem Fluss beginnen und beenden.
Charlie richtet seinen Blick nach vorne und fährt schneller. Er befürchtet, seine Großmutter könnte Recht haben – der Fluss braucht ein Opfer. Sie hatten den Fluss sogar Tantalus getauft.
„Ah!“ Diana schreit kurz auf und lässt ihre Tasche fallen, als er vor ihr abrupt bremst. „Sorry, bin spät dran“, sagt er und steigt von seinem alten gebrauchten Fahrrad.
„Es gibt auch einen anderen Weg“, sagt sie und hebt ihre grüne Tasche mit dem Uni-Logo auf.
„Dann hätte es länger gedauert.“
„Das habe ich nicht gemeint.“ Diana runzelt ihre Stirn. „Ich dachte, du kannst den Fluss nicht ausstehen. Ich verstehe es nicht?“
Charlies schluckt schwer und sein Herz rast. Es ist als ob viele kleine Ameisen auf seine Haut herumkabbeln würden. Er hat das Gefühl, aus seinem Körper herausspringen zu können und nur mit mühe kann er die Tür zum Café öffnen.
„Wieso tust du es dir nur an?“ Diana schüttelt den Kopf und folgt ihn.
Sie haben sich letztes Jahr in einem kleinen Restaurant in der Stadt kennengelernt – auf der Suche nach einem Job, um ihre Miete zahlen zu können. Charlie war von Diana beeindruckt und eingeschüchtert. Obwohl die zierlich junge Studentin weder in der Küche noch im Service eine gute Arbeitskraft ist – das kaputte Geschirr kann es bezeugen – scheint niemand sie entlassen zu wollen. Schon nach zwei Tagen ihrer Einstellung wusste sie von der Affäre des hageren Personalleiters mit der blonden Köchin Bescheid.
Im Café ist es warm und es riecht intensiv nach Kaffee und Holz. Sie lieben es hier, denn die alten stabilen Möbel und das gesprächsfreudige Personal strahlt Vertrauen und Geborgenheit aus. Das braucht Charlie jetzt – Diana ist mit einem starken Kaffee zufrieden.
„Da wir jetzt die Bestellungen hinter uns haben, können wir anfangen“, sagt er und bemerkt, dass Diana ihr Tablett, Block und Stift schon auf dem Tisch bereitgelegt hat.
„Ja, das können wir. Aber sollten die Fragen zu intensiv werden oder du dich schlecht fühlen … “Sie schaut ihm tief in die Augen. „Wir können das Interview unterbrechen oder es langsamer angehen.“ Charlie nickt und lächelt.
„Also, ich erzähle einfach. Richtig?“ Diana klopft mit dem Kugelschreiber auf ihrem Block und nickt.
„Ich bin in dem Wohngebiet beim Tantalus … also dem Fluss aufgewachsen.“
„Tantalus wurde es von den Menschen im Wohngebiet getauft, richtig?“ Fragt sie.
Charlie nickt. „Vom Tantalus kam immer dieser schreckliche Geruch nach verdorbenem Fleisch.“ Er nimmt einen großen Schluck von seinem Kaffee. „Meine Oma hat immer gesagt, Tantalus braucht Opfer – es gab viele, die das geglaubt haben. Sie haben manchmal Geld oder Essen reingeschmissen, damit es beruhigt ist.“
„Wieso?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber als meine Großeltern noch jünger waren, gab es in der Gegend ein Serienkiller. Er hat Frauen getötet und die Leichen im Wasser beseitigt. Als er gefasst wurde, hatte sich das Gerücht schon bereitet.“ Charlie kann sehen, wie Diana alles fleißig notiert. Sie wird wohl für ihren Artikel den Namen des Serienkillers später heraussuchen müssen.
„Die Generation meiner Großeltern hat wohl gedacht, Tantalus wäre ein Fluch oder so was.“ Er rührt in seinen Kaffee und sieht, wie sich kleine Wirbel bilden. „Im Wohngebiet neben Tantalus sind die Menschen arm. Sie haben kein Geld, aber dafür Traditionen und Rituale.“ Hinter Diana sitzt eine Frau mit dunklen Haaren und ihrer Tochter. Charlie nickt ihnen zu. „Wir sind nie zusammen in Urlaub gefahren oder in schick essen gegangen. Aber alle haben, so gut es ging, aufeinander aufgepasst.“ Er erinnert sich an ihre alte heruntergekommene Wohnung mit dem Schimmel an den Wänden. „Ich glaube, meine Eltern und Großeltern haben sich Machtlos gefühlt und durch Tantalus … da konnten sie aktiv etwas unternehmen … sie haben etwas geopfert um ihre Kinder zu schützen. Es ging glaube ich um Kontrolle.“ Charlie lächelt sie an und hofft, dass sie ihm verstehen wird.
„Also haben sie wertvolle Gegenstände im Fluss geworfen?“ Diana kaut jetzt an ihren Kugelschreiber und an ihrer Stirn haben sich Falten gebildet.
Die Kellnerin kommt und stellt ihr Frühstück auf ihren Tisch. Die Brezeln riechen frisch gebacken und ein warmes Gefühl steigt in Charlies Magen auf. Es sind die Kleinigkeiten, die ihm seine Freiheit schätzen lehren.
„Wie alle anderen aus der Gegend hatten auch wir wenig. Als ich älter wurde, habe ich Zeitungen ausgetragen und kleine Aushilfsjobs gemacht, aber es gab immer jemand. der besser war.“ Diana notiert jetzt nichts, sondern hört ihn konzentriert zu. „Irgendwann hat mein Kumpel … Tony … den Vorschlag gemacht, mit ihm zusammen … ich bin nicht stolz drauf … “ Er schaut aus dem Fenster und lässt seine Hand durch seine dunklen Haare gleiten. Er kann spüren, wie sich auf seiner Stirn Schweißtropfen bilden.
„… Wir haben Drogen verkauft.“ Diana nickt nur. „Ich weiß noch, dass wir meistens nachts unterwegs waren. Es war auch immer kalt und wir hatten Angst vor dem plötzlich auftauchenden Nebel und diesen kleinen süßlichen Päckchen in unseren Taschen.“
Charlie muss an das viele Geld und die Geschenke für seine Familie denken. Seine Eltern haben sich immer gefreut, wenn er ihnen unter die Arme greifen konnte. „Es war egal, woher das Geld kam … es lief ja für Jahre auch gut.“
„Was ist passiert?“
Charlie nimmt einen Schluck von seinem kalten Kaffee. „Irgendwann hat meine Großmutter gesagt, ich solle Tantalus Geld geben.“ Charlie Stimme senkt sich. „Sonst würde etwas Schreckliches passieren.“
Diana fängt wieder an, sich alles zu notieren. „Sie lag mir seit Monaten in den Ohren. Ich wollte mein Geld nicht in einem dreckigen Fluss werfen, aber meine Oma anschreien konnte ich auch nicht.“ Er muss schlucken und senkt seine Augen.
„Ich war sauer und bin zu Tony gegangen.“
„Deinem Freund Tony?“
Charlie nickt. „Als ich aber dort ankam, lag er da - tot. Mit einem Messer in der Brust und ich … ich … bin in Panik geraten.“ Er spricht jetzt schneller. „Ich wollte ihm … helfen und habe das Messer aus seiner Brust … gezogen.“ Er schaut Diana tief in die Augen. „Da ist Tonys Nachbar von der Arbeit gekommen und hat mich gesehen.“
„Hat er die Polizei gerufen?“ Die Worte bleiben Charlie im Hals stecken. Er kann nur nicken.
„Und sie haben dich wegen Mordes verhaftet.“ Noch ein nicken.
„Seit letztes Jahr bist du ein freier Mann.“ Sie nimmt seine Hand und schaut ihn an. „Wieso wurdest du freigesprochen?“ Sie spricht ganz leise und sanft.
„Der Polizist, der mich damals verhaftet hat, ist vor ein paar Jahren umgezogen und es gab in seiner Gegend ein Mord. Manche Serienkiller hinterlassen etwas am Tatort.“
„Und dort gab es etwas?“
„Ja! Keine Ahnung was es sein soll, aber der Polizist konnte sich erinnern. Und da ich im Gefängnis war, dachten sie, es wäre ein Trittbrettfahrer.“
„Wieso bist du denn jetzt frei?“
Charlie zuckt mit den Schultern. „Weil der Irre gestanden hat. Er hat angegeben, besser als die Ermittler zu sein. Um die Polizei zu verwirren, hat er nie zweimal in dem gleichen Bundesstaat gemordet. Niemand hat dann nach einem Serienkiller gesucht.“
„Der ist ja aber wirklich irre und clever.“
Charlie bemerkt, dass seine Kaffeetasse leer ist. „Ich frage mich, wie viele er ermordet hat und ob auch andere unschuldig im Gefängnis sind.“
Diana nickt. „Zehn Jahre. Muss hart gewesen sein.“ Sie sieht ihn an.
Er schaut zu Boden und spielt mit dem losen Faden seiner Hose. „Tut mir leid, aber für heute reicht es. Hast du genug für deine Hausarbeit?“
„Ja, kein Problem. Journalismus, ich komme!“ Sie essen ihr Frühstück in einer seltsam angenehmen Stille. Charlie ist froh, Diana geholfen zu haben.
„Danke, dass du mit mir gesprochen hast.“ Sie umarmt ihn und er hat Tränen in die Augen. Es ist sehr lange her, dass Charlie eine Umarmung bekommen hätte. „Wenn du etwas brauchst, bin ich für dich da.“
„Danke“, flüstert er leise und kann sein Glück nicht fassen.
Nach ihrer Verabschiedung steigt Charlie wieder auf sein Fahrrad und fährt zum Tantalus. Es stinkt genauso wie in seiner Jugend und dreckig ist es immer noch. Er lehnt sein Fahrrad gegen die Wand und läuft zum Ufer.
In seinen Albträumen steigen aus diesem Fluss Monster und Gespenster heraus. Sie schleifen ihn mit ihren klebrig knochigen Händen zum Fluss. Obwohl die Wesen kleiner und dünner sind, verliert er den Kampf.
Er holt seinen Geldbeutel aus seiner Tasche und zählt das Geld – knappe zehn Euro. Charlie wünscht sich, den stinkenden Tantalus durch schöne Erinnerungen ersetzten zu können. Als er das Geld in den Fluss wirft, weht ein sehr starker Wind und ein stechend bestialischer Geruch liegt in der Luft – Charlie muss sich übergeben. Es ist, als ob Tantalus ihn verspotten würde.