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Tod nach Plan

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23.10.2005
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Tod nach Plan

Tod nach Plan

Es war klar, dass so ein Brief per Einschreiben verschickt würde. Per Einschreiben mit Rückantwort. Nichts ahnend leistete ich dem freundlich lächelnden Postboten die erforderliche Unterschrift und nahm das Schriftstück entgegen.
Der Inhalt bedeutete zusammenfassend in etwa Folgendes: Jetzt am Freitag gegen 16 Uhr 30 solle ich sterben; die große Reise könne beginnen .Nun war hinlänglich bekannt, dass dieses Ereignis eintreffen musste. Allerdings war ich nicht auch nur annähernd darauf vorbereitet, traf es mich doch in einer Phase größter Geschäftigkeit.
Während die Strahlen der untergehenden Abendsonne schräg in mein Zimmer fielen und den Raum mit goldenem Licht erfüllten, flitzten hundert verschiedene Gedanken durch meinen Kopf, welche sich gegenseitig trafen, kreuzten und verschlangen, so dass es mir schwer fiel, auch nur einen einzigen davon festzuhalten und durchzudenken.
Ich dachte an einen Plan, den ich mir kurzfristig ausarbeiten müsste, um ihn dann sinnvoll und systematisch abzuarbeiten; säuberlich auf die mir noch verbleibenden Stunden müssten die notwendigen Aktionen verteilt werden, damit alles seinen Gang gehen könnte. Dann fielen mir jedoch immer wieder neue Dinge ein, die abschließend nicht vergessen werden durften: mindestens neun Abschiedsbriefe sollten noch an all Jene, die mir wichtig waren, geschrieben werden, der Sarg müsste bestellt und mein Begräbnis arrangiert werden, die Druckerei müsste Totenzettel und Einladungen zur Trauerfeier herstellen – überschlägig zählte ich rund vierzig Personen, die ich benachrichtigen müsste – der Grabstein sollte beim Steinmetz in Auftrag gegeben werden…
Noch ehe ich diese Punkte sinnvoll ordnen und planen konnte, traten neue, wichtige Entscheidungen zu Tage: die Verwaltung von Konten, Daueraufträgen, Einzugsermächtigungen etc…
Über diese plötzlich auftretenden Probleme wurde es stockfinster.
Ich machte Licht, trat an das Fenster und sah mich an.

Zeitig stand ich am nächsten Morgen auf.
Die noch tief stehende Septembersonne verhieß einen goldenen Herbsttag. Im Vorgarten hüllten taubenetzte Spinnfäden meine Rhododendren und Lavendelsträucher ein. Aber noch bevor ich jenes Bild verinnerlichen konnte, liefen meine Gedanken schon in die Bahn des prall an Pflichten gefüllten Tages ein.

Am Abend zog ich Bilanz und war, obwohl noch Vieles unerledigt liegen geblieben war, recht zufrieden mit der Abarbeitung notwendiger Tätigkeiten. Mein Konto hatte ich zum Freitag gekündigt, die Zeitung war abbestellt worden, für übermorgen hatte ich einen Notartermin vereinbart, um die Nachlassverwaltung zu regeln. Mein Grabstein war bestellt; ich hatte einen einfachen, schwarzen Granitblock bestellt, der lediglich meinen Namen tragen würde.
Zwei Briefe an weiter entfernt wohnende Bekannte hatte ich verfasst; der Text war ernst und sachlich geschrieben und beschränkte sich auf das Wesentlichste.

Am nächsten Tag gab ich mein Zwergkaninchen in eine Tierhandlung. Ich erhielt 10€, die ich in der Johanniskirche in den Opferstock warf.
Ich führte viele Telefonate, regelte einige Geschäfte, die seit geraumer Zeit auf ihren Abschluss warteten, und konnte am Abend, während ein schwerer Platzregen niederging, recht zufrieden den noch kommenden achtundfünfzig Stunden entgegensehen.

Früh, gegen sechs Uhr dreißig, stand ich auf und der erste Morgendämmer verscheuchte das Dunkel der Septembernacht. Ich trat aus der Tür und atmete tief ein: die Luft roch herbstlich und frisch.
Plötzlich, noch bevor jedwede andere Gedanken keimen konnten, drang die Erkenntnis in mir durch, dass ich nur noch achtundvierzig Stunden Zeit hatte, die noch anstehenden Verpflichtungen zu erledigen. Und ich verfasste im Laufe des Vormittags noch sieben Abschiedsbriefe an weitere Bekannte. Ich hatte mir dreizehn Uhr als Zeitpunkt des Abschlusses gesetzt und blickte zehn Minuten vor dreizehn Uhr stolz und erschöpft auf sieben säuberlich geschriebene und einkuvertierte Schriftstücke, die nur noch frankiert werden mussten.
Am Nachmittag folgte ein Behördengang dem anderen; abschließend am späten Abend blickte ich zufrieden auf ein sich lichtendes Feld, dass nun recht überschaubar gesäubert war von Erledigungen, mein Haus, meinen Beruf, mein ganzes äußeres Leben betreffend.

In der Nacht schlief ich einen schweren, traum- und erinnerungslosen Schlaf, um am Morgen frisch und ausgeruht den vorletzten Tag meines Lebens zu beginnen.

Der Tag verlief ruhiger als die vorangegangenen, emsig und gezielt erledigte ich jedoch weiterhin kleine und kleinste Dinge, auf die ich nach und nach aufmerksam wurde. Ich schnitt ein letztes Mal den Rasen, jätete Unkraut, unterzog sämtliche Räume einer soliden Grundreinigung, entsorgte nahezu alle Lebensmittel, führte mal dieses, mal jenes Telefonat, durchforstete noch einmal Kontoauszüge, Quittungen und Verträge; und gleichwohl ich mich in steter Geschäftigkeit bewegte, glitt eine seltsam erregende Ruhe durch meine letzten Stunden.
Am Abend blickte ich wieder durch das große Fenster hinaus auf die in erste Herbstnebel liegende friedliche Landschaft. Gesichtslos nahm ich die Konturen meines Kopfes in der Fensterscheibe wahr.
In der Nacht, weit nach Mitternacht, etwa zwölf Stunden vor meinem Tod, erwachte ich, und wurde, wie unsichtbar geleitet, vom Fenster, durch dass ich am Abend zuvor noch blickte, angezogen. Und dann glaubte ich Bilder zu sehen, winzige, lächerliche, unbedeutende Sequenzen aus meinem früheren Leben. Mehr noch: ich glaubte Gerüche zu riechen und Laute zu hören.
Plötzlich stürzte eine regelrechte Bilder- und Sinnenwelt auf mich ein: ich sah mich als Achtjähriger in einem Baumhaus, ich sah meine Mutter, wie sie am Kachelofen saß und einen Schal strickte. Und ich glaubte genau zu fühlen und genau zu wissen, welches Gefühl es bereitete, ihn um den Hals zu schlingen.
Ich sah mich mit Sarah, meiner großen Liebe, an einem Fjord in Norwegen. Wir aßen zuvor gepflückte Blaubeeren. Und ich glaubte in dem Augenblick den Geschmack der Blaubeeren zu schmecken. Ich sah Bild um Bild der ganzen weit zurückliegenden Jahre: ein Konzert der Rolling Stones, ich sah den Sarg meines Großvaters, der sich in die Tiefe der Erde senkte, und gleichzeitig glaubte ich Tränen zu vergießen. Nein- ich fühlte, wie ich Tränen vergoss.
Nach und nach stürzten seltsam kleine, vergangene Bildchen auf mich ein, stürzten durch mich hindurch und schienen jedes Mal einen unsichtbaren Schnitt zu hinterlassen. Eine Woge aus Schmerz und Freude schwappte durch meinen Körper und durch meine Sinne. Ich befand mich für ungewisse Zeit in einer phantastischen verzweifelt- wunderschönen Erregung, in einem Wechselbad sinnlicher Empfindungen, die gleichermaßen Schmerz und Freude bereiteten. Und während ich sinnend durch die Fensterscheibe blickte – dahinter lag pechschwarze Nacht – erkannte ich mich deutlicher denn je – und doch schien ich mir fremd.

Doch dann – die Uhr schlug genau vier Uhr – war alles wie nie gewesen.
Es war ganz genau der Moment, in dem mir der Holzrahmen des Fensters ins Auge fiel. Eine dicke Staubschicht lag darauf. Und ebenso auf allen anderen Fensterrahmen meines Hauses.

Die Fenster !!!
Sie zu putzen hatte ich vergessen !!!

Diese Erkenntnis öffnete meine Augen. Dominoeffektartig purzelten noch hunderte an Pflichten in mein Bewusstsein: den Keller hatte ich vernachlässigt, die Heizung war nicht gewartet worden, die Nachbarn hatte ich nicht mit dem neuen Eigentümer meines Hauses bekannt gemacht…
…es war, als öffnete eine neu entdeckte Pflicht eine weitere Pflicht, so wie eine soeben geöffnete Schublade eine weitere Schublade beinhaltete.

Und die Zeit rannte davon!

Getrieben und ohne Unterlass nutzte ich den vor mir liegenden Tag, um ein Ding nach dem anderen zu erledigen und abzuhaken. Beinahe bewußtseinslos wie eine im Gleichtakt arbeitende Maschine führte ich Telefonate, machte Besorgungen, besserte aus, putzte, setzte instand…

Am späten Nachmittag, erschöpft und leer, saß ich auf einem Stuhl gegenüber dem großen Fenster, und erwartete den Tod.
Ich fühlte genau den Augenblick, da er eintreffen musste .Aber in eben jenem Moment flog ein Einschreiben durch den Briefschlitz meiner Haustür und lag direkt zu meinen Füßen.
Ich öffnete das Schreiben – es war ohne Rückantwort verschickt worden – und man entschuldigte sich für das Schreiben der letzten Tage, welches wohl versehentlich erstellt wurde.

Demnach wäre ich schon seit einigen Jahren in eine Bahn des Todes eingelaufen und der vollständige Tod sei bereits heute Morgen gegen Punkt vier Uhr eingetreten.

Und wieder blickte ich durch das Fenster, durch mein Fenster, aber ich konnte mich nicht mehr erkennen.
Nie mehr.

Und rasend schnell begann es zu dämmern, rasend schnell wurde es Nacht.

Copyright Herbert Fehmer
21.Juli 2005

 

Der Text hinterlässt bei mir tiefen Eindruck, schon alleine die Idee des per Einschreiben angekündigten Todeszeitpunktes ist einzigartig. Akribisch genau schilderst du die Tage, die bis zum Ableben verstreichen und ziehst somit den Leser vollständig in seinen Bann, läßt ihn mitfühlen, mitleiden. Wunderschn beschriebst du den tatsächlichen Zeitpunkt des Todes (4 Uhr), verrätst den Plot dabei aber mit keinem einzigen Wort.

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