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Träumerle, ach Träumerle
Verträumt schaute Träumerle aus dem Wohnzimmerfenster.
»Träumerle, ach Träumerle«, sagte Marlies. Daraufhin drehte er sich um, blickte sie an und lächelte, wie bei einem Reflex, der auf diesen Satz folgen musste.
Im Esszimmer saßen sie sich gegenüber und musterten einander schüchternen Blickes, wie ein noch unbekanntes Objekt, das es zu studieren gilt. Diese Momente fand Marlies immer spannend.
»Willst ´nen Kaffee?«, fragte sie dann.
»Ja, unbedingt«, sagte Träumerle.
Während sie vom starken, dampfenden Kaffee tranken, sprachen sie über ihr Leben, bevor sie sich kannten.
»Vor dir hatte ich ehrlichgesagt nie viel Glück mit Frauen.«
»Ach, wieso das?«
»Mein Verhalten änderte sich automatisch und schlagartig, wenn eine den Raum betrat. Ich wurde nervös und albern und sprach schnell und aufgeregt. Ich verhielt mich einfach nicht natürlich, so wie in männlicher Gesellschaft.«
»Ach ... so.«
»Da gab es zum Beispiel diesen einen Abend, als wir in der Wohnung eines Freundes Pizza bestellten und einen dieser rosaroten Liebesfilme ansahen. Geschlechtsaufteilung: Dreimal feminin und dreimal maskulin. ›Du warst mal wieder der Knaller‹ hatte mein Freund euphorisch zu mir gesagt, als alle andern weg waren. ›Ich weiß‹ hatte ich, wenig euphorisch, geantwortet.«
»Und warum war das bei mir anders? Warum konntest du in meiner Anwesenheit natürlich auftreten, ohne schauzuspielen.«
Träumerles Gesicht erhellte sich merklich. Er zuckte mit den Schultern und schlürfte von seinem Kaffee. »Einfach so.«
Träumerle fuhr fort, mit dem was ihn bewegte und gleichzeitig aufregte. »Geld ist doch nur Papier mit Zahlen drauf. Ich hasse das ganze Prestigegehabe.«
Hätte er es nicht gehasst, wäre er nicht Träumerle gewesen, überlegte Marlies. Sie liebte diesen Charakterzug an ihm.
»Ich habe nie verstanden wie Menschen Geld so wichtig sein kann, ganzer Lebensinhalt und Motivation. Wirklich zählen sollten elementarere Dinge wie Gesundheit, Freundschaft und Liebe.«
Er meinte nicht die armen Leute, über jeden Euro glücklich, dachte Marlies, sondern die reichen, gierigen.
Schon sprang Träumerle zum nächsten Thema. »Da gibt es doch diese Bedürfnispyramide.«
»Ja, die kenne ich auch. Maslow.«
»Genau. Die fand ich immer faszinierend. Bevor man die niederen Bedürfnisse nicht gestillt hat, kann man sich nicht an Dinge wie Freundschaft oder gar Selbstverwirklichung wagen.«
»Wie stumpf oder einfach das Leben doch manchmal ist«, sagte Marlies.
»Ja, erst mal geh ich auf die Toilette und dann verwirkliche ich mich selbst«, rief Träumerle aus und lachte gackernd, um gleich wieder das Thema zu wechseln. »Oft hab ich mich gefragt, ob Freundschaft nicht Liebe vorzuziehen ist. Man macht sich keinen Kummer, alles ist zwanglos. Man unternimmt etwas, sagt tschüss, und muss sich keine Gedanken machen, ob man was Falsches gesagt hat, ist halt viel bequemer, die Sache mit der Freundschaft. Und wenn man dann einen Partner gefunden hat, ist nicht jeder Mensch tief im Innern allein? Im Grunde genommen ist doch alles relativ, man denkt, es muss so und so sein, weil die Gesellschaft es einem weismacht, und daher rührt ganz viel Unzufriedenheit.«
»Du sprichst mir aus der Seele.«
»Und wenn wir schon bei dem sind, was ich nicht leiden kann: Ich hasse diese verdammten Realisten. Realistisch gesehen ... wenn ich das schon höre.«
»Träumen muss erlaubt sein.« Hätte er sie nicht gehasst, wäre er nicht Träumerle, dachte Marlies. Sie erinnerte sich an einen Traum, den sie in der vorletzten Nacht geträumt hatte.
Sie kehrte in ein rustikales osteuropäisches Lokal ein, wo auf der Speisekarte Bücher statt Mahlzeiten standen. Kaum setzte sie sich an den Tisch, tauchte ein Mann mit fettbefleckter Kochschürze auf, der aussah wie Super Mario in groß und dünn, also wie Luigi. Er trompete: »Hau rein, frei essen für fünfhundert Euro.« Er servierte ihr Buchseiten aus vergilbtem Pergament, und sie nahm Blatt für Blatt in den Mund, musste häufig husten, aber es schmeckte köstlich, und jede Seite schmeckte anders. Plötzlich fuhr sie mit Bekannten, die sich untereinander nicht kannten, in einem Bulli nach Hause. Sie knutschte mit einem von ihnen herum, und den Rest der Fahrt warfen sie sich verstohlene Blicke zu.
Schräger Traum, hatte sie am gestrigen Morgen gedacht, sich vom Bett erhoben und in ihr Portemonnaie gesehen. Sie hatte wohl nichts für das fünfhundert Euro frei essen bezahlt.
Marlies hoffte, dass der Kuss mit diesem Freund in dem Traum nichts zu bedeuten hatte, sie mochte doch Träumerle. Insgesamt machte sie sich viele Gedanken. Sie wollte lieber ein unbeschwertes Leben führen.
»Es sollte so etwas wie eine Anleitung geben, wie man lebt«, sprach Träumerle in diesem Moment ihre Gedanken aus. »Die sähe dann vielleicht so aus:
Lassen Sie sich in eine unbeschwerte Kindheit gebären, mit Eltern, die Sie lieben, sammeln Sie erste pubertäre Erfahrungen mit Alkohol, Partys und Mädchen, lernen Sie Ihre erste Freundin kennen, trennen Sie sich von ihr, meist unausweichlich, doch zugleich prägend, dann Abi machen, studieren, am besten Jura, eine wilde Studienzeit mit genügend Affären verleben, die Frau Ihrer Träume kennenlernen und Studium beenden (natürlich mit Bestnoten), einen kleinen Freundeskreis aufbauen, sich einen klasse Job mit Aufstiegsmöglichkeiten und viel Schotter suchen, Hausbau, die Traumfrau heiraten und schwängern, haben Sie zwei Kinder (optimale Menge), ziehen Sie Ihre Kinder groß, für die Zukunft vorsorgen, sich rechtzeitig zur Ruhe setzen, genießen Sie ein paar schöne letzte Tage mit ihrer Frau.«
Marlies musste schmunzeln. »Boah, wär das ein scheiß Leben!«
»Ja, oder? So vorausschaubar, so langweilig, so perfekt.«
Dann sagte Träumerle etwas Merkwürdiges. »Bedingt durch vermehrte Ausschüttung der Botenstoffe Dopamin, einen hohen Adrenalinspiegel, viele Endorphine, das Hormon Cortisol, einen stark gesenkten Serotoninspiegel und nicht zu vergessen das Hormon Oxytocin verlieben wir uns.«
»Hä?«
»Ich meine, da gibt es doch mehr als die reine Chemie. Wenn ich zum Beispiel dich und mich anschaue.« Und er sah ihr tief in die Augen.
Sie beugten sich über den Tisch, eine unbequeme, umständliche Position. Als sie ihn küsste, wusste sie nicht, ob sie ihn küssen durfte, obwohl es so offensichtlich war. Langgestreckt über den Tisch sahen sie aus wie die miserabelsten Turner auf der Erde; es war dennoch ein sinnlicher Kuss.
Am nächsten Abend gingen sie auf Marlies´ vorsichtigen Vorschlag hin ins Theater. Marlies war erfreut, dass Träumerle genau wie sie interessiert an Kultur erschien. Danach beschlossen sie, trotz einer Schneeschicht von zwanzig Zentimetern, zu Fuß zu ihr zu gehen. Marlies hakte sich fest bei Träumerle unter. Er fiel dann um, einfach so, vor Erschöpfung und Kälte, ein eingefrorener menschlicher Klumpen. Sie atmete ihm warmen Atem ins Gesicht und half ihm auf, stützte ihn den Rest des Weges. Bei sich taute sie ihn auf, mit allem Warmen, das sie auftreiben konnte. Als er im Bett lag, kam sie alle paar Minuten aus dem Wohnzimmer und schaute nach ihm, wie eine Mama, die sich sorgte. Er fand, wie er ihr bibbernd sagte, es wäre ein äußerst romantischer Abend.
Sie erinnerte sich daran, wie sie Träumerle kennengelernt hatte. Einfach Traummann gab sie bei einer Suchmaschine im Internet ein, und kurze Zeit später chattete sie mit diesem Unbekannten. Schon nach ein paar Nachrichten konnte sie ihren Augen nicht trauen, die Reihenfolge der Buchstaben, war das Zufall, welche Worte sie bildeten?
Wollen wir uns treffen?
Ja!!! E-mail senden!
Gefühlt wenige Minuten darauf klingelte es an ihrer Tür und er stand da, Träumerle. Er verstand sie einfach, war ihrer Sprache mächtig. Viele, die im Grunde auch deutsch sprachen, verstanden sie nicht, da war sie sich sicher. Vor Träumerle war sie noch sehr einsam.
Marlies stammte aus einer Familie von Einwanderern, die in den späten Neunzigern aus der Ukraine nach Deutschland kam. Ihr Vater, der noch im Ausland geboren war, hatte einmal zu ihr gesagt: »Als ich so jung war wie du, war ich längst verheiratet. Streng dich mal ein bisschen an, mein Töchterchen. Du musst sagen: Du bist ein Mann, ich bin eine Frau, lass uns heiraten!«
»So einfach ist das heute nicht mehr, Papa. Das war vielleicht damals bei dir so. Außerdem bin ich eine Frau, und ich dachte, die Männer sollen den ersten Schritt machen.«
»Ach, was vor vierzig Jahren geklappt hat, funktioniert auch heute noch.«
»Jaja, Papa.«
Oft hatte sie überlegt, was aus ihr geworden wäre, wenn ihre Familie im armen, ukrainischen Dörfchen geblieben wäre. Wahrscheinlich hätte sie auch bereits mit Achtzehn geheiratet wie ihre Mutter. Wen? Irgendwen. Sie hätte dann irgendeine Arbeit gemacht, vielleicht im Stall Heu mit der Gabel … na was man mit Heu eben machte, der Punkt war, sie wäre wahrscheinlich nicht mehr oder weniger glücklich als in Deutschland.
Doch wie definiert man ein glückliches Leben, fragte sie sich. Schaute man am Ende zurück auf eine Tabelle, wie viele gute und schlechte Tage es gab, und bei mehr guten war es ein glückliches Leben?
Marlies hatte sich immer als Sonderling gesehen, aber sie wollte keiner sein. Sie wollte mit Gleichgesinnten herumalbern, einfach jemand haben, mit dem sie sich austauschen konnte. Ja, was sprach gegen ein ordinäres Leben? Das Wort klang nicht schön, das stimmte schon, so … ordinär … aber ein alltägliches Dasein mit festem Freundeskreis klang doch ... schön.
Als sie ein paar Wochen später heimkam und die Tür aufschloss, standen Träumerles Schuhe schon auf dem Regal in der Ecke. Sie blickte sie aufmerksam an. Es bedeutete, dass er da war, und sie waren Teil von ihm. Wie viele Kilometer und welche Strecken er wohl schon in diesen Schuhen zurückgelegt hatte? So gerne würde Marlies ihn noch so viele Meter auf möglichst vielen Wegen begleiten. Manchmal, ganz manchmal kam er ihr vor, wie zu schön um wahr zu sein, eine Traumgestalt oder ein Zerrspiegel von ihr selbst, entsprungen aus ihren am tiefsten liegenden Wünschen. Ein Mann, mit dem sie über alles sprechen, mit dem sie alles teilen konnte.
Doch kann man sich immer aussuchen wohin man geht und mit wem?, dachte sie aus einem Anflug von Melancholie heraus.
Manchmal ist das Leben so stumpf, kam ihr ein weiterer Gedanke. Eigentlich gemein, dass das Leben manchmal so stumpf ist …
Sie ging den Flur in Richtung Wohnzimmer entlang, aus dem ein breiter Lichtstrahl kam. Dieser beleuchtete ihre Silhouette mehr und mehr. Schließlich blendete die Sonne sie, und sie hielt sich mit zugekniffenen Augen die Hand vors Gesicht.
Träumerle stand wie für gewöhnlich am Fenster und zeichnete mit dem Zeigefinger einen Smiley an die mit Staub bedeckte Scheibe. Er mochte Smileys, genau wie sie, da sie auf ganz schlichte Weise eine optimistische Weltsicht ausdrückten.
Sie kam zu ihm ans Fenster, und er fasste ihre Hand, strich mit der anderen sanft über ihren Hals. Er wandte den Kopf wieder zur Fensterscheibe, ohne ihre Hand loszulassen, verträumt.
Marlies´ Blick blieb an ihm haften.
»Träumerle, ach, Träumerle«, sagte sie. Er drehte den Kopf und lächelte sie an.