- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Trauerspiel
Trauerspiel
Wie gewaltige Bleigewichte hingen die grauen Wolken am Himmel. Dieser spezielle Geruch, der einem suggerierte, dass es gleich regnen würde, lag in der Luft. Kaspar sog die feuchte Luft durch die Nase tief in seine Lunge hinein. Der bittere Geschmack von Blut breitete sich auf seiner Zunge aus. Er stieß die Luft durch seinen Mund wieder hinaus. Vor seinem Gesicht entstand ein geisterhafter Brodem, der sich im Luftzug wieder auflöste. Er schauderte kurz. Doch tief in seinem Herzen war er überglücklich, denn heute war der Tag an dem sie ihn nicht mehr ignorieren würde.
Stehend auf einer hölzernen Empore inmitten des Dorfes, war er umgeben von kleinen, großen, baufälligen, alten oder schmutzigen Häusern und Hütten. Immerhin standen sie noch. Er betrachtete die Umgebung, die er nur zu gut kannte, denn von diesem Punkt des Dorfes hatte er sie schon oft gesehen. Einige Rauchsäulen von frisch entfachten Feuern stiegen gen Himmel. Seine Augen suchten den weit entfernten Palisadenwall nach Schismatikern ab. Jenseits betrachtete er die Gebirgskette von Ahn Zhul. Eingebettet in eine Decke aus Wolken, schlief sie wie eine kolossale Schlange.
Er schaute zurück auf seine Schuhe und ärgerte sich. Sie trieften gradezu vor Erde und Schlamm. Endlich ist der Augenblick gekommen, und nun muss ich diese Schuhe tragen! Seit nunmehr 10 Jahren liebte er sie ja schon. Seit dem Tag als er Sie zum erstmal gesehen hatte. Damals verkaufte Sie Selbstgepflücktes Obst. Kaspar schloss die Augen und rief sie sich ins Gedächtnis zurück. Sogleich wurde ihm wärmer. Ihre langen schwarzen Haare, weich wie Seide. Zu gerne hätte er mit seinen schmutzigen Händen ihr zartes Gesicht berührt. Seine trockenen, rissigen Lippen auf die ihre gepresst, oder sie von ihrem blauen, zum Saum hin dreckig werdenden Kleid befreit, um ihren graziösen gänzlich zu bewundern. Doch kannte er nicht einmal ihren Namen. Im Traum hätte er nicht daran gedacht, sie danach zu fragen, dazu war er viel zu schüchtern. Lieber zählte über 10 schmerzhafte Jahre hinweg auch nur jede Sekunde, die sie zusammen waren, ohne auch nur jemals ein Wort mit ihr zu wechseln.
Doch heute sollte es anders sein. Heute war der Augenblick gekommen, sie würde ihn bemerken, ganz bestimmt würde sie ihn bemerken.
Kaspar stand auf der Bühne und starrte ins Publikum. In den Gesichtern der Menschen war eine gefesselte Erregung auszumachen. Jeder einzelne glotze ihn gespannt an. Immerhin würde er heute zum ersten Mal die Hauptrolle innehaben. Wie ein zäh triefender Ölfilm breitete sich die Nervosität auf seiner Bewusstseinsoberfläche aus. Er hegte Zweifel, vielleicht empfand sie nicht das gleiche für ihn. Zögerlich schaute er über seine Schulter, mit ein wenig Erleichterung stellte er fest, dass alle Akteure ihre Positionen eingenommen hatten.
Wimmernd, das gehörte zu ihrer Rolle, betrat sie mit zwei weiteren Personen die Bühne. Endlich war der Augenblick gekommen, dachte er. Sie kniete sich vor ihn. Es war unbeschreiblich, wie hübsch sie für ihn war. Ihre Blicke trafen sich, woraufhin sich ein Freuden-Feuer im Inneren von Kaspar entflammte. Ein alter Mann hinter ihm hielt eine Rede, doch er hörte ihm nicht ein Wort lang zu, dafür war er zu überwältigt vom Augenblick. Kaspar durfte sich diese einzige Möglichkeit nicht entgehen lassen. Nein, er musste ihr hier auf der Stelle erklären, was er all die Jahre für sie empfunden hatte. Mit dem Mut eines Ritter wisperte er: „Ich … ich liebe dich.“. Erneut blickte sie zu ihm auf und stellte fest, dass sich eine durchsichtige Flüssigkeit unter seinen Augen gesammelt hatte. Im gleichen Moment wurde ihr Kopf durch die Klinge der Guillotine von den Schultern getrennt. Die Menge tobte.