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Um Nasenbreite

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09.11.2005
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Um Nasenbreite

„Es ist meine Nase, nicht wahr?“ Der Mann am Tresen wandte sich nach seinem Nachbarn um und funkelte ihn wütend an. „Sie glotzen mich so wegen meiner Nase an, habe ich recht? Was ist, passt ihnen daran etwas nicht?“
„Nein, es ist alles in Ordnung mit ihrer Nase“, beeilte sich der Andere zu versichern und heftete seinen Blick auf den Kaffeebecher vor sich, als könne ihm das Stück Pappe Halt geben.
Von der Autobahn her tönte das Geräusch der vorbeifahrenden Autos wie ein unregelmäßiges Rauschen, ab und an unterbrochen von den Basstönen eines vorbeifahrenden LKWs. In der Raststätte selbst war es am frühen Morgen still gewesen, vom Klappern des Geschirrs aus der Großküche einmal abgesehen. Jetzt hörte auch das auf.
„Hören sie, ich will hier in Ruhe meinen Kaffee trinken und dann weiter. Ich muss um vier in Hamburg sein und meine Fracht abliefern.“
„Das habe ich nicht gefragt.“ Der Mann deutete mit der Rechten auf seine Nase. „Ich habe gefragt, was du gegen sie hast.“
„Ich habe nichts gegen ihre Nase. Was sollte ich gegen sie haben? Es ist eine Nase.“
„Lass ihn in Ruhe, Christian“, sagte eine Frau von der Küche her. Sie stand gegen den Türrahmen gelehnt und wischte sich ihre Hände an der Schürze ab. „Wenn er sagt, er hat deine Nase nicht angestarrt, dann hat er sie nicht angestarrt. Also lass ihn in Gottes Namen in Frieden seinen Kaffee trinken.“
Sie blickte ihn erwartungsvoll an, aber der Mann, den sie Christian genannt hatte, schüttelte bloß unwillig den Kopf.
„Er hat sie angeguckt“, murmelte er, und dann, an seinen Sitznachbarn gewandt: „Oder ist meine Nase etwa so furchtbar, dass man sie nicht einmal mehr angucken kann? Ist ihr Anblick unerträglich? Sagen sie, beschämt sie etwa der Anblick meiner Nase?“
„Hören sie“, Christians Opfer schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. „Jetzt ist es aber genug. Ich weiß nicht, was sie für ein Problem mit ihrer Nase haben, aber sie ist mir egal. Ich will hier nur in Ruhe einen Kaffee trinken.“
„Das ist ja gerade was ich sie frage, was sie für ein Problem mit meiner Nase haben. Ist sie zu lang, dass sie beim Gehen zwischen meinen Beinen schlackert? Sind die Nasenlöcher so groß, dass Schwalben irrtümlich darin nisten? Hat sie vielleicht Ähnlichkeit mit dem Turmbau zu Babel, ist wie dieser noch unvollendet? Na los, haben sie Mut, sagen sie, was sie an ihr stört.“
„Jetzt ist es genug“, sagte die Frau scharf.
„Ich gehe.“ Christians Opfer knallte einige Geldstücke auf den Tresen und glitt von seinem Hocker, doch Christian packte ihn am Oberarm und hielt ihn fest.
„Moment, sie schulden mir noch eine Antwort. Hat sie vielleicht eine Beule, wenn man sie von schräg oben anblickt?“ Er deutete mit dem Zeigefinger den Blickwinkel an. „Oder ist sie so lang wie die von Cyrano, groß genug, um die Balkonszene von Romeo und Julia darauf zu geben?“
„Lassen sie mich, sie sind ja verrückt.“ Der Mann riss sich los und rannte fast aus der Gaststätte. An der Türe drehte er sich noch einmal um. „Verrückt, hören sie?“
Christian setzte sich wieder und nahm das Geld, das der Andere auf den Tresen geworfen hatte und zählte es nach.
„Toll hast du das gemacht, einfach großartig. Den sehen wir hier nie wieder.“ Die Frau stand noch immer gegen den Türrahmen gelehnt. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und funkelte Christian wütend an. „Das ist jetzt schon das dritte Mal in dieser Woche. Wenn das der Chef mitkriegt, kannst du dich hier nie wieder sehen lassen. Dann hast du Ladenverbot, auf Lebenszeit.“ Sie hielt inne und wartete auf eine Reaktion. „Hörst du mir überhaupt zu?“
„Er hat zu wenig bezahlt“, sagte Christian ruhig. Er legte einen Fünfer auf den Tresen, stand auf und ging. Die Frau verfolgte seinen Abgang kopfschüttelnd. Als sie zum Tresen ging und das Geld einstrich, nahm ich den letzten Bissen von meinem Sandwich und ging zu ihr herüber.
„Entschuldigen sie, ich habe die Szene gerade unfreiwillig mit angehört.“
„Die war ja wohl auch nicht zu überhören“, sagte sie kurz angebunden.
„Ich frage mich, was er mit seiner Nase hat. Mir ist nichts daran aufgefallen. Jedenfalls nicht, dass sie zu groß wäre, eher im Gegenteil.“
„Sie gefällt ihm halt nicht.“ Dann seufzte die Frau plötzlich. „Sehen sie, ich weiß nicht, was er so schlimm daran findet, aber ich glaube, es hat etwas mit Eva zu tun.“ Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Küche. „Ich glaube, sie hat ihm einen Korb gegeben und jetzt glaubt er, es läge an seinem Zinken. Eine fixe Idee.“
„Ach so“, machte ich und nickte, als fände ich diese Erklärung irgendwie plausibel.
„Wenn er weiter mit jedem Streit sucht, kriegt er vom Chef noch Ladenverbot“, fuhr die Frau fort, jetzt in Fahrt gekommen.
Ich nickte wieder und legte einen Geldschein auf den Tresen.
„Ich muss leider weiter.“
Beleidigt krallte sich die Frau das Geld und knallte das Wechselgeld auf die Tischplatte. Ich schob ihr noch ein Trinkgeld rüber und wünschte ihr einen schönen Tag, aber sie hatte sich schon umgedreht und würdigte mich keines Blickes mehr.
Als ich auf den Parkplatz trat, um zu meinem Wagen zu gehen, sah ich dort wo die LKWs parkten eine Gestalt in der offenen Türe des Fahrerhäuschens sitzen und vor sich hin brüten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schlenderte ich herüber.
Er musste mich wohl kommen gehört haben, denn als ich ihn erreichte, blickte er auf. In seinem Blick lag nichts Feindseliges, eher eine stille Resignation. In einer Hand hielt er einen Taschenspiegel, in dem er sich gerade noch betrachtet hatte.
„Sie“, sagte ich. „Es ist nichts verkehrt mit ihrer Nase. Auf jeden Fall ist sie ganz sicher nicht zu groß. Wenn man überhaupt etwas Negatives über ihre Nase sagen kann, dann , dass sie zu klein für ihr Gesicht ist. Sie haben eine kleine Nase, eine kleine niedliche Stupsnase.“
Darauf sagte er erst mal nichts, sondern blickte mich bloß verblüfft an. Dann schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, lächelte er.
„Ja, sie haben recht, sie ist in Wahrheit klein und es ist gar nichts verkehrt damit.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn sie das wissen, was sollte dann die Szene gerade eben?“
„Ich bin verkehrt, ganz verkehrt.“
„Sagen sie das wegen dieser Frau, wegen Eva? Ich habe kein Recht, mich da einzumischen, aber sie sollten darüber hinwegkommen. Jeder von uns hat schon mal einen Korb gekriegt. Es tut weh, klar, aber man kommt darüber hinweg. Es gibt noch andere Frauen auf der Welt, in die man sich verlieben kann. Jedenfalls, wenn sie so weitermachen, verpasst ihnen noch mal jemand so richtig eine.“
Christian grinste. „Trinken sie ein Bier mit mir, dann erzähle ich ihnen die Geschichte.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tisch in meinem Rücken.
Ich hob abwehrend die Hände. „Ist nur meine Sicht der Dinge, ich will mich gar nicht einmischen. Außerdem muss ich noch fahren.“
„Jetzt haben sie schon angefangen, dann ist es bloß fair, wenn sie’s auch zu Ende bringen. Setzten sie sich. Ich bin gleich wieder da.“ Damit verschwand er im Führerhaus.
Ich setzte mich auf die Bank und wartete. Mir war mulmig zumute. Als er wieder zum Vorschein kam, hatte er tatsächlich zwei Dosen Bier in der Hand. Er setzte sich mir gegenüber und schob mir eine davon zu. Wir öffneten unser Bier und prosteten uns zu.
„Das mit Eva hat ihnen Ute erzählt, nicht wahr?“
Ich nickte.
„Das alte Klatschmaul.“ Er schüttelte den Kopf und wirkte leicht amüsiert. „Alles Quatsch. Eva hat mir keinen Korb gegeben, eher umgekehrt.“
„Warum? Kein Interesse?“
„Doch, doch. Eine tolle Frau. Wenn eine Frau, dann sie.“
„Wenn eine Frau?“ echote ich.
Christian antwortete nicht. Sein Blick ging an mir vorbei in die Ferne. Eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort. Er starrte auf die Landschaft hinter meinem Rücken und ich sah die Autos hinter ihm auf der Autobahn vorbei rasen.
„Haben sie mal von dem großen Unfall auf der A4 gehört?“ fragte er unvermittelt. „Von dem Tanklaster, der von der Talbrücke gestürzt ist?“
„Ja“, sagte ich, „aber da war ich noch klein. Wie lange ist das her, fünfzehn Jahre, zwanzig?“
„Siebzehn.“ Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Ein bekiffter BMW-Fahrer aus Bergheim hat mir die Hinterachse wegrasiert. Ich hatte keine Chance mehr.“
„Der Fahrer des Tanklasters ist bei dem Unfall gestorben.“
„Nun“, er nahm einen Schluck von seinem Bier. „Ich lebe noch, aber besser wär’s gewesen. Besser wär’s gewesen.“
„Sie nehmen mich auf den Arm“, sagte ich, aber ich wusste gleichzeitig, dass er es nicht tat. Niemand guckt so unglücklich, während er einen anderen hochnimmt. „Wie?“
„Keine Ahnung. Ich erinnere mich an nichts mehr. Ist alles gelöscht.“ Er tippte auf seinen Kopf. „Ich weiß nur, was man mir darüber erzählt hat. Das erste, woran ich mich erinnern kann ist, dass ich in einem Krankenhausbett liege, komplett eingegipst, wie eine Mumie. Ich war völlig zerstört nach dem Unfall, kein heiler Knochen, keine Gliedmaßen, das Gesicht Matsch. Fast hätt’s mich erwischt, um eine Nasenbreite.“ Er zeigte den Abstand mit Daumen und Zeigefinger an und lächelte dazu freudlos.
Ich sah ihn an, wie er vor mir saß und seine Bierdose zum Mund führte und konnte es nicht glauben, was er mir erzählte, obwohl ich es wollte. Ich konnte keine noch so kleine Narbe an ihm entdecken.
„Sie haben alles nachgezüchtet und mir dann wieder dran genäht. Arme Beine, innere Organe. Achtzig Prozent meines Körpers ist neu.“ Er schüttelte den Kopf. „Eher mehr. Es waren wohl über hundert Operationen und das Ergebnis sitzt vor ihnen.“ Er breitete seine Arme aus. Bier schwappte aus der Dose und bekleckerte seine Hand. Er schien es nicht einmal zu bemerken. „Ein neuer, verbesserter, aufpolierter Frankenstein.“
„Unglaublich“, sagte ich.
„Das einzige Stück Ich, das noch übrig ist, das ist das hier.“ Er stipste auf seine Nase. „Die ist heil geblieben, ohne einen Kratzer. Das ist alles, was von mir noch übrig ist, meine Nase.“
„Das ist eine unglaubliche Geschichte, aber jetzt verstehe ich umso weniger, was für ein Problem sie ausgerechnet mir ihrer Nase haben.“
„Wenn sie weg wäre, wenn sie kaputt wäre, dann würden sie mir eine Neue machen. Dann wäre ich auch weg, verstehen sie? Dann könnte ich vielleicht neu anfangen, als neuer Mensch und wäre nicht mehr dieses Frankenstein-Konstrukt. Ich wäre ein neuer Mensch.“
Er stürzte den Rest seines Bieres herunter und starrte mich eindringlich an.
„Und jetzt verschwinden sie besser“, sagte er abrupt. „Los, verschwinden sie“, brüllte er mich an, als ich mich nicht rührte.
Ich machte, dass ich davonkam und ließ ihm mein Bier stehen. Während ich mich mit schnellen Schritten entfernte, meinte ich ihn in meinem Rücken unterdrückt weinen zu hören, aber ich drehte mich nicht noch einmal nach ihm um.

 

Hallo Hartlap!

Und die Moral von der Geschicht? :susp:

Mir ist das Verhalten des Protagonisten noch zu vage: Warum will er ein neuer Mensch sein? Warum hätte er's besser gefunden, bei seinem Unfall zu sterben? Warum pöbelt er ständig die Leute an?

Da der Science-Fiction-Anteil minimal ist, würde ich die Geschichte gerne nach "Seltsam" verschieben"; dort wäre sie mE besser aufgehoben als hier.

Fazit: Solide geschrieben, aber nur mäßig spannend, müder Schluss. Verhaltensweise des Prot nicht nachzuvollziehen und vor allem: keine Science-Fiction-Geschichte.

Liebe Grüße!

Dante

 

Entschuldige, aber ich fordere in Bezug auf diese Antwort a) genaueres Lesen und b) den Willen zu eigener gedanklicher Arbeit.

 

Hehe. Soso. :D

Hi Hartlap!

Tja, in einem hat der liebe Dante leider Recht. :D
Science Fiction ist in dieser Geschichte nicht wirklich zu finden, denn wenn ich das Motiv der "nachgezüchteten Organe" einfach durch "Transplantationen" ersetze, funktioniert die Geschichte genauso, nur dass sie vielleicht etwas surreal wirken würde ( tut sie jetzt allerdings auch ). Ergo existiert keine wirkliche Science-Fiction-Thematik in diesem Text. Vielmehr ist er vielleicht so etwas wie eine Parabel mit typischem Kafka-Einschlag, und das passt eben besser in die Seltsam-Rubrik.

Die mangelnde Nachvollziehbarkeit - nun ja, ganz teilen mag ich Dantes Auffassung hier nicht. Wenn ich den Text als Parabel auf das menschliche Identitätsverständnis lese ( im Hinterkopf den Satz: "Wenn ich einem Menschen den Kopf abhacke, mit welchem Recht behauptet dann der Kopf, er sei das Ich?" ), dann funktioniert er ganz gut. Etwas verwirrend ist allerdings die Hoffnung von Christian ( übrigens ein etwas unpassender Name für ein cholerisches Temperament ;) ), dass er mit einer neuen Nase als "neuer Mensch" von vorne anfangen könnte. Denn seine alte Identität wäre ja erst erloschen, wenn auch die alten Erinnerungen weg wären. Genaugenommen erst dann, wenn das ganze Gehirn ausgetauscht wäre.

Inhaltlich hat es mich nicht so sehr vom Hocker gerissen. Es gibt sicherlich interessantere Herangehensweisen an das Thema.
Stilistisch und erzähltechnisch hast du aber ein hohes Niveau bewiesen. Besonders die bildhafte Schilderung der Wahrnehmung und Stimmung des Erzählers ist etwas, das nicht jeder beherrscht. :)

Davon abgesehen aber solltest du alle "Sie"-Anreden groß schreiben. ;)

Ciao, Megabjörnie

 

Hi Hartlap,

Lass es mich hart sagen: die Story ist stinklangweilig.
Stilistisch langweilig, weil immer die selben / gleichen Phrasen den Text nur mühsam voran schleppen.
Inhaltlich langweilig, weil die Idee dünn, vorhersehbar und vollkommen platt ist. Mit derartigen Prots konnte ich mich nie identifizieren.
Vieles am Text wirkt unlogisch / psychologisch unbegründet. Entweder war der Prot schon vor den OP´s ein Fall für den Irrenarzt oder sein Trauma muss besser herausgearbeitet werden. Außerdem sollte man tunlichst die Angabe von Prozentzahlen vermeiden: wenn 80 Prozent seines Körpers neu ist, sind 20 Prozent folglich alt. Das dürfte aber mehr als die Nase sein, es sein denn, er hat einen pinocciogleichen Zinken.
Die Thematik, so wie ich sie verstanden habe, ist die Frage, was der stoffliche Kernbereich einer Identität ist und also sicher noch SF. Allerdings ist das von anderen SF-Autoren (Ph. K. Dick und S. Lem) schon umfassend (und kongenial) abgehandelt worden.

Proxi

 
Zuletzt bearbeitet:

Also ich verstehe absolut nicht, was hier alle gegen die Geschichte haben, ich hab sie sehr gerne gelesen, und das Gefühl dieses Typen von wegen Unvollkommenheit hat mich irgendwie berührt.
Und wenn seine Gefühle schon irrational oder schwer nachvollziehbar sind, umso besser- er ist ja total traumatisiert!
Nüchterner, absolut flüssiger Stil. Ich fands spannend und unterhaltsam sie lesen.
Was ich auszusetzen habe ist nur Kleinkram:
Eine Nase macht keine 20 %, das Gehirn denke ich, sollte auch ganz geblieben sein.
Dennoch: Absolut tolle Geschichte!

Mann das hört sich jetzt an, als wär ich total unkritisch...

 

@Proproxilator

Was soll an dem Handlungsverlauf bitte vorhersehbar sein?
Hast du bei dem Wort "Nase" sofort an einen folgenschweren Autounfall gedacht? Das glaube ich nicht.
Das der Typ ein Trauma hat, und warum ist denke ich einleuchtend genug.
Schlimm übrigens, wie oft das Wort "kongenial" missverstanden, und falsch gebraucht wird: Philip K. Dick ist dem Autor dieser Geschichte also geistig ebenbürtig? Naja...

 

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