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Unerreicht

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13.01.2012
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Unerreicht

Daniel Lindenthal wurde allmählich schwindlig und er wusste nicht genau, woran das lag: an der langsamen Rotation des Schwimmrings, am künstlichen Blau des Pools, der Sonne, die auf seine wachsende Glatze hinabbrannte; an dem dritten – oder vierten? – White Russian, an der tranceartigen Elektromusik, die ihm Florian auf sein iPad gespielt hatte (und die irgendwie sehr berlin klang) oder doch nur an SEINEM ALTER, in dem man langsam nichts mehr vertrug. Sein Blick suchte Halt und fand ihn, über seinen glänzenden Bauch hinweg, am Hintern des Jungen, den sie für den Garten angeheuert hatten. Nicht schlecht. Da würde man gern mal wieder. Abenteuer und so. Aber als er jung genug für Abenteuer gewesen war, war er nicht attraktiv genug gewesen und nicht selbstbewusst genug, um das zu kompensieren. Und jetzt, da er das Geld hatte, um sein durchschnittliches Aussehen und seinen unterschwelligen Selbsthass wettzumachen, war er alt und monogam.
Daniel seufzte. Der alternde Schriftsteller und sein GartenBOY. Das war ohnehin nicht gerade Der Tod in Venedig. Das war nicht einmal Rosamunde Pilcher. Der Junge drehte sich um, bemerkte den Blick seines Arbeitgebers und lächelte. Wie hieß er noch gleich? Hernando? Rodrigo? Oder hatte er sich das jetzt ausgedacht, weil der Junge so was Latinomäßiges hatte, mit dieser olivfarbenen Haut? Egal. Daniel hob das Glas, prostete vage in Ronaldos Richtung und nahm einen tiefen Zug durch den Strohhalm.
Er versuchte, sich wieder aufs Lesen zu konzentrieren und bewegte seinen Blick zurück in Richtung seines iPad. Was las er noch mal? Ach ja: Stephen King, On Writing. Aber der Schwindel war immer noch da und der Rhythmus der King’schen Ausführungen über das Kürzen zu geschwätziger Manuskriptstellen verknüpfte sich aufs Unangenehmste mit diesem Kreisel in seinem Kopf. Kill your darlings, kill your darlings, even i fit breaks your egocentric little scribbler’s heart.
Er fühlte sich flau. Vielleicht hätte er zum Frühstück doch noch etwas zu sich nehmen sollen außer diesem SMOOTHIE (Ananas, Mango, Spinat, Apfel, Wallnüsse, ist gut für dich, Klapps, Klapps), den Florian ihm aufgedrängt hatte. Die Sonne brach sich jetzt im Boden des Glases und stach ihm als weiße Lanze in die Augen. In diesem Moment passierte es: Sein iPad begann zu tuten und zu summen und, immer noch desorientiert, nahm er den Anruf, in dem Versuch, ihn wegzuwischen, an. Das Gesicht Max Stritzingers manifestierte sich, während Daniel sich noch bemühte, seinen Drink und seinen Bauch aus der Einstellung zu manövrieren. Verdammt.
„Na, hallo!“ Max war ein Großmeister des gedehnten Vokals und dieses o, da legte er sich jetzt so richtig rein, da ging er mit. „Wie geht es denn meinem Lieblingsschriftsteller?“
„Max, um Gottes Willen. Wer schreibt nur deine Dialoge? ‚Wie geht es meinem Lieblingsschriftsteller?‘ Wer bitte fragt denn sowas? Im echten Leben?“
Max ließ sich nicht irritieren, sein Guten-Morgen-liebe-Welt-welches-Wunder-wartet-heute-auf-mich?-Lächeln wurde nur noch breiter, irgendwie noch weißer. „Aber es stimmt doch, Danny Boy! Ich habe mir schon Sorgen gemacht! Und die Jungs beim Verlag haben sich auch schon Sorgen gemacht!“
Daniel versucht, sich etwas mehr aufzusetzen, aber sein Hinterteil rutschte nur wieder tiefer in den Ring. „Warum denn das? Wenn ich jetzt abgekratzt wäre, besser ginge doch gar nicht. Was für ein Coup! Und in den Buchläden dann so Tische, eigene Tische für mich, mit Schatten, aber auch ein paar von den alten Büchern – drüber ein großes schwarz-weiß Foto von mir, wo ich ernst gucke, aber nicht zu ernst, vielleicht so eine leise Andeutung von einem Lächeln – weise irgendwie …“
„Ach, du wieder! Immer so zynisch, Mister Superschriftsteller! Welcher Verlag will denn schon, dass ihm sein bestes Pferd im Stall tot umfällt? Du sollst uns doch noch viele goldene Eier legen!“
„Pferde die goldene Eier legen?“
„Whatever! Aber wo hast du denn gesteckt? Ich versuche schon seit Tagen, dich zu erreichen!“
„Hm …“ Daniel zog am Strohhalm. „Urlaub. Bisschen ausspannen.“
Urlaub?“ Max Stimme jagte während des einen Wortes durch drei Oktaven reinsten Unglaubens. „Jetzt? Wo – alle – mit dir reden wollen? Wo jeder ein Interview mit dir will? Ich hoffe, da wo du warst, gab‘s Zeitungen? Alle lieben Schatten, dieser Schnösel Hohnmeyer vom FAZ-Feuilleton genauso wie diese Halb- und Viertelgebildeten, die in die Spiegel-Bestsellerliste eingehen. Daniel – du bist jetzt auf Platz eins! Der Hohnmeyer hat sogar geschrieben, das sei das Beste, was du …“
Daniel spürte wie sich etwas in ihm zusammenzog.
„… was du seit fünfundzwanzig Jahren geschrieben hast!“
Bei dem etwas in seinem Innern musste es sich um seinen Darm handeln, der den Magen erdrosselte.
„Könnte fast an Tanz der Kolibri heranreichen, schreibt er!“
„Das ist ja … toll ist das.“
Toll?“, äffte Max ihn nach. „Toll? Mister Lindenthal, you are priceless! Und hast du gelesen, dass …“
„Du Max, die Verbindung ist gerade ganz …“
„Die Verbindung? Danny, wer schreibt denn deine Dialoge, wir sind doch nicht in den Neunzigern und überhaupt …“
Daniels Impuls war, den IPad in den Pool zu werfen, aber dazu war er zu vernünftig. Stattdessen drückte er rasch auf den Button für Auflegen und Max Stritzinger verschwand. Vorsorglich loggte Daniel sich aus und stellte das Gerät auf stumm.
Er war in die Mitte des Pools gedriftet und müsste jetzt zum Rand paddeln, um sein plötzlich leeres Glas neu zu füllen. Andererseits fühlte er sich auf einmal schrecklich erschöpft. Und während er noch überlegte, döste er ein, das IPad auf seinem Bauch, das Glas fiel in den Pool.


Er schlief leicht ein, wenn er getrunken hatte. In den meisten Nächten schlief er gut. Aber oft träumte er, dass er nicht schlafen konnte.
Er war wieder sieben Jahre alt oder acht oder elf – er wusste nicht genau, wohin die Erinnerung gehörte. Er war jung und er starrte zur Decke und konnte nicht schlafen. Das Licht der Straßenlaternen, das nur ganz spärlich durch die Jalousie drang, schien ihm wahnsinnig hell. Aufreizend. Höhnisch.
Er war wütend, dass er nicht schlafen konnte. Alle anderen schliefen, sein kleiner Bruder, ein Zimmer weiter, auch seine Eltern. Daniel nicht. Und je fester er die Augen zudrückte, je mehr er sich bemühte, seinen Geist ins Dunkel befahl – umso wacher fühlte er sich.
Seine Beine, die wollten etwas von ihm. Er sollte aufstehen. Losgehen. Etwas tun. Etwas Bestimmtes. Es war sein Fehler, dass er es nicht tat. Deshalb konnte er nicht schlafen. Weil da etwas war. Zu Wut und Angst gesellte sich ein schlechtes Gewissen. Weil er dieses etwas nicht tat.
Irgendwann stand er auf. Der Boden unter den Füßen war kühl. Irgendwo summte elektrisch der Kühlschrank. Auch die Klinke war kalt, er drückte sie langsam, leise nach unten. Seine Mutter wachte dennoch stets auf. Auf einen Ellbogen gestützt sah sie ihn an: „Kannst du nicht schlafen?“ Sie erwartete keine Antwort und rutschte etwas in die Mitte des Betts, so dass Platz für Daniel war.
Auch im Schlafzimmer seiner Eltern starrte Daniel zur Decke empor. Er spürte die Wärme seiner Mutter neben sich und das beruhigte ihn, allmählich. Die Beine gaben ganz langsam Ruhe. Vielleicht hätte er nicht die Tür ins Schlafzimmer nehmen sollen – sondern die nach draußen? Sehen, ob dort etwas war? Draußen, in der kalten, unheimlichen, geheimnisvollen Nacht? Im Wind?
Er fühlte sich schlecht, weil er schon viel zu alt war, im Bett seiner Eltern zu schlafen. Die anderen Jungs in der Schule taten das sicher nicht mehr. Aber er war auch zu jung, trotz allem noch ein Kind. Deshalb war er verwirrt. Wenn er einmal ERWACHSEN wäre – mit achtzehn war man erwachsen, das hatte seine Mutter gesagt – wüsste er, was zu tun wäre. Er hätte einen BERUF und ein eigenes Haus und würde jeden Morgen zur Arbeit gehen. Und die Verwirrung und Unsicherheit würden zerfallen wie die Nacht dort draußen im Morgenlicht. Dann würde er etwas tun.
Mit diesem Gedanken schlief er ein.


Er wachte auf, als seine Hand ins Wasser fiel und ihm Tropfen auf die rechte Gesichtshälfte spritzte. Wie spät war es? Die Sonne war schon wieder auf dem absteigenden Ast. Er paddelte und ruckte zur Leiter hinüber und war wahnsinnig froh, dass Ricardo nicht mehr da war. Vor dem angelernten Gärtner mit dem Aussehen eines Real Madrid-Spielers – oder FC Barcelona?, für Fußball interessierte sich Daniel nicht im Geringsten – wäre er sich zu albern vorgekommen. Er mochte es nicht mal, wenn der ihn in seinen weiten Badeshorts sah.
Das plötzliche Aufstehen und der intensive Geruch von gemähtem Rasen ließen ihn wieder schwindlig werden. Und dann dieser verdammte ZITRONENBAUM! Er musste direkt unter der monströsen Pflanze hindurch. Das Ding verursachte ihm Übelkeit mit seinen perfekten, prallen, LEUCHTENDEN Früchten. Er hatte Florian noch erzählt, es sei vollkommener Schwachsinn, in Deutschland – in Hamburg! – Zitronenbäume zu halten. Das war hier nicht Kalifornien, das schien er mal wieder zu vergessen! Aber jetzt hatte er den Salat. Florian hatte, SICH SCHLAU GEMACHT. Er hatte Tipps bei Gärtnern eingeholt, sich nach der besten Sorte erkundigt. (Absurd, was man für einen kleinen Zitronenbaum bezahlen konnte.) Er hatte spezielle Erde gekauft. Besonderen Dünger. Er schnitt das Ding pedantisch zurecht. Und gefühlte drei Viertel des Jahres musste der Baum natürlich ohnehin in dem Gewächshaus am anderen Ende des Gartens – Daniel hatte es kaum drei Mal betreten, er fand Gewächshäuser irgendwie unheimlich – verbringen. Aber jetzt, im Hochsommer stand er hier, der Zitronenbaum, im Garten, und trug diese riesigen Früchte. Das grelle Gelb verursachte Daniel Übelkeit. Dieses aggressive, gallige Gelb, es gab ihm schon vom Hinsehen eine Zitronenüberdosis. Er ging unter dem Baum hindurch und spürte die Säure, wie sich ihm beide Wangen nach innen zusammenzogen, es beißend in seinem Hirn explodierte …
Er schloss die Augen und ging blind unter dem Baum hindurch, beide Arme leicht ausgestreckt. Hoffentlich guckte der Nachbar – der Konsul irgendeines Wüstenverbrecherstaates – gerade nicht aus dem Fenster. Und wenn schon. Er spürte die Zitrone immer noch in seinem Kopf. Aber immerhin sah er sie nicht. Das war es auch wert, dass er sich den kleinen Zeh stieß, an einer Wurzel, an einem Stein oder einer stehengelassenen Gießkanne.


„Na-a?“, dehnte Florian das „a“ ins Unendliche und gab Daniel damit Zeit, sich in seinem Wohnzimmer zu orientieren. „Hast du dich etwas entspannt, Danny?“
Daniel zog die Schiebetür hinter sich zu.
„Ich will es hoffen! Du warst ganz schön tense heute Morgen und gar keine gute Gesellschaft!“
Daniel blinzelte und stellte sein leeres Glas auf das Tischchen zu seiner Rechten. Das Wohnzimmer war erfüllt von einem vibrierenden, gutturalen Gesang, der aus der Stereoanlage zu kommen schien. Florian saß in seiner engen Sportkleidung in der Mitte des riesigen Raumes, direkt unter diesem schrecklich kitschigen KRONLEUCHTER auf seiner Yogamatte – das eine Beine vom Körper gestreckt, das andere darüber geschlagen, den Rücken in die eine und den Nacken in die andere Richtung verdreht. Selbst in dieser lächerlichen Pose sah er noch verdammt gut aus.
„Was zum Teufel ist denn hier los?“
„Dao Yin!“
Was?
„Das ist eine japanische Entspannungstechnik und über 2500 Jahre alt! Christopher hat mich neulich mal zu seinem Kurs mitgenommen, als ich wieder so down war. Das ist ein bisschen wie Yoga, aber es wirkt direkt energetisch auf deine Meridiane. Die Idee ist, über die Energiefoki deine innersten Körperschichten anzusprechen … Und du brauchst gar nicht so zu grinsen, mein Lieber! Du solltest ruhig mal mitmachen! Das ist besser als deine Probleme immer …“
„Ja, ja!“ Daniel machte eine wegwischende Handbewegung. „Besser als immer nur besoffen im Pool zu liegen, hab ich verstanden.“ Er grinste immer noch, aber sein Grinsen fühlte sich jetzt eine Spur wärmer an. „Und dieses entsetzliche …?“
„Mönchsgesänge aus Vietnam!“
„Ich dachte Japan?“
Florian warf unvermittelt eine Wasserflasche nach ihm, die seinen Kopf nur knapp verfehlte. „Das Dao Yin, du Banause! Und du sollst ein Kulturmensch sein! Also bitte!“
Daniel konnte beim besten Willen nicht sagen, ob der theatralische Ausbruch gespielt war. Seit fünf Jahren waren sie jetzt zusammen und er hatte keine Ahnung, was hier überhaupt gespielt und was echt war. „Echtheit … Das ist so 19. Jahrhundert.“
„Was murmelst du da?“
„Nichts. Ich leg mich vielleicht kurz oben hin.“


Auf dem Weg zum Schlafzimmer kam er den Fotos ihrer KINDER vorbei, die nebeneinander auf einer antiken Kommode standen, die Florian für etwa eintausendfünfhundert Euro angeschafft hatte und von der Daniel keine Ahnung hatte, was sie enthielt. Ihre Kinder, sieben an der Zahl, waren dem Augenschein nach zwischen sieben und zwölf Jahren alt und lebten, wenn Daniel sich richtig erinnerte, im Sudan und in Mosambik. Sie waren alle schwarz, lächelten etwas schüchtern in die Kamera und Daniel konnte sie nicht wirklich auseinanderhalten.
Ist das jetzt RASSISTISCH?, fragte er sich kurz. Aber wahrscheinlich bin ich einfach nur ein Rabenvater. Er grinste und schaute sich gleich misstrauisch über die Schulter – falls Florian seinen Gedanken gehört hatte.
„Wir müssen doch etwas, von dem vielen Geld, das wir verdienen, der Welt zurückgeben!“, sagte er immer. Und Daniel biss sich stets auf die Zunge, um nicht zu korrigieren: „Von dem vielen Geld, dass ich verdiene.“
Soweit er wusste, hatte Florian in seinem Leben noch keinen Tag gearbeitet und er bewunderte das. Stattdessen hatte er stets davon profitiert, blendend auszusehen und zu wissen, auf welche Veranstaltungen man gehen musste, um gut betuchte, alleinstehende, selbst nicht gar zu schlimm anzuschauende und allmählich alternde Prominente zu treffen.
Daniel zog in einem Schwung den dunkelroten Vorhang zu und ließ sich auf Bett fallen. War es GEMEIN, so über Florian zu denken? Aber es war nun einmal die Wahrheit. Seine Kritiker – die, die ihn nicht verabscheuten – hatten immer seinen klaren, unterkühlten Stil gelobt und der entstammte nun einmal der Art wie er dachte. Er machte sich nichts vor und er war nicht prüde. Im Gegenteil: Er war stolz, dass Florian bei ihm hängengeblieben war. Dabei hätte es in den letzten Jahren einige gegeben, die deutlich besser aussahen und mehr Geld hatten und wirklich PROMINENT war er auch schon lange nicht mehr – bis jetzt. Bis zur Veröffentlichung von Schatten.
Er schloss die Augen und wusste sofort, er würde nicht einschlafen können. Der Alkohol hatte ihn träge gemacht, aber es war nicht genug. Und für mehr müsste er an Florian vorbei, der sich vermutlich gerade in der Küche einen SMOOTHIE machte, wie immer nach dem Sport.
Stattdessen nahm er wieder den IPad vor und weiß leuchtete ihm die Seite entgegen, bei der er vorhin aufgehört hatte. Wo war er noch gleich ….? Ach ja: Kill your darlings …
Er ließ den IPad auf seine Brust sinken. Die Metapher schien ihm seltsam. Er verstand natürlich die eigentlich triviale Idee, dass man als Autor kürzen musste, was nicht wesentlich war, um den Leser nicht anzuöden, um den Text straffer und stärker zu machen. Aber warum hieß es dann: Töte deine Lieblinge? Würde das nicht heißen, die besten Stellen zu streichen? Die gelungensten Formulierungen? War das Bild hier einfach verunglückt, weil King eine drastische Formulierung brauchte?
Oder steckte mehr dahinter? Eine Art literarisches Menschenopfer zu Ehren des großen Gottes von Papier und Tinte? Gib mir deine besten Formulierungen, markiere sie und drücke entfernen, schicke sie ins Datennirwana, sodass nur noch ein kleinstes Bisschen Festplattenfragmentierung von ihnen bleibt – und ich gebe dir hundertfach zurück! War das hier der Subtext? War er doch so betrunken?


„Passt dir dein dunkler Anzug von BOSS noch? Kaspischer oder Schwarzmeer-Kaviar? Laden wir die Brinkmann-Niederweide von der SZ auch ein? Die hat sich doch so furchtbar gezofft neulich, mit dem Hohnmeyer vom FAZ-Feuilleton …“
Florian bombardierte ihn mit Fragen, bereits seit Tagen. Seit Max den Verlag dazu gebracht hatte, Daniels fünfundfünfzigsten Geburtstag in eine kolossale Werbeveranstaltung zu verwandeln – und die Rechnung für die Party im Grand Baltic Hotel zu übernehmen – hatte Daniel keine ruhige Minute mehr. Florian hatte die Organisation an sich gerissen und sich selbst in den EVENT-Manager aus der Hölle verwandelt.
„Ich weiß nicht …“
„Und hast du dich wegen des Farbthemas entschieden? Blau oder aquamarin? Du musst auch noch deine Rede schreiben, vergiss nicht, dass du noch …“
„Ja, ja …“ Daniel ließ sich auf die Bettkante sacken. Punkte tanzten am Rande seines Blickfelds. Sein Kreislauf war heute nicht der stabilste.
Florian stockte und legte ihm eine Hand leicht in den Nacken. „Warum denn so gloomy? Du hast so lange, so hart gearbeitet für diesen Erfolg. Und jetzt kannst du dich endlich feiern lassen …“
„Hast du gesehen, dass Tanz der Kolibri wieder auf der Bestseller Liste ist?“ Er bereute die Frage sofort.
Florians Augen leuchteten auf. „Ja, natürlich! Der Hohnmeyer hat geschrieben: ‚Der Erfolg von Schatten der Sperlinge ruft der Literaturwelt das unerreichte Meisterwerk in Erinnerung, von dem Lindenthal bis heute seinen Ruf als einer der ganz Großen ableitet.‘ Oder so ähnlich. Du bist jetzt Doppel-Bestsellerautor!“
Daniel ließ sich auf den Rücken fallen. Die Bettwäsche kühlte angenehm weich seine Wange; für einen Moment. Hatten sie schon immer diesen hässlichen STRAHLER an der Schlafzimmerdecke gehabt?
Florian hatte sich in Schwung gequatscht. „Du weißt, mir ist es egal, Bestsellerlisten und so. Und wenn du jetzt weiter nur für Serien geschrieben hättest und ab und zu mal eine Short Story: Ich brauche das nicht! Den Erfolg! Den Glamour!“ Daniel fühlte, wie eine Hand sein Knie tätschelte. „Aber ich weiß doch, wie eitel ihr Künstlerseelen seid! Und dass du darunter gelitten hast! Aber jetzt bist du back on top of the world! Mister Erfolgsschriftsteller!“
Tanz der Kolibri ist von 20 auf 17 gestiegen, seit letzter Woche.“
„Ich weiß! Nach fünfundzwanzig Jahren! Und Schatten immer noch auf Platz drei!“
Fünfundzwanzig Jahre.
„Da fällt mir ein, ich bin mit Christopher zum Joggen verabredet!“ Daniel hob leicht den Kopf. Florian schnellte auf dem Absatz herum, zur Schlafzimmertür hinaus. Seine Schritte die Treppe hinunter hallten in Daniels Kopf nach, schlugen den Takt.
FÜNF-UND-ZWAN-ZIG Jahre.


Einem Skorpionstachel gleich schossen Florians rechter Daumen und Zeigefinger nach vorn und zupften einen unsichtbaren Fussel von Daniels Sakko. Von seinem neuen Sakko: Der alte Boss-Anzug in seinem Schrank – eigentlich gar nicht so alt, fünf Jahre vielleicht – passte ihm inzwischen nicht mehr.
„Handsome! Absolutely handsome!“ Florian klatschte die Hände vor der Brust zusammen, beugte sich dann noch einmal herunter und rückte an Daniels Fliege herum. „My handsome darling, Mister Superautor!“ Er setzte Daniel einen geräuschvollen Schmatzer auf die Wange die dieser nicht spürte. Taub. Kalt. Seit gestern Abend war ihm kalt.
Nachdem er so an Daniels Aussehen letzte Hand gelegt hatte, wandte Florian sich wieder dem Spiegel zu, um sein eigenes Bild zu perfektionieren. Der Spiegel: In seiner barocken Schwülstigkeit ein Prunkstück ihres Zimmers im Grand Baltic, mit güldenen Umrankungen und daraus hervorquellenden ENGELSgestalten. Fette Kinder mit Flügeln und toten Augen. Nachgeburten des Himmels, dachte Daniel.
Florian summte vor dem Spiegel vor sich hin. Er und Max hatten das Hotel ausgesucht. Es war genau ihr Stil. Das Foyer unten füllte sich bereits mit in Abendgarderobe gehüllten Gestalten des LITERATURBETRIEBS. Daniel spürte ihre Anwesenheit ätzend zwischen den Schläfen. Er versuchte, seine über Tage memorierte Rede im Kopf abzuspulen. Florian summte vor dem Spiegel und trug Herren-Makeup auf. Ganz dünn, UNMERKLICH:
„ … sehe ich hier heute viele vertraute Gesichter … hätte ich es ohne Max nicht geschafft … und vor allem für die liebevolle und doch ehrliche Kritik … wenn ich einem jungen Schriftsteller heute rate sollte …“ An der Stelle hatte er doch einen Witz eingeplant. Wie ging der noch? „… und wie schon Eichendorff sagte: kill your darlings …“ Nein, halt, das gehörte woanders hin.
Ordnung, er musste seine Gedanken ordnen. Seit gestern war ihm kalt gewesen, doch nun plötzlich schwitzte er. Er fühlte, wie ihm das blütenweiße Hemd unter den Achsel feucht wurde. Ließ das Sakko über die Schultern hinuntergleiten, um sich Kühlung zu verschaffen.
Vor dem Spiegel presste Florian eine erbsengroße, nach Kokosnuss riechende Menge Gel aus der Tube und begann sie in sein Haar zu reiben. „Platz eins! Mein Mister Superautor ist auf eins!“ Die zwei Finger, die eben den unsichtbaren Fussel vom Sakko gezupft hatten, nahmen jetzt nicht wahrnehmbare Mikrojustierungen an Florians Haaren vor. „Du hast es allen gezeigt!“
Ihm wurde noch heißer. Daniel schob seine Finger unter die Fliege und lockerte sie.
„Dein größter Erfolg! On top oft he world!“ Florians Stimme. Grell. Hell wie eine leuchtende Zitrussonne. Stechend.
Max hatte ihn gestern Abend angerufen und ihm die Nachricht verkündet. Platz eins: Daniel Lindenthal. Schatten war bereits letzte Woche auf Platz vier abgesunken. Aber er war wiederentdeckt: Tanz der Kolibri stand unangefochten auf der Eins. Daniel zog sich die Fliege vom Hals. Wie Max ihm atemlos erklärt hatte: „… der Essay von Brinkmann-Niederweide, der hat es ausgelöst. Nach FÜNFUNDZWANZIG Jahren, Danny!“
„ … fünfundzwanzig Jahre danach!“, hörte er Florian frohlocken. „Und jetzt … endlich …“
Florian hatte gehört, wie Daniel hinter ihm aufgestanden war und wollte sich umwenden. Doch da lag das Band der Fliege schon um seinen Hals und zwei schwere Hände zogen sie zu.
„Fünfundzwanzig Jahre …“ murmelte Daniel während Florians zappelnde Finger versuchten, sich unter die Schlinge zu schieben. „Und jetzt …“ Florians Japsen nach Luft klang verzweifelt – fragend auch, als seine Beine nachgaben.
Kill your darlings“, gab Daniel ihm zur Antwort.

 
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Liebe/r Meridian,

Und jetzt, da er das Geld hatte, um sein durchschnittliches Aussehen und seinen unterschwelligen Selbsthass wettzumachen, war er alt und monogam.

Der ‚unterschwellige Selbsthass’ deines homosexuellen, fetten und versoffenen Erfolgsschriftstellers verliert seine Unterschwelligkeit, drängt nach oben und lässt ihn am Ende seinen Liebling Florian ‚killen’. Der Schriftsteller, dem die Maxime Kings durch sein alkoholisiertes Gehirn wabert, setzt sie in die Tat um und er erdrosselt seinen Liebhaber stellvertretend für alles, was ihn vermutlich schon seit 25 Jahren (oder noch länger) anwidert. Und das ist vor allem seine eigene Person und die Umstände seiner Existenz: sein Alter, sein fetter Körper, das Unechte der Beziehung, das ganze aufgesetzte, oberflächliche Drumherum. Das hast du schon sehr eindringlich und einleuchtend dargestellt. Am Ende habe ich gedacht, dass er eigentlich konsequenterweise sich selbst hätte umbringen sollen.
Mich haben die Einzelheiten deiner Geschichte zum Teil genervt, weil sie mich in dieser Ausführlichkeit nicht wirklich interessierten, ich habe so möglicherweise den einen oder anderen Hinweis überlesen. Es ist so gar nicht meine Welt, in die du mich als Leser hineinführst.

Nicht ganz verstanden habe ich den Rückblick in deiner Geschichte. Ich kann die Verbindung zwischen dem Jungen, der sich in das Bett seiner Eltern flüchtet, und deinem erwachsenen Protagonisten nur schwer herstellen.

Vielleicht hätte er nicht die Tür ins Schlafzimmer nehmen sollen – sondern die nach draußen? Sehen, ob dort etwas war? Draußen, in der kalten, unheimlichen, geheimnisvollen Nacht? Im Wind?
Er sollte aufstehen. Losgehen. Etwas tun. Etwas Bestimmtes. Es war sein Fehler, dass er es nicht tat. Deshalb konnte er nicht schlafen. Weil da etwas war. Zu Wut und Angst gesellte sich ein schlechtes Gewissen. Weil er dieses etwas nicht tat.

Und die Verwirrung und Unsicherheit würden zerfallen wie die Nacht dort draußen im Morgenlicht. Dann würde er etwas tun.

Ich vermute, du hast diesen Teil eingeschoben, um die Tat am Ende zu motivieren. Ich bin mir nicht sicher, ob mir diese Montage gefällt oder ob ich sie zu stark als nachträglich eingeschoben empfinde. Vermutlich möchtest du hier auch den Bezug zum Titel herstellen.

Nervig fand ich auch die vielen groß geschriebenen Wörter. Darauf kannst du für mein Empfinden verzichten. Ich empfinde so etwas wie eine Bevormundung des Lesers. Das sollst du Leser bitteschön so und nicht anders lesen.

Sprachlich und stilistisch habe ich an deinem Text - nachdem ich mich einmal darauf eingelassen hatte - nicht viel auszusetzen. Ich habe das Gefühl, dass das hier sicherlich nicht dein erster Text ist und du schon einige Schreiberfahrung hast.

Als Satire würde ich deine Geschichte allerdings nicht bezeichnen. Sicherlich verspottest du bestimmte Zustände im Literaturbetrieb und prangerst sie wohl auch direkt oder indirekt an, aber so richtig deutlich wird mir das nicht.

Kleinigkeiten:

Daniel Lindenthal wurde allmählich schwindlig und er wusste nicht genau, woran das lag: An [an] der langsamen Rotation des Schwimmrings,
Nach dem Doppelpunkt folgt kein ganzer Satz.

Sein Blick suchte Halt und fand ihn, über seinen glänzenden Bauch hinweg, am Hintern des Jungen,
Kannst du als Einschub machen, allerdings würde mir hier auch einleuchten, wenn du die Kommas wegließest.

Aber als er jung genug für Abenteuer gewesen war, war er nicht attraktiv genug gewesen und nicht selbstbewusst genug, um das zu kompensieren.
Stilmittel?

weil der Junge sowas Latinomäßiges hatte,
so was

Kill your darlings, kill your darlings, even i fit [if it] breaks your egocentric little scribbler’s heart.

Welcher Verlag will denn schon, dass ihm sein bestes Pferd im Stall Tod umfällt?
tot

Ich versuche schon seit TagenK dich zu erreichen!“

Er war stolz, dass Florian bei ihm hängegengeblieben war.

Er fühlte, wie ihm das blütenweiße Hemd unter den Achsel feucht wurde. Ließ das Sakko über die Schultern hinunter gleiten,
hinuntergleiten
unter der Achsel oder unter den Achseln
‚über die Schultern hinuntergleiten lassen’ kann ich mir nicht so recht vorstellen.

Doch da lag das Band der Fliege, die Schlinge, schon um seinen Hals und zwei schwere Hände zogen sie zu.
„Fünfundzwanzig Jahre …“ murmelte Daniel während Florians zappelnde Finger versuchten, sich unter die Schlinge zu schieben.

Die erste ‚Schlinge’ würde ich streichen.

Lieber Meridian, du hast dir das schon gut ausgedacht und ich kann mir die Situation, die du beschreibst, vorstellen. Es ist leider überhaupt nicht mein Thema und ich bin mir nicht sicher, ob ich deinen Text letztendlich verstanden habe. Besonders die vielen Einzelheiten, die du einflichst, nerven mich ein wenig und ich frage mich, ob sie wirklich alle nötig sind.

Am Ende ist deine Geschichte dann eine Pointengeschichte:

Kill your darlings, kill your darlings, even i fit breaks your egocentric little scribbler’s heart.
und ich habe sehr stark das Gefühl, dass dein Text genau auf diese Pointe hin konstruiert worden ist. Das geht für mich zu Lasten einer nachvollziehbaren Motivation des Handelns deines Protagonisten. Die muss ich mir als Leser mMn selber suchen.

Auf jeden Fall begrüße ich dich bei den Wortkriegern und bin gespannt auf weitere Geschichten von dir.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo barnhelm,

Vielen Dank für die aufschlussreiche Kritik! Du hast Recht, dass das nicht meine erste Geschichte ist - schön, dass man das merkt - es ist aber das erste Mal seit Längerem, dass ich eine Geschichte mit einem größeren Personenkreis teile.

Ich bin auf jeden Fall froh, dass sich dir die Psychologie meines Protagonisten bzw. seiner Tat in etwa so erschlossen hat, wie ich das geplant hatte: der Selbsthass - bzw. die Enttäuschung - die sich im zerstörerischen Akt ausdrückt. Ich entnehme deiner Kritik, dass du die Geschichte dennoch teilweise als auf die Pointe hin konstruiert empfandest. Das war auch meine Befürchtung. Allerdings stand für mich beim Schreiben am Anfang gerade nicht die Tat, sondern bestimmte Szenen und vor allem die Person Daniel Lindenthals selbst. Der "Knalleffekt" als Abschluss kam dann erst nachträglich, als ich mich nach vier Seiten fragen musste: So weit so gut - aber was genau ist jetzt die Geschichte? Ich komme ursprünglich vom Horror her, da liegt einem die Bluttat als Abschluss nahe.

Das kann dann aber natürlich den selben Eindruck erwecken: Die Geschichte wurde auf den Schlusspunkt hin gezwungen. Obwohl sich diese Befürchtung damit bestätigt hat, bin ich froh, dass das Ende dennoch nicht als vollkommen unverständliches Artefakt da steht.

Dass ich anfangs selbst das Gefühl hatte, zu Personal und Szenen noch keine Erzählung zu haben, erklärt vielleicht auch deine anderen Kritikpunkte: Die Rückblende hat sich im Schreibfluss ergeben. Müsste ich sie rechtfertigen, würde ich sagen, die Idee war, Daniel mehr Tiefe zu verleihen und seine labile, verunsicherte Persönlichkeit stärker auszuleuchten. Auch die für dich nervigen Details - die Geschwätzigkeit der Story - kommt vielleicht hierher. Wahrscheinlich ist die Botschaft: Ich hätte mich am Ende an Kings Maxime halten und mit der Sense durch die Geschichte gehen sollen.

Bezüglich der Großbuchstaben: Das habe ich so zum ersten Mal ausprobiert und dachte, dass es vielleicht zum Ton der Geschichte passt. Ich gebe zu, dass ich mich hier ganz bewusst von Stuckrad-Barres "Panikherz" habe inspirieren lassen - wo das womöglich besser funktioniert.

Danke dir noch mal für die Kritik und auch fürs Willkommen! Ebenso fürs Raussuchen der "Kleinigkeiten" - die kommen demnächst noch an die Reihe.

Schönen Gruß
Meridian

 

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