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Unter dem Käsemond
Ich war erleichtert, dass Gian nicht schrie als er das Telefon abnahm. So stand es um uns.
Gian fragte: „Wo bist du?“
„Kannst du dich an die Comicmaus auf dem Käsemond erinnern?“
„Aus Sperrholz? Eine Ulli-Stein-Maus auf einem Mond mit Käselöchern zum Aufhängen? In deinem Kinderzimmer damals?“
„Ja. Könntest du zu meinen Eltern fahren, unter irgendeinem Vorwand in mein altes Zimmer gehen, diese Comicmaus abnehmen und sie verbrennen?“
„Verbrennen?“
„Oder von mir aus in die Luft sprengen.“
„Mit dem Spengstoff, den ich unter meinem Kopfkissen habe?“
„Ja.“
„Alles okay bei dir? Wo bist du denn?“
„Ich sitze in meiner Küche. Meiner neuen Küche. Hier wohne ich jetzt.“
„Und was machst du?“
„Ich rauche. Hast du gehört, dass Roki sich umgebracht hat?“
„Nein, ist das so?“
„Ja. Und weißt du was? Sie hatte so etwas Unterdrücktes an sich. Sie ist nur wegen ihren Eltern Logopädin geworden. Erst wollte sie Archäologie studieren, aber dann hat sie sich zehn Jahre lang mit Kindern in schlechter Aussprache unterhalten.“
„Ich hab sie mindestens zwanzig Jahre lang nicht gesehen.“
„Trotzdem.“
„Was hat Roki mit deiner Käsemond- Comicmaus zu tun?“
„Ich hatte ihr eine geschenkt, eine Comicmaus, zu ihrem vierzehnten Geburtstag. Sie hatte mich zu sich nach Hause eingeladen, nur mich! Und ihr Zimmer war nur so gross wie ein Bett. Alles, was sie an Möbeln hatte, war ein rundes Kissen, als Ersatz für einen Sessel.“
„Na und?“
„Ich hab diese Comicmäuse, die mein Vater gebastelt hat, wirklich gehasst, aber ich hatte nichts anderes da. Und ich mochte Roki mit ihrem Zitronenlächeln eh nicht. Also hab ich ihr so ein Teil zum Geburtstag geschenkt. Und sie hatte sie dann jahrelang in ihrem Fenster hängen.“
Ich schwieg.
Dann setzte ich nochmals an.
„Kannst du mir sagen, warum sie ihn aufgehängt und nie wieder abgenommen hat? Weil sie diesen Mäusemond mochte? Weil es ihr egal war, ob er da hing oder nicht? Oder weil sie damit sagen wollte, dass ich sie mit einem blöden Geschenk nicht fertigmachen kann? Oh Gott, oder weil sie dachte, das verbindet uns, weil ich ja tatsächlich die gleiche dämliche Maus in meinem Fenster hängen hatte? Was ich meine ist: hängen habe. Denn sie hängt ja sogar jetzt noch da“, sagte ich. „Und jetzt will ich, dass du zu meinen Eltern fährst, dieses Teil kidnappst und irgendwo verscharrst.“
„Weil du dich sonst auch umbringen musst? Maria, sag doch bitte mal, wo du bist. Deine Eltern suchen...“
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Ich stand auf. Vom Fenster aus hatten die Häuser, auf die ich blickte, ein Glitzern, als seien sie mit silbernen Rändern ausgestattet. Und über dem See lagen winzige Wolken, die von oben sicher aussahen wie kleine Eisberge mitten im Zürichsee.
Von oben wirkten hier wohl sogar die Wälder penibel gestutzt.