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Unter dem Kran (in Bearbeitung)
Unter dem Kran
Windböen fegten über die Baustelle. Eine einzelne Glühbirne, die an einem staubigen Kabel hing, spiegelte sich im geschlossenen Fenster der Baracke. Bianca schrieb das Streikdatum auf die Visitenkarte. Gewerkschaft Forte, stand auf der Rückseite.
„Er hat gesagt, ich soll in mein Scheißland zurückgehen. Scheißland, hat er gesagt. Geh in dein Scheißland zurück, wenn es dir bei uns nicht gefällt. Das hat er gesagt.“ Peppe hustete.
„Was?“ Sie öffnete den Mund.
Er nahm den Helm ab. Sein Haar klebte an der Stirn. „Hab nur gesagt, dass ich nicht wieder länger bleiben kann nach der Spätschicht. Ich kann wirklich nicht, echt, es geht nicht. Meine Frau hat gesagt, sie lässt sich von mir scheiden, wenn das nicht aufhört.“
Ein Knarren war zu hören, Stimmen, Schritte, die Tür von der Baracke nebenan wurde zugeknallt.
„Deine Hand“, sagte sie, und reichte ihm ein Taschentuch. Er wischte das Blut weg.
„Ich würde es ja machen. Ich würd ja länger bleiben. Aber meine Frau arbeitet am Morgen bei der Firma Topic, am Mittag hilft sie in der Mensa aus und am Abend putzt sie die Sportanlagen beim Flughafen, sie kann nicht früher nach Hause kommen, geht nicht.“
„Du musst nicht länger bleiben.“ Sie hielt ihm eine Zigarette hin. „Er nutzt dich aus.“
Er zog die Warnweste aus, warf die Jacke auf den Tisch. Als er weiterredete, bemerkte sie, dass seine Hose zerrissen war. Er hatte rote Flecken im Gesicht und seine Stimme klang anders als sonst.
„Ich hab letztes Jahr jeden verdammten Scheißtag länger gearbeitet, bei jedem Wetter, sogar am Wochenende. Er hat mir nicht mal die Überstunden ausbezahlt. Jeden Samstag musste ich arbeiten und jetzt droht er mir mit der Kündigung.“
„Das darfst du dir nicht bieten lassen.“
„Ja, nicht bieten lassen …, was soll ich denn machen? Ich hab eine Familie …, wo soll ich denn noch Arbeit finden?“
Er stand auf, wechselte die Schuhe.
„Was ist passiert?“, sagte sie.
Er stützte sich an der Wand ab, blickte zu ihr.
„Das Gerüst ..., das Holz ist durchgebrochen. Nur unten, wir hatten Glück.“
Sie hob die Augenbrauen und zeigte auf seine Hand. „Das Gerüst ist eingebrochen? Du hast dich verletzt, weil das Gerüst eingebrochen ist?“
„Hab mich nur auf dem Kies aufgeschürft, ist nicht schlimm. Aber hinten, beim Aushub, da hat er nicht mal den Schutzstreifen rangemacht. Es ist ihm scheißegal, wenn es Unfälle gibt.“
“Schutzstreifen?“
„Na hinten bei der Grube, damit die nicht einkracht. Es muss schnell gehen, hat er gesagt, das sagt er immer. Ob wir da lebend oder tot rauskommen, das interessiert ihn nicht.“
„Wie viele seid ihr?“
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht zwanzig? Wir sind auf vier Baracken verteilt.“
„Mit wem darf ich sprechen? Sag mal …, wer ist der Kranführer?“
„Massimo, der mit dem langen Bart.“
„Kannst du ihm meine Nummer geben? Ihr müsst euch wehren.“
Er rieb sich die Schläfen. „Ich verstehe meine Frau“, sagte er und setzte sich wieder. „Ich würde auch nicht mit einem Mann zusammen sein wollen, der nie für die Kinder da ist.“
„Hey“, sagte sie und berührte ihn am Arm.
„Ich will ja für meine Kinder da sein. Ich liebe meine Kinder. Ich würde alles für sie tun, alles …, schau mal.“ Er holte den Geldbeutel aus der Tasche. „Vittoria, heißt sie, hier hat sie gerade ihren ersten Zahn verloren.“ Er strich über das Foto. „Und das ist Luca. Und hier meine Frau. Da war sie sehr erschöpft. Er kam fast acht Wochen zu früh und wir haben zuerst gedacht, dass er nicht überlebt, aber nach drei Wochen durften wir ihn nach Hause nehmen, wir sind sehr glücklich, wirklich, ich liebe meine Kinder.“ Er klappte den Geldbeutel zu.
Sie stand auf, blickte ihm ins Gesicht. Ihre Augen brannten. „Kommst du zum Streik?“
Er nickte.
„Und was bist du bereit zu tun?“
„Wie meinst du das?“
„Was bist du bereit zu tun, um diese Zustände zu beenden?“
„Weiß nicht." Er zog den Rauch durch die Lungen.
„Auf gar keinen Fall mach ich da mit“, sagte Massimo und schnalzte mit der Zunge, „du hast sie nicht mehr alle. Da krieg ich nicht nur die Kündigung, da komm ich in den Knast.“
„Es muss ein Wachrütteln geben“, sagte Bianca, „vor dem Streik. Die Unfälle werden unter den Tisch gekehrt, hast du ja selbst gesagt. Das muss an die Öffentlichkeit.“
Er fuhr sich durch den Bart, blickte zum Bagger. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden hinter der Absperrung.
„Dein Kollege", sagte sie leise", der mit der Prothese, hm? Du weißt, was passiert ist. Dieser Unfall hätte nicht geschehen müssen. Ist nur ein Beispiel. Die Schicht war übermüdet, das wisst ihr alle …!“
„Alfredo, ja. So ist das auf dem Bau.“
„Warum wehrt ihr euch nicht?“
„Wie denn?“
„Na so, wie ich es vorgeschlagen habe.“
„Nein, ich mach nicht mit. Stell mir den Polier in die Grube, dann ja. Ich lass die Platte so runterknallen, dass sie ihm zuerst die Füße abhackt und dann …, dann walz ich ihm die Glatze in den Dreck …“
Sie blickte zum Kran. „Willst du nichts verändern?“
„Das hat doch damit nichts zu tun. Komm, lass uns rübergehen." Sie liefen über den Kies, die Nachtarbeiter kamen ihnen entgegen. Als sie in der Baracke waren, wechselte er die Kleider, nahm eine Plastikbox aus seiner Tasche und setzte sich.
„Versteh mich nicht falsch. Ich bin froh, dass du uns hilfst. Aber ich bin müde, mein Rücken ist kaputt, mein Kopf ist kaputt. Ich will zurück in mein Land, zurück in meine Stadt. Nur das …!“
„Wie lange bist du schon hier?“
„Zwanzig Jahre.“ Er schüttelte den Kopf. „Zwanzig Jahre hab ich das mitgemacht. Und jetzt sind es nur noch einunddreißig Monate. Wenn ich jetzt einen Fehler mache, dann werfen die mich raus und dann? Ich brauch die volle Rente.“
„Das verstehe ich.“ Sie blickte auf das Hähnchen. Auf dem Tisch lag zerknülltes Plastik, leere Zigarettenschachteln und Alufolie.
„Willst du?“
„Danke, nein“, sagte sie, „ich … ich muss zur nächsten Baustelle.“
Er riss mit den Zähnen das Fleisch vom Knochen. „Jetzt noch?“
„Ja, die Nachtschicht bei der Tunnelröhre.“
„Kommen die auch zum Streik?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Hängt von euch ab. Ihr müsst zusammenhalten.“
Der Wind pfiff durch die Tür. Sie stand auf, rieb sich die Hände, trat zur Seite, drehte sich zu ihm.
„Was muss ich tun, damit du mir hilfst? Du bist der Kranführer, ich brauche dich.“
„Kleine, ich mach bei allem mit, ich komm zum Streik und rede mit den anderen. Aber wie gesagt, das mach ich nicht.“
Es war Nacht. Bianca kletterte über die Friedhofmauer und schlich sich zum Grab. „Hey“, sagte sie und legte eine Blume auf die Erde.
„Wir fordern die Frühpensionierung, kürzere Arbeitszeiten und eine Lohnerhöhung.“
Es war still. Nur das Knacken der Äste war zu hören.
„Einer von ihnen hat nur ein Bein, Alfredo.“ Sie sprach leise, zog den Reißverschluss zu. "Er … hat mir seine Prothese gezeigt. Er hat gelacht und … gesagt, es wäre gut, ein Krüppel zu sein, weil man dann bessere Arbeitsbedingungen hätte.“
Der Mond schien auf ihr Gesicht. Es war kalt, windig.
„Sie hatten ihn nach dem Unfall wieder eingestellt. Er hat geschwiegen, weil er ein normales Leben wollte. Er wollte arbeiten. Ein normales Leben eben, sagte er, kein Krüppelleben.“
Sie nahm eine Hand voll Erde und ließ sie durch die Finger rieseln.
„Ich weiß, was wir tun müssen, damit das aufhört“, sagte sie. „Je mehr Leute zum Streik kommen, desto mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Und je mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, desto mehr Leute kommen zum Streik.“
Peppe und Massimo verließen die Baracke pünktlich. Alfredo sorgte dafür, dass der Rest der Mannschaft in der Pause war. Bianca wartete im Auto hinter der Baustelle. Ihr schwarzes Haar kräuselte sich an den Schläfen. Sie war bereit. Das raue Klima hatte ihre Haut an vielen Stellen aufgerissen, ihre Lippe blutete, die Hände waren gerötet und wund. Auf dem Beifahrersitz lag der Briefumschlag. Sie wartete, bis der Zeiger auf Halb war. Dann stieg sie aus, setzte den Helm auf, zog die Warnweste an und lief zum Eingang. Es regnete. Eine Plastikplane klatschte gegen das Gerüst. Das Absperrband flatterte. Ein lauter, kurzer Schrei war zu hören, darauf folgte ein dumpfes Krachen. Sie blickte zum Kran, nahm das Telefon aus der Tasche.
„Und?“, sagte sie, „Mission geglückt?“ Sie lächelte.
„Peppe“, drang es aus dem Hörer „Peppe oh Gott der Wind hat der Wind hat die Platten zu früh Peppe liegt unter den Platten einen Krankenwagen schnell oh Gott … oh … Gott oh mein Gott Scheiße Scheiße Scheiße.“
Sie ließ das Telefon fallen, hob es auf, atmete mit einem kurzen Stoß aus, drückte auf den Tasten herum, sprang über das Absperrband, rutschte aus, stürzte zu Boden, stand wieder auf, rannte zu den Baracken, riss die Tür auf und schrie: „Einen Krankenwagen, schnell … ruft einen Krankenwagen…“ Die Arbeiter zuckten zusammen. Alfredo stand auf.
„Peppe liegt unter den Platten … Peppe …“ Das wiederholte sie dreimal, dann versagte ihre Stimme.
Bianca strich über den Grabstein.
„Verstehst du, was ich sagen will? Wir brauchen eine Story. Eine Story für die Zeitung. Wer weiß schon, was das heißt bei jedem Wetter unter Zeitdruck zu knüppeln? In der Kälte, in der Hitze, im Regen? Mit fünfzig Invalid zu sein? Sich so kaputt zu rackern, dass keine Zeit bleibt für ein Leben? Und das für diesen Lohn! Immer in Angst zu leben, dass man gekündigt wird, weil man ersetzbar ist. Das muss an die Öffentlichkeit.“
Der Wind strich durch die Bäume. Eine Katze sprang über die Friedhofsmauer.
„Mein Plan“, sagte sie, „wird Geschichte machen. Und das ist der Anfang von Veränderung.“
Sie holte die Skizze aus der Tasche, drehte sich um und spähte über die Gräber, dann zündete sie das Feuerzeug an.
„Ich hab drei Leute ausgewählt, Peppe, Massimo und Alfredo. Peppe befestigt die Platten. Aber nur auf der einen Seite.“ Sie hustete. „Massimo lenkt das Zeug zur Grube rüber. Alfredo sorgt dafür, dass niemand auf dem Gelände ist. Und wenn das Zeug platziert ist, dann lässt Massimo die Ladung runter krachen. Ein gestellter Unfall. Damit kann ich sicher ein paar Journalisten begeistern. Ich warte beim Eingang. Und wenn Peppe geschrien hat, dann komme ich wie jeden Tag auf die Baustelle und gehe mit ihm zum Polier, um den Unfall zu melden.“
Auf der Skizze war das Gelände der Baustelle abgebildet, die Baracken, die Grube, der Kran. Sie hielt die Flamme unter das Papier. Die Asche wurde vom Wind weggefegt.
„Es gibt nur ein Problem. Massimo. Er will nicht mitmachen, er hat Angst. Ich hab mir überlegt, wie ich ihn motivieren könnte. Darf ich ihm die Hälfte deines Geldes geben? Es ist ja für was Gutes. Wir müssen den Streik vorantreiben."
Ein paar Sterne waren zu sehen, der große Wagen, der kleine Bär.
„Was ist ein gestellter Unfall, bei dem niemand verletzt wird, im Vergleich zu all dem Elend, das die tragen müssen? Drück mir die Daumen“, sagte sie, stand auf und verschwand in der Dunkelheit.
Der Krankenwagen verließ das Gelände. Die Arbeiter gingen zurück in die Baracken. Massimo und Bianca standen beim Kran. Sie blickte immer noch auf den Boden. Da war feuchte Erde und ein Stück rotes Plastik. Er drehte sich zu ihr und sagte, „wenn das rauskommt, dann zeige ich dich an.“
Es war Sonntagnacht. Bianca hatte sich hinter dem Holzstapel versteckt und beobachtete die Baustelle. Niemand war da. Der Kran stand still, die Scheinwerfer waren aus, nur ein paar Laternen beleuchteten den Kiesplatz. Sie zuckte zusammen, als eine Dose über die Straße rollte. Dann kletterte sie über das Absperrband. Die Baracken tanzten vor ihren Augen, die Grube war leer, der Bagger stand neben dem Kran. Sie fasste das kalte Metall an und blieb stehen, eine Stunde oder länger. "Was hab ich getan?", sagte sie immer wieder. Sie nahm den Briefumschlag, riss ein Stück vom Isolierband ab, das sie mitgenommen hatte, und wärmte sich die Hände zuerst mit dem Feuerzeug und dann in den Jackentaschen. Als sie die Finger wieder bewegen konnte, kletterte sie die Krantreppe hinauf. Den Briefumschlag hielt sie mit den Zähnen. Bei der Kabine angekommen, klemmte sie ihn in die Ritze und befestigte das Isolierband am Fenster. „Für Massimo“ stand darauf und auf der Rückseite „es war mein Fehler. Danke für alles. Komm gut nach Hause.“
Der Nachthimmel war klar. Im Osten waren helle Streifen zu sehen.