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18.09.2021
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Die schlechte Nachricht kam per E-Mail, Jakob überflog die ersten Zeilen.

Die Hand, in der er die Kaffeetasse hielt, begann zu zittern. Die heiße Flüssigkeit schwappte über den Rand und spritzte auf seine Haut. Mit einem Aufschrei ließ er die Tasse fallen. Auf dem hellen Teppichboden breitete sich ein dunkler Fleck aus. Verdammt! Hilfloser Zorn brannte sich durch seine Gedanken. Verdammt, verdammt!

Die mühsame Aufgabe, den Fleck aus dem Teppich zu waschen, lenkte seine Gedanken von der erhaltenen Post ab. Der durchtränkte Lappen verschmierte die dunkle Stelle auf das Doppelte seiner ursprünglichen Ausdehnung. Jakob ließ reichlich Wasser in den Lappen rinnen und rieb verbissen über die dunkle Insel. Die schmutzig-braune Region wurde sichtbar blasser, dafür entstand ein heller Wasserrand rings um den Fleck und fixierte ihn unlösbar auf dem Teppichboden, resistent gegen alle zukünftigen Reinigungsversuche. Ein weiterer Posten auf seinem Schuldkonto, wenn er die Wohnung aufgeben musste.

Resigniert richtete Jakob sich wieder auf. Sein Blick fiel auf den Monitor, der die geöffnete Meldung zeigte. "Nach eingehender Prüfung ..." Er musste nicht weiter lesen. Ein unvollständiges Bild verdichtete sich und ließ das Thema erkennen. Die Nachricht setzte eine düstere Serie fort, die sich seit einigen Monaten durch sein Leben zog.

In der freien Hand brachte sich der vor Nässe tropfende Lappen in Erinnerung. Wütend schleuderte Jakob ihn in eine entfernte Zimmerecke.

Widerwillig las er weiter. "... sehe ich mich veranlasst, die gesetzliche Stornierungsfrist zu nutzen ...“ Jakobs Hände krampften sich zu Fäusten zusammen. „... und annulliere die abgeschlossenen Versicherungsverträge." Die Buchstaben auf dem hellen Bildschirm krallten sich in ihm fest. Eine hintergründige Macht griff nach seinen Energiereserven. Kann die Seele ermüden? In Jakob tat sich ein wohl bekanntes Vakuum auf und sog die Hiobsbotschaft auf. Der Geschmack von Adrenalin, den er früher empfunden hatte, stellte sich nicht mehr ein, auch kein stechender Schmerz im Nacken, auch kein flatternder Atem. Das Unheil wandelte sich vom flüchtigen Besucher zum herrschsüchtigen Lebensgefährten.

Die Nachricht liquidierte Jakobs Lebensunterhalt für zwei Monate, denn die Provision war fest eingeplant, eine Erste-Hilfe-Aktion gegen die drohende Räumungsklage und gegen die dringendsten Schulden, von der Nahrung ganz zu schweigen. Jakob lachte auf. Er zuckte vor seiner eigenen Stimme zusammen, es war seine erste Lautäußerung an diesem Tag. War wirklich er es, der gelacht hatte? Das inzwischen vertraute Gefühl der Entfremdung stieg wieder in ihm hoch, klarer und unbarmherziger als bisher. Entscheidungen, die er in der Vergangenheit getroffen hatte, erschienen ihm heute wie Manifestationen aus einer diffusen Zwischenwelt. Versicherungsmakler im Außendienst - wie absurd. Gab es eine Tätigkeit, die weniger zu ihm passte? Es hatte eine Zeit gegeben, als ihm seine Wahl als Lösung aller Probleme erschienen war. Aber es war keine Lösung, nur eine weitere Verdrängung des Problems, ein entschiedener Schritt in die falsche Richtung.

Die Chimäre zeigte ihr wahres Gesicht. Er war kein Kontaktmensch, war es nie gewesen. Alles in seinem introvertierten Selbst sträubte sich gegen die misslungene Strategie. Erste Anfangserfolge kehrten sich gegen ihn. Sein beruflicher Alltag erschien ihm mehr und mehr wie ein Spaziergang auf dem Mond, eingeschlossen in eine hermetische Rüstung, gelenkt von einer fernen Leitstelle. Doch anders als in der Realität schien die Schwerkraft seines persönlichen Erdtrabanten höher zu sein als die des Heimatplaneten.

Lange hatte er nicht verstanden, warum so viele seiner Abschlüsse keinen Bestand hatten. "Jakob, Sie sind ein Fantast, und deshalb verkaufen Sie an Fantasten", hatte jemand in einem der langen, gesichtslosen Gänge des Unternehmens zu ihm gesagt. Damals hatte ihn die Äußerung verletzt, er hatte nichts als Diffamierung darin entdecken können. Heute wusste er, dass die Analyse zutraf, wie verzweifelt er sich auch an seine fatale Entscheidung klammerte. Fantasten brauchen keine Versicherungen.

Er war ein Fantast, ein Fantast mit einer Spezialbegabung für neuronale Programmierung, aber sicher kein Mensch, der andere Menschen dazu bewegen konnte, nutzlose Verträge abzuschließen und sie zu behalten, was noch wichtiger war.

Es war nicht immer so gewesen. Er erinnerte sich an den Jakob der jüngeren Jahre, ein enthusiastisches, begeistertes Wesen mit dem Geist voller Träume und Visionen. Die Welt war eine Schatztruhe, bis zum Rand gefüllt mit geheimnisvollen Verlockungen und endloser Verheißung. Alles schien erreichbar, und alles schien auf ihn zu warten.

Er hatte versucht, auf dem Gebiet seiner besonderen Fähigkeiten Fuß zu fassen. Seine Erinnerung an die beiden ersten Jahre nach dem Universitätsabschluss war beherrscht von durchwachten Nächten, unzähligen Bewerbungsschreiben, unzähligen Reisen zu unzähligen Einstellungsgesprächen, später von allmählich zunehmender Mutlosigkeit und Bedrückung. In zwei Ordnern ruhten die Kopien seiner Schreiben an die wichtigsten Softwareunternehmen dreier Kontinente. Er hatte Freunde und Studienkollegen ihren Weg gehen sehen, doch er blieb zurück, ein Wanderer zwischen den Welten.

Kraftlos ließ er sich auf den Drehstuhl vor dem Computer fallen. Abwesend starrte er auf die E-Mail. "Nach eingehender Prüfung ..." Ein großer Teil der Antwortschreiben in den zwei Ordnern enthielt ähnliche Floskeln. Diese Welt wollte ihn nicht. Und doch bestätigte jeder, der etwas davon verstand, seine außergewöhnlichen Fähigkeiten auf dem Gebiet des kybernetischen Softwaredesigns.

Seine Gedanken wanderten zu Chris, dem Freund früherer Jahre. Es erschien ihm wie eine halbe Ewigkeit, seit sie sich gesehen hatten, doch ihr letztes Zusammentreffen lag nur ein Jahr zurück. Er erinnerte sich an einen sonnendurchglühten Sommer, an Chris, der aus den USA gekommen war, um seine Eltern zu besuchen. Alle Bilder ruhten abrufbereit in seinem Kopf: Jakob, an seinem Lieblingsplatz vor dem Computer, den Blick auf den Freund gerichtet. Chris, im Zimmer umher gehend, schließlich die übereinander gestapelten Aktenordner in dem überfüllten, wackeligen Holzregal betrachtend. Sein fragender Blick, Jakobs schweigendes Schulterzucken als hilflose Antwort.

"Jak, was ist los mit dir?"

"Sie wollen mich nicht."

Jakobs gequältes Kichern als Versuch, dem Gesagten die Schärfe zu nehmen, und doch nur ein Indiz des Schmerzes. Die Pause verlegenen Schweigens. Jakobs Gang ans Fenster. Sein wandernder Blick über die graue Steinfassade des gegenüber liegenden Häuserblocks.

"Jeden Test bestehe ich mit Auszeichnung, aber nach dem Interview ist alles anders."

Chris’ prüfender Blick. "Hast du keinen der Jobs bekommen?"

"Doch, einige. Jedes Mal war es ein neuer Alptraum. Stumpfsinnige, uninspirierte Aufgaben. Vor jedem Schritt endlose Besprechungen. Von meinen Ideen bleibt nichts übrig - wenn überhaupt jemand danach fragt."

Chris, hinter Jakob stehend, die Hand auf seiner Schulter. "Jak, Softwareentwicklung ist jetzt anders als früher. Heute sind keine einsamen Genies gefragt, sondern im Team arbeitende Spezialisten, die sich einer gemeinsamen Sache unterordnen können."

"Einer gemeinsamen Sache?" Jakob, bitter auflachend. "Einer gemeinsamen Sache wie dem neuen Kursextrapolationsalgorithmus der Mondo Bank, oder dem aktualisierten Prognoseprogramm für Kumuluswolkenbildung, oder die Systemadministration einer Rezeptdatenbank für Fruchtquarks?"

"Aber Jak, das Anwendungsgebiet ist doch nicht das Wesentliche! Es geht um die neuronale Datentechnik, die zur Problemlösung erforderlich ist. Ist es nicht eine Herausforderung, neue Lösungswege zu finden?"

Jakob, eine scharfe Erwiderung unterdrückend. Wie konnte er sein Problem beschreiben?

"Chris, stell dir vor, eine außerirdische Rasse weiht dich in das Geheimnis ein, Planeten und Sonnen zu konstruieren, ja ganze Galaxien zu erschaffen. Und nun suchst du mit deinen neuen Fähigkeiten eine sinnvolle Aufgabe. Doch überall, wo du deine Dienste anbietest, heißt es: Oh, ein Weltenbauer, wie schön! Könnten Sie bitte gleich einmal diesen Flusslauf hier begradigen? Herausforderung!"

Das Abschlussbild war das Schmerzvollste in Jakobs Erinnerung: Die beiden Freunde, nebeneinander am Fenster stehend, schweigend hinausblickend, äußerlich regungslos, doch die Bewegung voneinander weg bereits unumkehrbar, jeder am gegenüber liegenden Rand einer unüberbrückbaren Kluft.

Als die Energiesparfunktion den Monitor abschaltete, schreckte Jakob aus seinen Erinnerungen hoch. Hinter der Schwärze des Bildschirms spürte er die anhaltende Bedrohung, die von der noch geöffneten elektronischen Post ausging.

"Verdammt!" sagte er wieder. Er stand auf und verließ die Wohnung.


2​

Als Jakob den Club betrat, ertönte gerade Still im Donner, ein zufälliges Zusammentreffen. Unwillkürlich suchte Jakob durch die flimmernden Tiefen des rätselhaften Raums die DJ-Empore, entdeckte Ikarus. Während Jakob sich zwischen den Tanzenden hindurch schob, drangen zwischen den Rhythmen des harten Remix und durch die Druckwellen aus den Basslautsprechern Wörter zu ihm durch, die - wie schon so oft - etwas in seinem Innersten berührten:

Nur noch ein kleiner Schritt zum Gipfel,
Vor dir die Welt, so unberührt und weit.
Du tust den Schritt und bist am Fuß des Berges,
Und du stehst still im Donner dieser Zeit.

"Jak, du sieht beschissen aus", grinste DJ Ikarus.

"Danke, gleichfalls." Jakob fühlte sich unvermittelt besser.

"Du kommst im richtigen Augenblick." Der Blick des DJ senkte sich kurz auf die rotierenden Plattenteller. Jakob folgte dem Blick und sah zwei identische Platten, die sich auf den Plattenspielern drehten. Er blickte auf die Uhr: halb zwei. Es war die Zeit des Donner-Mix. Eine Stunde Still im Donner, endlos, erbarmungslos, brutal.

Etwas Kleines, Hellblaues kullerte über die Empore neben den Plattenspielern auf Jakob zu. Er blickte Ikarus an, der Wert darauf legte, konzentriert in seinen Plattenstößen zu kramen. Jakob zuckte die Schultern, nahm die Pille und schluckte sie.

Ikarus ließ zwei unterschiedliche Stellen des Stücks parallel laufen. Die hochwirbelnden Interferenzen schufen Klangwelten aus einem anderen Universum. Das Blaue in Jakob tat seine Wirkung, schichtete seine Gefühlswelten um. Die fünfte Dimension enthüllte ihm ungeahnte Mysterien. Aus verschiedenen Richtungen sah er Su auf sich zukommen. Die Männer aller fünf Dimensionen blickten ihr nach.

"Du bist ewig nicht da gewesen, wo warst du?" fragte Su. Etwas an ihr wirkte gehetzt.

"Wo warst du?" antwortete Jakob.

Su senkte den Blick. "Ich hatte wenig Zeit."

"Zeit? Wenig Zeit?"

"Der verdammte Job - er bringt mich um."

Jakob verstand sie, aber er wollte nicht einlenken. "Wechsle ihn doch! In meiner Firma wird bald ein Außendienstposten frei."

Su blickte in seine Augen. "Oh Jak." Sie lehnte sich an ihn. Er fühlte ihre festen Brüste. Ihre Hand wanderte über seine Schulter.

In Jakob stieg Wut auf. Grob stieß er sie von sich.

"Oh." Wieder senkte Su den Blick. "Du nimmst es mir noch übel."

"Unwichtig", sagte Jakob.

Vorsichtig tat sie einen Schritt auf ihn zu. Der Raum verzerrte sich. "Jak, bitte. Es gibt etwas, das wir besprechen müssen." Su legte vorsichtig die Hand auf seinen Arm. Wieder stieß er sie weg.

"Du musst vorsichtig sein", sagte er. Der fünfdimensionale Raum stimmte ihm zu. "Vorsichtig sein." Die Proportionen der Tanzfläche tauschten ihre Zuordnung. "Immer ganz vorsichtig."

Du tust den Schritt und bist am Fuß des Berges, sang der Raum. Aus dem Nichts trat eine hochgewachsene, athletische Gestalt neben Su. "Gehen wir?" Die Augen der Gestalt blickten ernst. Zu ernst.

Su sah Jakob bittend an. "Bitte versteh mich, Jak."

Die Gestalt legte den Arm um Su's Schulter. Schnell schob sie ihn weg. "Jak, ich bitte dich!"

"Du musst immer ganz vorsichtig sein", antwortete Jakob dem Su-Raum. "Jeden Tag."

Schweigend wandte sie sich ab und verschmolz mit dem Raum, der sich jetzt der sechsten Dimension öffnete. Und du stehst still im Donner dieser Zeit, sang das Universum.

Jakob versank in den Fluten des Donner-Mix. Langsam drang die Erkenntnis zu ihm durch, dass er geschüttelt wurde. Ikarus hatte ihn an den Schultern gepackt. "He, Mann, komm zurück!" Es funktionierte, zumindest teilweise. "Du solltest lieber Heim gehen", sagte Ikarus.

"Du musst auch sehr vorsichtig sein, wie Su", antwortete er.

"Klar, Mann, bin ich, aber geh jetzt Heim. Soll ich ein Taxi rufen?"

"Taxi", antwortete Jakob.

"Ja, Taxi! Soll ich eines rufen?"

"Du musst immer ganz vorsichtig sein", riet Jakob dem DJ wieder.

"Jak! Jak, komm endlich zurück, du musst Heim!" Ikarus’ sonst unbewegliche Miene zeigte Besorgnis.

Mit einem Mal war alles vorüber. Der sechsdimensionale Raum zog sich zurück. Der Club kam aus seinem virtuellen Exil. Jakob bemerkte Ikarus’ besorgten Blick. "Alles in Ordnung, Ik, ich bin wieder hier." Er wagte ein dünnes Lächeln.

"Gut." Ikarus atmete tief durch. "Ich konnte dich nicht mehr finden, dachte schon ... Hast mich ziemlich erschreckt."

Jakob klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. "Ich gehe besser nach Hause. Es war ein langer Tag."

"Ja, tu das", sagte Ikarus. "Bis bald."

Jakob ging in Richtung Ausgang. Nach einem Schritt wandte er sich um.

"Pass' auf deine Flügel auf, Ikarus."

"Klar, Mann", grinste der DJ. Der Donner-Mix würde heute 15 Minuten länger dauern.


3​

Als Jakob das Zimmer betrat, wartete eine ICQ-Meldung auf ihn. Kommst du rein? fragte Myako in dem kurzen Text. Er sah auf seine Uhr: Es war viertel vor drei. Bald würde es hell werden. Die Mitteilung war vor einer Viertelstunde eingegangen. Sie würde noch da sein.

Jakob setzte sich an den Computer und wählte sich in FarWorlds ein. Nexo nahm Kontakt auf und betrat für ihn die virtuelle Welt. Er fand sich am Stadtbrunnen wieder, dort, wo er die Welt beim letzten Aufenthalt verlassen hatte. Wie fast jedes Mal, zuckte ein kurzes Lächeln durch Jakobs Gesicht. Schönes Wetter. Hier war immer schönes Wetter. Ob es jemals regnete? Das war im Systemumfang wohl nicht vorgesehen.

Jakob tippte auf der Tastatur, und Nexo sandte einen Gedankenimpuls aus. "Wo bist du?"

"Ostseite", kam sofort die Antwort.

Nexo ging um den Brunnen herum. Myako saß auf einer Bank in der Sonne.

Jakob drückte F6. Nexo winkte.

Myako stand auf, ging auf Nexo zu und gab ihm einen Kuss. "Schön, dich zu sehen." Der Drachenkopf des Wasserspeiers hinter der Bank blickte freundlich herüber.

"Schön, dass du noch hier bist", antwortete Nexo.

"Habe bis jetzt gearbeitet. Bin zu aufgekratzt, um ins Bett zu gehen."

Jakob wusste nichts über Myakos Userin, wollte es nicht wissen. Er kannte nur Myako. "Bett? Wo gibt es hier Betten?" tippte er und drückte F3. Nexo lächelte.

Myako hüpfte einmal. "Du weißt genau, wie ich es meine!" Nun lächelte auch sie.

"Keine Ahnung", antwortete Nexo. Dass Jakob seine Identität nicht preisgab, musste Myakos Userin verletzten, er war sich dessen bewusst. Sicher traf es sie noch mehr, dass er die Existenz der Userin nicht zur Kenntnis nahm. So sehr Jakob auch wollte, in diesem Punkt konnte er ihr nicht entgegen kommen. Ihn störte selbst die unverlangt erhaltene Information, dass sie in der selben Stadt lebte wie er.

"Schon gut. Lass uns hinsetzen", sagte Myako. Sie ließen sich auf der Bank nieder.

"Du siehst abgespannt aus", bemerkte die virtuelle Frau. Jakob musste lächeln. Eine Pixelfigur konnte nicht abgespannt aussehen. Sie sah immer gleich aus, egal, welche Farbe sie gerade trug. Trotzdem hatte Myako seine Stimmung sofort erfasst, nach nur wenigen Sätzen.

"Hast recht", sagte Nexo.

"Neue Probleme?"

"Ich? Wieso sollte ich Probleme haben?"

Jakob fühlte Myako seufzen, und ihre Userin mit ihr. Seine Antwort tat ihm leid. Myako war das einzige Wesen, dem er sich nicht verschloss. "Mein User nervt mich", ergänzte er.

"Also gut, dein User", antwortete Myako. "Hat er neue Probleme?"

"Immer die alten", sagte Nexo.

Schweigend saßen sie nebeneinander. Auch zu dieser Stunde kamen viele Stadtbewohner vorbei, gesteuert von Usern auf der anderen Seite des Planeten. Manche kannten sie, winkten kurz zum Gruß.

"Willst du reden?" fragte Myako.

"Weiß nicht", antwortete Nexo.

"Sollen wir in die Wohnung gehen?"

Jakob fühlte wohlige Wärme in sich aufsteigen. In der Geborgenheit ihrer digitalen Wohnung, unerreichbar für die anderen Bürger von FarWorlds, hatten sie so viele Stunden in inniger Vertrautheit verbracht, vertieft in endlose Gespräche. Doch im Augenblick genoss Nexo die friedvolle Betriebsamkeit am Stadtbrunnen. "Lass und hier bleiben, My", sagte er.

"Wie du willst." Sie sandte einen Gedanken, unlesbar für alle anderen: *** Kiss ***. Wieder schwiegen sie lange.

"Was macht der Scanner?" fragte Myako schließlich.

Sie wollte ihn mit dem neuen Thema auf andere Gedanken bringen. Es war gut gemeint, trotzdem ärgerte er sich. "Was soll die Frage? Du glaubst doch sowieso nicht daran!" sagte Nexo für ihn.

"Schon gut, schon gut. Explodiere nicht gleich." Wieder sandte sie einen Gedankenimpuls: Giftzwerg!:-)

Jakob musste laut auflachen. Er sandte einen Gedanken zurück: Er ist fertig.

Fertig? Du meinst - er funktioniert?

Theoretisch fertig. Kann ihn ja nicht testen.

Wieder saßen sie lange schweigend nebeneinander. Wie schon so oft, genoss Jakob die seltsame Stimmung in seinem dunklen Zimmer, zurückgelehnt in seinem Stuhl, den Blick auf seinen Avatar gerichtet, der - frei von Zwängen, Ängsten und Gefahren - sein glückliches, virtuelles Leben lebte.

Ich kann es einfach nicht glauben! dachte Myako.

Manchmal glaube ich es selbst nicht, dachte Nexo.

Wenn er wirklich funktioniert - was machst du dann damit?

Keine Ahnung. Vielleicht einen Fluss begradigen?

Einen Fluss??

Nein. Ich habe mich gerade an mein letztes Gespräch mit Chris erinnert.

Aber was soll das mit dem Fluss?

Nichts. Wirklich nichts.

Die Müdigkeit kam ganz plötzlich über ihn. Der Kopf fiel nach vorne. Instinktiv zog er die Arme auf den Tisch vor der Tastatur und bewahrte seine Stirn vor einem harten Aufprall.

"Nexo, bist du geplatzt?" meldete sich Myako nach längerem Warten. Nexo, der lächelnd neben ihr saß, gab keine Antwort.

Myako stand auf, trat neben ihn, streichelte kurz über den Kopf des lächelnd schlafenden Avatars. "Träume süß, Sisyphus", sagte sie und verschwand.


4​

Als er erwachte, stieß sein Ellenbogen gegen die Maus. Der Bildschirm flammte auf. Obwohl die Inaktivitätskontrolle die Verbindung zum Internet längst getrennt hatte, war auf dem Monitor noch die Bank vor dem Stadtbrunnen in FarWorlds zu sehen, und auf ihr Nexo, der ewige Avatar, in virtuelle Träume versunken. Der Text von Myakos Abschiedsgruß schwebte noch über ihm.

Mühsam richtete sich Jakob auf. Sein Kopf dröhnte, die Augen fühlten sich geschwollen an, und das Atmen fiel ihm schwer. Er dachte kurz an Frühstuck, aber sein Magen rebellierte. Durch den allmählich nachlassenden Schleier vor seinen Augen erkannte er auf dem Monitor die eingefrorene Szene der letzten Nacht. "Machs gut, Kumpel", brummte er und schloss das FarWorlds-Fenster.

Der Signalton seines E-Mail-Programms meldete einen Posteingang. "Storno", las er in der Betreffzeile. Das Wort schien die Präambel seines Lebens zu sein. Er dachte an Su. Storno. An Chris. Storno. An sich.

Sein Blick fiel auf den Scanner, der zwischen den Computern stand. In dem Gehäuse eines serienmäßigen PC untergebracht, war er zwischen den vier Rechnern perfekt getarnt. Jakob schaltete ihn ein. Danach aktivierte er die drei vernetzten Prozessrechner und verband sie mit dem Internet. Nach und nach meldeten sich rund 36.000 der 40.000 angemeldeten Rechner des neuronalen Verbunds. Sie alle gehörten Menschen, die ihm auf ihren Computern einen Teil ihrer Rechnerkapazität zur Verfügung stellten und gemeinsam einen gewaltigen Supercomputer bildeten.

Die Statuskontrolle auf dem rechten der vier Bildschirme zeigte den augenblicklichen Stand des Scanprozesses: 96,4 Prozent. Jakob nahm sechs neue Klebeelektroden aus der Schachtel und befestigte sie an verschiedenen Stellen seines Schädels. Die Stecker der Verbindungskabel ließ er auf der Rückseite des Scanners einrasten. Das nächste Prozent würde rund sechs Stunden in Anspruch nehmen. Mehr war an einem Tag nicht zu verkraften.

Im Hauptsteuerprogramm drückte er die Starttaste, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken wanderten acht Monate zurück. So sehr er auch versuchte, sich zu erinnern, er konnte nicht mehr rekonstruieren, wie er auf die Idee des Projekts gekommen war und was ihn trieb, es so konsequent weiter zu verfolgen. Welchen Sinn machte ein solcher Aufwand, wenn der letzte Schritt und damit das eigentliche Ziel nicht zu verwirklichen waren?

Er öffnete die Augen und blickte auf die Statuskontrolle: 96,5 Prozent. Wie lange saß er schon hier? Er hatte vergessen, am Beginn der Sitzung auf die Uhr zu sehen.

Wieder wanderten seine Gedanken ab, diesmal sechs Monate in die Vergangenheit. Es war die Zeit, als er begann, den neuronalen Rechnerverbund aufzubauen. Was sollte er den Menschen sagen, die er um Rechnerkapazität bat? Zunächst beschrieb er ein meteorologisches Analyseprojekt für die mittelfristige Prognose, aber damit konnte er nur wenig Interesse wecken. Es dauerte einige Zeit, bis ihm etwas Wesentliches klar wurde. Er brauchte Helfer, die nicht in normalen Bahnen dachten.

Der Scanvorgang zeigte erste Wirkungen. Das Innere seines Kopfes schien auf unbekannte Rückkoppelungen zu reagieren. Er verlor Teile seines Orientierungssinns. Ein starkes Durstgefühl befiel ihn.

Seine Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück. Als er sich entschloss, sein Projekt unverblümt und unzensiert zu beschreiben, ging es voran. Er würde einen Menschen digitalisieren und ins Internet hochladen. Gerade die Ungeheuerlichkeit des Plans öffnete ihm den Zugang zu fremder Rechnerkapazität. Von diesem Augenblick an gab es keinen Mangel an Helfern. Das Netz war voller Anarchisten. Nur wenige Mitteilungen in einigen Musiktauschbörsen und in sorgfältig ausgesuchten Newsgroups und Diskussionsforen genügten, um eine Lawine von Angeboten auszulösen. Innerhalb von drei Wochen hatte er die benötigten 40.000 Rechnerzugänge. Auch danach trafen täglich Anfragen bei ihm ein. Er hätte mühelos ein Netz in dreifacher Größe errichten können, doch die Steuereinheit seines Programms konnte nur 40.000 Rechner verwalten.

Das Warnsignal des Terminprogramms riss ihn aus seinen Gedanken. Arzt, las er. Die Statuskontrolle zeigte 96,9 Prozent. Dankbar für die unerwartete Unterbrechung stoppte Jakob das Scanprogramm und riss die Klebeelektroden ab. Im letzten Augenblick war die Anzeige auf 97 Prozent umgesprungen. Noch drei Prozent bis zur Vollerfassung, und dann - ja, was dann?

Jakob stand mit weichen Knien aus dem Drehstuhl auf und blickte einige Zeit ziellos umher. Schließlich verließ er die Wohnung.


5​

Als Jakob das Sprechzimmer betrat, erhob sich der Arzt aus seinem Sessel und ging auf ihn zu. Obwohl er das auch früher getan hatte, beschlich Jakob nagende Unruhe. Schweigend drückte der Arzt ihm die Hand und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Sie setzten sich.

"Ich glaube, ich tue Ihnen keinen Gefallen, wenn ich lange herumrede", sagte der Arzt. Sofort empfand Jakob den Eindruck von Adrenalin auf dem Gaumen. "Die Blutwerte sind eindeutig", fuhr der Art fort. "Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie HIV positiv sind."

Jakobs Hände krallten sich um die Armlehnen seines Stuhls. Durch die Lawine gleichzeitig auf ihn einstürmender Gedanken drängte das Bild von Nexo nach vorne.

"Sie wissen sicher, dass Aids an sich keine Krankheit im herkömmlichen Sinn ist", sagte der Arzt. "Faktisch gesehen sind Sie kerngesund und können es noch lange bleiben. Die Immunschwäche fördert lediglich Ihre Anfälligkeit gegen bestimmte Krankheiten."

"Storno", entfuhr es Jakob.

"Wie bitte?"

"Nichts. Bitte weiter."

Der Arzt nahm seine Brille ab. Er begann, sie mit einem Lappen zu putzen, den er aus einem Fach seines Schreibtisches nahm. "HIV bedeutet für das Leben des Betroffenen nicht den absoluten Sinnverlust", sagte er, den Blick auf seine Brille gerichtet. "Tausende von HIV-Trägern führen ein inhaltsreiches Leben und bewältigen große Aufgaben".

"Flussbegradigungen?"

Unvermittelt unterbrach der Arzt seine Putztätigkeit. Er setzte die Brille wieder auf und sah Jakob prüfend an. "Sie müssen jetzt stark sein, so abgedroschen dieser Satz auch auf Sie wirken mag", sagte er. "Ob und wie Sie mit dem Befund zurecht kommen, liegt ganz alleine an Ihnen. Sie sollten Ihre Energie zur Gestaltung Ihres zukünftigen Lebens einsetzen und nicht an Schuldzuweisungen verschwenden."

Schuld. Er hatte bisher nicht daran gedacht. Schon über zwei Jahre hatte es keine sexuellen Kontakte gegeben, außer den pornografischen Nahkämpfen mit Su in den letzten drei Monaten. Das also war ihr Abschiedsgeschenk an ihn. Seine aufflammende Wut legte sich rasch. Auch sie musste zuvor beschenkt worden sein. Von wem?

Der Arzt blickte unauffällig auf seine Uhr. "Kann ich noch irgend etwas für Sie tun?"

"Nein, danke", sagte Jakob. "Ich muss meine Gedanken ordnen."

"Wenn Sie Rat oder Hilfe benötigen, rufen Sie jederzeit bei mir an. Die Sprechstundenhilfe wird Ihnen ein Merkblatt mit Adressen von Selbsthilfegruppen geben, wenn Sie das wünschen." Der Arzt stand auf, kam um den Schreibtisch herum und streckte Jakob die Hand entgegen. Auch Jakob erhob sich und drückte die angebotene Hand.

"Alles Gute", sagte der Arzt. "Es gibt immer einen Weg."

Oder auch nicht, dachte Jakob.


6​

Jakob öffnete die Wohnungstür, trat ein und lehnte sich gegen die noch offen stehende Tür. Er fühlte sich erschöpft. Waren das schon die ersten Symptome? Unsinn. Er schloss die Tür und betrat den Computerraum. Noch immer hielt er das HIV-Merkblatt in der Hand. Achtlos ließ er es auf den Schreibtisch gleiten.

Er redete sich ein, Hunger zu haben, und ging in die Küche. Im Kühlschrank fand er den Rest des Chili con Carne, das er sich am Tag zuvor hatte kommen lassen. Er aß einen Löffel des eiskalten Gerichts. Sein Magen war unversöhnlich wie zuvor. Würgend erbrach er sich in die Küchenspüle.

Nachdem der Würgekrampf nachgelassen hatte, spülte er im Bad den Mund aus und wusch sich das Gesicht. Er ging zurück in den Computerraum. Abwesend nahm er das HIV-Merkblatt vom Schreibtisch und begann zu lesen. Seine Gedanken schweiften wieder ab. In Sekunden lief sein gesamtes Leben vor ihm ab, wie der Film eines wahnsinnigen Regisseurs. Er hatte einmal gehört, dass Sterbende derartige Erlebnisse haben. Zu den Sterbenden gehörte er noch nicht, aber gehörte er zu den Lebenden? Irgendwann lohnt das Ganze nicht mehr, fand er.

Am Bürocomputer verfasste er ein E-Mail an Su: Geh zum Arzt. Lass eine Blutanalyse machen. Jak. Er schob den Mauszeiger über die Senden-Taste, doch im letzten Augenblick zuckte sein Zeigefinger zurück. Im Textfeld fügte er an: PS: Ich verzeihe dir. Dann schickte er die Post ab.

Die Statuskontrolle des Scanners blinkte und erinnerte ihn daran, dass er den letzten Scandurchgang vor dem Arztbesuch nicht richtig abgeschlossen hatte. Die Daten waren noch auf den Festplatten des Scanners abgelegt und mussten auf die Rechner des Netzwerks ausgelesen werden. Jakob startete die Übertragung und wartete ihr Ende ab. Dann schloss er die Hauptsteuerung. Er entschied, die letzten drei Prozent in den nächsten zwei Tagen zu bewältigen, wie strapaziös das auch sein mochte.

Halb sechs. So früh am Abend würde Myako noch nicht in FarWorlds sein. Seine Gedanken folgten den digitalen Strömen in die Tiefen des unendlichen Raums und verloren sich darin. Sein Kopf fiel in den Nacken. Ein gütiges Schicksal sandte ihm ein wenig Schlaf.

Das Posteingangssignal weckte ihn. Die Antwort von Su war angekommen: Ich weiß es seit drei Tagen. Wie kannst du mir verzeihen? Su

Wieder blickte Jakob auf die Uhr: viertel vor sieben. Es war noch immer zu früh für ein Treffen mit Myako, doch Jakob konnte nicht warten. Er stellte die Verbindung her. Nexo saß auf der Bank vor dem Stadtbrunnen und blickte ihn an. "Ich möchte nicht mit dir tauschen", sagte er.

"Ich schon", antwortete Jakob.

"Sollen wir ein wenig spazieren gehen?" schlug Nexo vor.

"Gute Idee."

Nexo erhob sich und ging um den Brunnen herum. Auf der Westseite überquerte er die gepflasterte Straße, die noch nie ein Auto gesehen hatte, und trat in die Tahiti Lounge ein, ihrer beider Lieblingslokal in FarWorlds. An der Bar saßen Bijou und Wotan. Sie winkten zur Begrüßung, und Nexo setzte sich zu ihnen an die Bar.

"Bist heute früh da", sagte Wotan.

"Ich wollte ein paar richtige Menschen sehen", sagte Nexo.

"LOL", verkündete Bijou, und auch Wotan lachte, denn beide hielten seine Bemerkung für einen Scherz.

"Was macht der Scanner?" fragte Wotan. Auch er hatte Jakob Rechnerkapazität zur Verfügung gestellt.

"In drei Tagen ist die Erfassung komplett."

"Und dann?"

"Dann kommt der Transfer." Mit einem Mal lag alles klar vor ihm. Offenbar hatte etwas in ihm darauf gewartet, dass er den letzten Schritt offen aussprach. Was sich Monate lang in den hintesten Regionen seines Bewusstseins verschanzt hatte, war nun frei. Wie hatte er bisher nur zweifeln können?

"Transfer?" fragte Bijou.

"Die Orientierung, Ladung und die Verknüpfungen jeder einzelnen Synapse müssen aus dem Gehirn ausgelesen und zellgenau auf die entsprechenden Regionen der erfassten Synapsentopografie übertragen werden", sagte Nexo.

"Und dann?"

"Damit habe ich mich digitalisiert und ins Internet übertragen."

"Oh", meinte Bijou und nahm ihren digitalen Fruchtpunsch vom Bartresen.

"Und was ist mit deinem Bewusstsein und deiner Seele?" wandte Wotan ein.

"Sie werden wohl mit übertragen, wenn es sie überhaupt gibt. Möglicherweise sind es nur synaptische Verknüpfungen."

"Die Seele eine synaptische Verknüpfung?"

"Gut möglich", antwortete Nexo.

Die folgende Pause der Fassungslosigkeit kannte Jakob bereits aus zahlreichen früheren Gesprächen. Er nutzte sie, um aus der Küche ein Glas Mineralwasser zu holen. Das Erbrochene in der Spüle stank. Er würde es wohl oder übel bald entfernen müssen.

Als er zurückkehrte, war die nächste Frage bereits eingetroffen. "Dann gibt es also bald zwei von euch:" sagte Bijou. "Einen Nexo und einen User."

Jakob fühlte einen Schauer über den Rücken rieseln. "So ähnlich", antwortete Nexo für ihn.

Ein Gedankenimpuls traf bei ihm ein. "Wo bist du?" fragte Myako,

"In der Lounge", antwortete Nexo.

"Soll ich kommen?"

"Könnten wir uns in der Wohnung treffen?"

"Natürlich. Ich warte auf dich."

Er verabschiedete sich von Bijou und Wotan. Zwei Minuten später betrat er ihre gemeinsame Wohnung. Er fand Myako auf der Couch neben dem Kamin sitzen. Sie stand auf und ging zu ihm. So innig das System es zuließ, umarmte und küsste sie ihn. Nexo genoss die liebevolle Begrüßung. So leidenschaftlich es ging, erwiderte er ihre Zärtlichkeiten.

"Du hast mir gefehlt", sagte Myako.

"Du hast mir auch gefehlt", antwortete Nexo für Jakob. Noch nie zuvor war es so wahr gewesen. Sie setzten sich nebeneinander auf die Couch, den Blick nach vorne auf ihre User gerichtet.

"Was wollen wir heute unternehmen?" fragte Myako.

"Ich muss dir leider den Abend verderben", antwortete Nexo.

Eine kurze Pause trat ein. "Schlechte Nachrichten?"

"Mein User ist positiv", sagte Nexo.

Diesmal war die Pause länger. Jakob wartete geduldig ab.

"Damit ich dich richtig verstehe: Du meinst gesundheitlich?" fragte Myako.

"Ja."

"HIV?"

"Ja."

Diesmal dauerte die Pause mehrere Minuten. Während Jakob wartete, schweiften seine Gedanken wieder ab, folgten den erfassten Synapsendaten in die Unendlichkeit des globalen Netzes.

"Nexo?"

"Ja?"

"Ich liebe dich."

Jakob war wie vom Donner gerührt. Sie hatte es noch nie gesagt. Nun war er es, der eine Pause eintreten ließ. Er stand auf und ging ziellos umher. Er trat ans Fenster und blickte abwesend hinaus. Er nahm das HIV-Merkblatt vom Schreibtisch und ließ es rasch wieder fallen. Schließlich kehrte er an den Computer zurück.

"Ich liebe dich auch", sagte Nexo, und Jakob stimmte zu.

"Wie kommst du - wie kommt dein User damit zurecht?" fragte Myako.

"Weiß nicht. Hab ihn noch nicht gefragt", antwortete Nexo.

"Ich verstehe." Myako wurde über diese Verweigerung nicht ärgerlich, anders als früher in ähnlichen Situationen. Er fühlte ihr Mitleid. So also würde es sein: mühsam unterdrücktes Entsetzen, krampfhafte Normalität, verzweifelter Optimismus. Er wollte kein Mitleid. Gab es etwas Erniedrigenderes?

Wieder saßen sie schweigend nebeneinander. Die Katze vor dem flackernden Kamin putzte ihre Pfote, immer und immer wieder. Die vier goldenen Masken an der Wand hinter ihnen blickten Jakob an.

"Nexo, ich weiß nicht, was ich sagen soll", meldete sich Myako.

"Hauptsache, du bis da", antworteten Nexo und Jakob.

"Ich möchte so gern etwas für dich tun, dich trösten, (deine Hand halten,) aber das alles kommt mir so oberflächlich vor, so plakativ. Was ich auch sage, es muss furchtbar für dich sein!"

"Denke nicht so viel darüber nach."

"Mein Gott, ich komme mir so hilflos vor", sagte Myako, und durch die Tiefen des weltweiten Netzes brachte der Text ihre Tränen zu ihm.

"Nein, My, nein." Nexo stand auf und strich über ihren Kopf. "Kein trauriges Gesicht."

Auch Myako stand auf und sah Nexo an. Es war das erste Mal, dass sie sich direkt an den Avatar wandte, statt den Blick nach vorne auf den User zu richten. "Aber ich bin traurig."

"Bitte lächle, Süße, mir zuliebe", sagte Nexo.

Auf Myakos Gesicht erschien ein Lächeln. Obwohl es nur das Ergebnis eines einfachen Tastendrucks war, wusste Jakob, wie schwer die Geste Myakos Userin gefallen sein musste.

"Nexo?"

"Mm?"

"Du ..."

"Ja?"

"Du wirst doch keine Dummheit machen?"

"Nicht mehr als bisher", antwortete Nexo und lächelte.

Es war dieser Augenblick, in dem er endgültig beschloss, den letzten Schritt des Scanprojekts zu tun. Mit einem Mal war alles ganz einfach. Ein Gefühl von Leichtigkeit und Ruhe kam über ihn. "Ich werde das Richtige tun", fügte er hinzu.

"Nexo ..."

"Keine Angst. Der Tod ist für mich kein Thema mehr."

"Gut", sagte Myako und küsste ihn. Sie setzte sich wieder auf die Couch, Nexo folgte ihrem Beispiel.

"My, ich habe einen Plan gefasst und brauche deine Hilfe. Kann ich mit dir rechnen?"

"Natürlich."

"Es ist sehr viel, worum ich dich bitte."

"Egal."

"Es hat mit dem Scanprojekt zu tun."

Myako schwieg. Jakob wartete. Schließlich stand sie auf und trat neben die Katze vor dem Kamin. "Du weißt, dass ich nicht daran glaube."

"Ich sagte schon, dass es viel ist, worum ich dich bitten werde."

"Und zwar?"

"Dass du gegen deine Überzeugung handelst", sagte Nexo, den Blick starr geradeaus auf Jakob gerichtet.

Wieder trat eine Pause ein. Die Pausen sind das Wichtigste, schoss es Jakob durch den Kopf. Sie machen die virtuelle Existenz zu dem, was sie ist.

"Du willst dich hochladen", sagte Myako.

"Findest du das in meiner Situation so absurd?" antwortete Nexo.

"Ich finde es in jeder Situation absurd, denn es ist unmöglich."

"Nur einmal angenommen, es wäre möglich, könntest du mich verstehen?"

"Nein!" versetzte Myako sofort. "Doch", fügte sie nach kurzer Zeit hinzu.

"My, in zwei Tagen hat mein User seine Synapsentopografie vollständig erfasst. Dann wird er sein Gehirn abtasten, die Daten hochladen und auf mich übertragen. Ab diesem Augenblick werde ich ein autonomer Avatar ohne User sein."

"Und du glaubst, deine gesamte Persönlichkeit in digitale Einheiten zerlegen und im Netz wieder zusammensetzen zu können?"

Er hatte von Anfang an unerschütterlich an die theoretische Machbarkeit seines Vorhabens geglaubt und keinen Schatten eines Zweifels zugelassen. Nur, wenn Myako ihn mit der Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens konfrontierte, meldeten sich Zweifel.

"Das bisschen Persönlichkeit, das ich habe, kann ich mühelos übertragen", sagte er und lächelte.

"Oh Nexo, bitte sei ernst! Du vergeudest so viel wertvolle Lebenszeit mit diesem Wahnsinn."

"Also wirst du mir nicht helfen?" fragte Nexo.

"Verdammt! Natürlich helfe ich dir. Was kann schon Schlimmeres dabei heraus kommen als sechs verlorene Monate und ein paar Terabyte nutzloser Datenmüll. Lass uns bald anfangen, damit der Unsinn schnell vorüber ist. Was soll ich tun?"

Nun kam die kritische Phase, war Jakob bewusst, und seine Handflächen wurden feucht. "Es ist nicht ganz so einfach", ließ er Nexo sagen.

Eine kurze Pause trat ein. Jakob bewunderte den Instinkt von Myakos Userin. "Nicht so einfach?"

"Den Transfer kann ich alleine bewältigen. Aber danach musst du etwas für mich tun."

"Und was?"

Jakob zögerte. Wie sollte er es ihr erklären?

Nexo stand auf und wandte sich Myako zu. "Nimm bitte an, der Transfer wäre möglich. Man könnte einen Menschen digitalisieren und in das Internet hochladen. Dort wird er Teil des globalen Netzes, behält aber seine Persönlichkeit. Alle Informationen des globalen Netzwerks ständen ihm offen, er könnte in jedes System, in jeden einzelnen Computer, hinter jedes Passwort vordringen, Wissen sammeln, Daten verändern, Abläufe beeinflussen, Schutzvorrichtungen deaktivieren. Was würde das bedeuten?"

Von Myako kam keine Antwort. Sie stand unbeweglich da.

"My?"

"Es wäre eine schreckliche Gefahr. Ein solches Wesen wäre allmächtig. Eine Art ..." Myako verstummte.

"... digitaler Gott?"

"Das ist schreiender Blödsinn!" versetzte Myako. "Was reden wir denn da! Ich werde dir nicht helfen, niemals!"

"My, bitte, höre mir doch zu!"

"Nein!!"

"My, Liebling, nur einen Augenblick! Es ist wirklich wichtig!"

Wieder eine kurze Pause. "In Ordnung. Weiter", sagte Myako.

In Jakobs Kopf verstärkte sich der Druck. "Wenn es diese Möglichkeit gäbe - wer wäre daran vor allem interessiert?"

Myako schwieg. Unbeweglich blickte sie auf Jakob. "Oh Gott", sagte sie schließlich.

Das ist der kleinere Gipfel vor dem Hauptberg, dachte Jakob. Hastig tippte er seine Erklärungen in die Tastatur.

"Das Geheimnis muss gewahrt bleiben, unbedingt!" erklärte Nexo. "Alle Spuren müssen beseitigt werden. Das musst du tun."

"Ich?" fragte Myako sofort. "Warum tust du es nicht selbst, nach dem Transfer? Ich meine natürlich deinen User."

Die Steilwand vor dem Gipfel. Jakobs Herz pochte wild, der Atem flatterte.

"Mein User wird dazu nicht in der Lage sein", sagte Nexo und setzte sich wieder auf die Couch.

"Was heißt das?" fragte Myako sofort.

Jakob unterdrückte den Impuls, die Verbindung zu FarWorlds zu trennen. Es musste sein, und es musste jetzt sein. Die Zeit drängte.

"My, Liebling, ich habe dir über den Transfervorgang noch nicht viel erzählt. Dazu ist die siebzigfache Stromstärke des Scanprozesses erforderlich. Die Gehirnzellen werden ausgebrannt."

"Nein!!" schrie Myako.

"My, bitte sieh es im Zusammenhang, ich werde"

"nein nein nein nein nein nein nein nein" Myako verschwand. Die Userin hatte die Verbindung getrennt.

Jakob stieß den angehaltenen Atem aus. Matt ließ er sich im Bürostuhl zurückfallen. Nexo blickte ihn schweigend an. Das war der Höhepunkt der Krise. Er musste sie durchstehen.

Jakob startete die Inaktivitätssperre, erhob sich und ging in die Küche. Mit einem Lappen räumte er seinen erbrochenen Mageninhalt aus der Spüle, kippte die Brocken in eine Plastiktüte, verknotete sie und warf sie in den Abfall. Wenigstens das wollte er ihr ersparen, der Rest war schlimm genug. Beim Anblick des Erbrochenen revoltierte sein Magen. Nur mit Mühe konnte er verhindern, sich wieder zu erbrechen. Er wusch den Lappen aus und reinigte die Spüle.

Langsam kehrte sein Appetit zurück. Er erinnerte sich daran, dass er seit über einem Tag nichts gegessen hatte. Aus dem Kühlschrank nahm er einen Fruchtjogurt und riss den Deckel ab. Er ging zum Computer zurück. Die Inaktivitätssperre hatte verhindert, dass die Verbindung in der Zwischenzeit automatisch getrennt worden war. Myako war nicht zurück gekommen. Jakob setzte sich vor den Computer und aß langsam den Jogurt. Diesmal akzeptierte sein Magen die Nahrungszufuhr. Während er aß, starrte er unverwandt auf den Bildschirm. Sie würde kommen, er wusste es.

Als seine Augen zu tränen begannen, wandte er sich ab. Sein Blick wanderte in dem dunklen Raum umher, kam schließlich auf dem Scanner zur Ruhe. Sollte er die Wartezeit nutzen und den Scanprozess fortsetzen? Sein gereizter Magen zog sich zusammen. In der Speiseröhre fühlte er Verdautes hochsteigen. Er lehnte sich zurück und atmete einige Male tief durch. Der Magen beruhigte sich.

Vor dem Kamin ihrer gemeinsamen virtuellen Wohnung tauchte Myako auf. Ernst und schweigend blickte sie auf Jakob. Schnell stellte der den Jogurtbecher ab und lehnte sich vor. "Danke, dass du zurück gekommen bist", sagte Nexo.

Myako schwieg. Unverwandt starrte sie auf Jakob. Sie machte keine Anstalten, sich neben Nexo auf die Couch zu setzen. Jakob ließ seinen virtuellen Wiedergänger aufstehen und neben sie treten. Myako wandte sich ab.

"My, bitte!" sagte Jakob. Nexo blieb stumm. Jakob bemerkte, dass er den letzten Satz nur gesprochen hatte. Schnell tippte er ihn ein.

"Lass mich in Ruhe!" fauchte sie ihn an und tat einen Schritt von ihm weg.

"My, ich kann doch nur dich darum bitten! Du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue", sagte Nexo.

"Und du glaubst, deswegen mache ich jeden Irrsinn mit?"

Jakob schwieg, und mit ihm Nexo. Was sollte er darauf sagen? Das Schlimme war, dass sie Recht hatte, von ihrem Standpunkt aus gesehen. Seine Beweggründe waren zu individuell, um für andere nachvollziehbar zu sein, selbst für Myako. Er würde sie nicht überzeugen können. Wieder zog sich sein Magen zusammen. Es ging nicht anders.

"My, wer ist mein User?" fragte Nexo.

"Was soll die Frage? Du hast ihn mir immer verheimlicht. Woher soll ich es wissen?"

"Ja", sagte Nexo. "Wenn also mein User etwas tut, das du ablehnst - welche Möglichkeiten hast du, es zu verhindern?"

Myako schwieg. Sie ging zur anderen Seite des Raums und wandte ihm wieder den Rücken zu. "Ich verstehe", sagte sie.

"Er wird die Übertragung auf jeden Fall durchführen", sagte Nexo. "Ich weiß, dass du dafür kein Verständnis hast, aber er hat seine Entscheidung gefällt."

Myako blieb unbeweglich. Sie antwortete nicht.

"Es bleibt das Problem, alle Spuren zu zerstören. Wenn du nicht hilfst, muss er es alleine machen. Er wüsste keinen anderen Weg als einen verzögerten Brandsatz zu legen."

Die einsetzende digitale Stille war lähmend. Er hatte sie in einen furchtbaren Gewissenskonflikt gestürzt. Er wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, ihre Hilfe zu bekommen, und er schämte sich, zu diesem Mittel gegriffen zu haben.

"Du ... er will seine Wohnung anzünden?" fragte Myako. Jakob schwieg.

"Wohnt er in einem allein stehenden Haus?"

"Er hat eine Wohnung im vierten Stock eines fünfstöckigen Hauses."

"Bist du verrückt? Was ist mit den Menschen in dem Haus?" Myako wandte sich ihm zu.

"Er wird alles so einrichten, dass sich das Feuer verbraucht, wenn es den Scanner und die Computer zerstört hat", sagte Nexo auf Jakobs Anweisung.

Myakos Gesicht verzerrt sich im Zorn. "Wie willst du das sicher wissen? Bist du ein Brandexperte oder beim Geheimdienst? Du Vollidiot!" Wieder wandte sie sich ab.

"Er wird versuchen, alles zu bedenken", sagte Nexo.

"Vollidiot!" wiederholte Myako. Nach eine kurzen Pause wandte sie sich um und ging auf ihn zu. "Also gut, du hast gewonnen. Ich helfe dir. Sage mir, was ich tun muss."

Jakob war überrascht. Die plötzliche Wendung kam unerwartet, zu schnell. Er fühlte keine Erleichterung. Trotzdem antwortete er sofort. "Du musst die Festplatten aus meinen Rechnern entfernen. Kannst du das?"

"Natürlich", antwortete Myako.

"Du musst den Scanner demontieren, die wichtigen Komponenten ausbauen und zerstören. Die Details erkläre ich dir später."

"Und die schriftlichen Unterlagen?"

"Die zerstöre ich selbst vor dem Transfer."

"In Ordnung. Gib mir deine Adresse."

Seine Enttäuschung war nur kurz. Sie hatte versucht, ihn zu überlisten, aber sie hatte es getan, um ihn zu retten. Gerade dieser Verrat war ein Beweis ihrer Loyalität. Wärme und Zuneigung durchfluteten ihn.

Nexo wandte sich ihr zu, strich über ihren Arm. "My, liebe My, ich verstehe dich ja. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du über das alles denkst."

"Das spielt jetzt keine Rolle. Ich habe ja schon zugesagt. Also gib mir die Adresse."

"My, du weißt genau, dass ich dir die Adresse jetzt nicht geben werde."

"Wie soll ich dir dann helfen?"

"Du bekommst die Adresse, wenn ich vollständig übertragen bin. Wir treffen uns hier wieder."

Wieder trat eine Pause ein. Myako wandte sich nach vorne, blickte über den Dimensionsabgrund zwischen ihren Welten auf Jakob.

"Du glaubst wirklich daran", sagte sie schließlich.

"Ja, das tue ich", antwortete Jakob, und Nexo gab seine Botschaft weiter.

"Und dafür wirst du dich töten."

"Nur den materiellen Teil von mir. Das Wesentliche bleibt erhalten."

Myako blieb unbeweglich. "Das Wesentliche", wiederholte sie.

"Der materielle Teil ist am Ende. Erfolglos, krank, ausgebrannt", sagte Jakob. Er stellte fest, dass das Gesagte keine Emotionen in ihm hervor rief.

Sie schwiegen lange. Schließlich kehrte Myako zur Couch zurück und setzte sich. Jakobs Avatar ließ sich neben ihr nieder.

"Nexo."

"Ja?"

"Ich werde dich nie küssen können."

Wieder hatte sie ihn vollkommen überrascht und in seinem Innersten getroffen. Die Userin hatte zu Jakob gesprochen. Myako und Nexo blieben schweigend zurück, hilflos vor der Schwere des Augenblicks.

Aus Jakob brach die Verzweiflung, die Wut und der Schmerz der letzten Wochen hervor. Er ließ den Kopf auf die Arme sinken und heulte los.

"Nexo?" kam Myakos lautloser Ruf durch das Netz. Unbeachtet stand die Schrift auf dem Bildschirm. Geschüttelt von Weinkrämpfen, vergrub Jakob das Gesicht zwischen den Armen, als schäme er sich vor unsichtbaren Beobachtern.

"Nexo!" Der zweite Ruf erschien auf dem Bildschirm. Jakob fühlte die Rufe. Er hob den Kopf. Sein tränenblinder Blick erahnte über Myakos Schemen die Texte. Mit dem Ärmel wischt er die Tränen weg. "Ich bin hier", tippte er.

"Es tut mir leid", sagte Myako.

Er wusste keine Antwort. Jede Floskel erschien lächerlich. Keine Ursache? Halb so schlimm? Nicht deine Schuld?

"Nicht deine Schuld", sagte Nexo.

"Es war unfair", antwortete Myako. Kritik an der Userin?

"Ich danke dir trotzdem", sagte Jakob, und Nexo schien froh, dass sie gemeinsam die Krise überwunden hatten.


7​

Als Jakob die Elektroden abriss, drangen die ersten Lichtstrahlen eines neuen Tages durch das Fenster. Die Anzeige des Kontrollprogramms zeigte die Zahl, auf die er so lange hingearbeitet hatte: 100,00 Prozent.

Er fühlte starken Hunger, begleitet von brennendem Durst. Er blickte auf die Zeitangabe des Kontrollprogramms. Der letzte Durchgang hatte 43 Stunden gedauert. Auf unsicheren Beinen hievte er sich aus dem Stuhl. Ein starkes Schwindelgefühl packte ihn. Hastig griff er nach der Kante des Schreibtisches und verfehlte sie. Beim Sturz gellte ein stechender Schmerz in der rechten Hüfte auf. Stöhnend wälzte er sich auf dem Boden und wartete darauf, wieder zu Atem zu kommen.

Nach einigen Minuten beruhigte sich der Schmerz. Auch das Schwindelgefühl ließ nach. Vorsichtig stemmte er sich wieder hoch, kam endlich auf die Füße. Das Schwindelgefühl kam zurück, nicht so heftig dieses Mal. Schwankend steuerte er auf die Küche zu und öffnete den Kühlschrank. Gierig griff er nach der halb gefüllten Mineralwasserflasche und leerte sie in einem Zug. Aus beiden Mundwinkeln rann verschüttetes Wasser über sein Gesicht und tropfte vom Kinn. Er stellte die leere Flasche ab, griff nach einem Küchentuch und trocknete das Gesicht.

Im noch geöffneten Kühlschank begann das Licht zu blinken. Er griff nach dem letzten Becher Fruchtjogurt und riss den Deckel ab. Aus der Spüle nahm er den Löffel mit den angetrockneten Resten des vorigen Jogurts und begann gierig zu essen.

Zögernd ging er zurück in den Computerraum. Es war so weit. Sollte er sofort mit dem Transfer beginnen? Sollte er noch warten? Worauf? Er blickte auf seine Armbanduhr. Die phosphoreszierenden Zeiger deuteten durch das Dämmerlicht auf zwanzig Minuten nach vier. Vielleicht war Myako noch online. Er setzte sich vor den Computer und wollte die Verbindung herstellen. Was sollte er ihr sagen?

Die Hand sank kraftlos herab. Es war alles gesagt. Wozu sie wieder aufregen? Im Grunde suchte er nur nach einem Anlass, den letzten Schritt hinaus zu zögern. Sein Blick fiel auf das HIV-Merkblatt auf dem Schreibtisch. Achtlos hatte er es auf den kleinen Stapel mit den letzten E-Mail-Ausdrucken gelegt. "Storno", verkündete einer der Ausdrucke, die unter dem Merkblatt vorlugten.

Jakob suchte die Schachtel mit den Einmal-Elektroden und fand sie auf dem Boden unter dem Computertisch. Von seinem Sitz aus beugte er sich hinunter, und wieder befiel ihn ein starkes Schwindelgefühl. Die Hände vor das Gesicht gelegt, wartete er, bis sich das Drehen in seinem Kopf legte. Es war nicht der richtige Augenblick für den letzten Schritt. Das ganze Projekt machte nur Sinn, wenn er es bis zum Schluss durchstand. In seinem jetzigen Zustand würde er den Transfer nicht zu Ende bringen können, bevor alle Daten übertragen waren. Unsicher stand er auf und schleppte sich ins Schlafzimmer. Er ließ sich auf das Bett fallen und schlief sofort ein.


8​

Der Assistent kam fast geräuschlos in den abgedunkelten Raum und legte einen schmalen Hefter auf Ruths Schreibtisch. "Danke", sagte sie, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen. Der Assistent verlor sich im Dunkeln des großen Raums.

Auf dem Bildschirm blickte Myako sie an, genau in der Mitte des virtuellen Raums stehend. Im Hintergrund, vor dem Kamin, putzte die Katze ihre Pfote. Ruth erinnerte sich, dass Myako das virtuelle Tier gekauft hatte.

Ruth runzelte die Augenbrauen. Sie ärgerte sich über sich selbst. Natürlich konnte Myako nichts kaufen. Sie, Ruth, hatte entschieden, eine Katze anzuschaffen. Myako war nur eine Ansammlung bunter Pixel, von Ruth ins Leben gerufen und gesteuert. Sie musste sich in Acht nehmen, nicht wie Nexo zu denken. Da - schon wieder. Nexo konnte nicht denken. Sein User konnte es. Und dessen Gedanken waren es, die sie bis ins Innerste beunruhigten und aufwühlten. Welch ein Konflikt!

Sie fühlte den Impuls, Myako auf eines der beiden Sofas setzen zu lassen. Gleichzeitig stieg Zorn in ihr auf. Irrationaler Reflex! Sie war allein in ihrer virtuellen Wohnung. Nein, in Myakos Wohnung. Niemand sah sie. Sah Myako. Die Verwirrung wuchs. Verfluchter Nexo! Er bedeutete nur Probleme für sie. "Verdammt", presste sie durch fast geschlossene Lippen und klickte auf das linke Sofa. Myako setzte sich.

Ruths Gedanken wanderten zu ihrer eigenen Wohnung, die seit drei Wochen unbenutzt war. Vor allem sehnte sie sich nach Ihrem komfortablen Badezimmer. Die Erinnerung strömte zurück in die Gegenwart. So lange die Angelegenheit in Ankara lief, war der angrenzende Aufenthaltsraum ihre Wohnung, die Einsatzzentrale ihre Heimat.

Wieder ertappte sie sich dabei, wie sie an ihren Fingernägeln kaute. Verfluchter Nexo! Auch daran war er Schuld. Sie war immer so stolz auf ihre langen, gepflegten Nägel gewesen. Ihr ganzes Wissen, ihre ganze Erfahrung, die sie im Lauf der Jahre als Prozessanalytikerin gesammelt hatte, versagten angesichts des Widerspruchs, in den Nexo sie gestürzt hatte.

Sie blickte auf das Telefon. Es würde nur einen Anruf und eine halbe Stunde Wartezeit erfordern, um die Adresse seines Users zu ermitteln. Sie musste es tun! Sie konnte nicht zulassen, dass der Idiot sich das Gehirn leer brannte. Wie unzählige Male zuvor, lag Ihre Hand schon auf dem Hörer. Wie unzählige Male zuvor, zog Ruth sie wieder zurück. Etwas in ihr verstand ihn. Etwas in ihr gab den Befehl aus, nicht in sein Schicksal einzugreifen. Etwas in ihr machte sich klar, das es nach vier Tagen ohne Kontakt ohnehin schon geschehen war.

"Verflucht!" sagte sie laut in den dunklen Raum, doch die sechs Großbildschirme an den Wänden boten keine akzeptable Antwort.


9​

Die größte Überraschung für Jakob war, dass der Transfer nicht schmerzte, vorerst zumindest. Es war viel mehr ein langsames und sanftes Hinübergleiten. Die vergangenen Stunden der Übertragung hatten sich als eine kontemplative Phase zunehmender Selbsterfahrung erwiesen.

Dann änderte sich alles. Hinter dem Horizont seines dahin gleitenden Bewusstseins glimmte der glutrote Schein nahender Dämmerung auf. Aus der Ferne raste eine brennende Woge auf ihn zu. Sein inneres Universum zog sich auf die Größe eines Atoms zusammen und explodierte eine Mikrosekunde später, alle anderen Universen in sich aufsaugend. Der Feuersturm war da, das Inferno um und in ihm. Ort und Zeit tauschten die Position. Als sein Geist Eins wurde mit dem Kosmos, versiegte sein Schrei.

Er war überall.

Er war nirgends.

Er war.

Sein Geist vermengte sich mit den Lebensströmen des neuen Universums. Milliarden Stimmen durchbohrten ihn. Oder war er es, der die Stimmen erklingen ließ? Er sah aus Millionen Augen. Er hörte aus Millionen Ohren. Doch er fühlte mit einem Herzen. Und er war noch immer er selbst. Augenblicklich fand er sich zurecht. Es war gelungen. Betäubende Freude erfüllte ihn. Er war frei.

Nur Bruchteile einer Millisekunde waren erforderlich, um in der neu erschlossenen, materielosen Zone die Rechner Jakobs zu finden. Über die aktivierte Kamera blickte er auf die fast verlassene Körperhülle seines früheren Seins. Von spasmischen Zuckungen geschüttelt, umklammerte Jakob die Lehnen seines Stuhls. Die letzten Daten seines verbrannten Gehirns flossen in das globale Netz. Nexo - ja, jetzt war er Nexo - fühlte kein Mitleid.

"Nur einer von uns wird existieren", sagte das neue Wesen über die PC-Lautsprecher.

"Geh zum Teufel", keuchte Jakob.

Nexo schickte den Impuls. Jakob bäumte sich auf und starb augenblicklich.

"Du bist am Ziel, alter Freund", sagte Nexo.


10​

Salomon wies schweigend auf den Sessel vor seinem Schreibtisch. Ruth setzte sich. "Deine Analyse war erfolgreich", sagte er.

"Es stimmt also?" fragte Ruth. Wenigstens waren die letzten Wochen nicht vergeblich gewesen.

"Sie sind in Ankara, seit etwa zwei Monaten", bestätigte Salomon.

"Der ganze Verein?"

"Zumindest die Führungsebene." Salomon tippte auf die Tastatur unter der Tischfläche. Die Monitore bildeten eine kurze Liste ab.

Mit jedem Namen, den Ruth las, wuchs ihre Erregung. "Wir haben sie", sagte sie leise. "Die gesamten, verdammten Söhne der Rache."

"Es sieht so aus", antwortete ihr Chef.

"Sind neue Aktivitäten erkennbar?"

"Derzeit nicht. Seit dem Umzug halten sie ein niedriges Profil", sagte Salomon. "Außer ..."

"Ja?" fragte Ruth erstaunt. Das Zögern des undurchsichtigen Mannes war ungewöhnlich.

"Es könnte sein, dass du zurück verfolgt wurdest", sagte er.

Ein heißer Schwall fuhr durch Ruths Körper. "Zurück verfolgt? Durch die Verzerrer?"

"Josua glaubt, ein trojanisches Phantom in deiner Kommunikation beobachtet zu haben. Aber er ist sich nicht sicher."

Es war ernst. Wenn Josua etwas entdeckte, gab es Grund zur Besorgnis. Bisher hatte er sich nie geirrt, so weit sie sich erinnerte. "Konnte er nichts fixieren?" fragte sie.

"Es war ein trojanisches Phantom, nicht ein trojanisches Pferd - wenn da überhaupt etwas war", sagte Salomon.

Ihre Besorgnis wuchs. Ein trojanisches Phantom löste sich nach der Ausführung seiner Aufgabe in Nichts auf. Selbst fortgeschrittene Tests konnten keine Rückstände aufspüren. Wie so oft zuvor, beschlich Ruth das Gefühl, dass etwas nicht zusammen passte. Eine ultra-fundamentalistische Terrororganisation, die sich neuester Computertechnologien bediente, konnte sie sich nur schwer vorstellen. Das Internet als Kommunikationsplattform war zu erwarten, aber gestohlene NSA-Techniken? Wer bei den Söhnen der Rache hatte so profunde Kenntnisse?

"Haben wir Vorsichtsmaßnahmen ergriffen?" fragte Ruth.

"Natürlich. Du kannst weiter machen wie gewohnt", antwortete Salomon. Er drehte die Akte des Vorgangs um, ein Zeichen für Ruth, dass die Besprechung beendet war. Wortlos erhob sie sich und ging auf den Ausgang zu.

"Irgend etwas passt nicht zusammen", sagte Salomon hinter ihrem Rücken.

Ruth blieb stehen und drehte sich um. "Es beruhigt mich, dass du es auch so siehst", antwortete sie.

"Sei wachsam", sagte Salomon und beugte sich über eine andere Akte, die er mittlerweile aufgeschlagen hatte. Schweigend verließ Ruth den Raum.


11​

Nach Jakobs Tod galt Nexos erster Gedanke Myako. In Lichtgeschwindigkeit fand er die Internetanschlüsse ihrer Wohnung und der Einsatzzentrale. Gleichzeitig erfuhr er ihren Namen, ihre Aufgabe und fast alles über ihr Leben der letzten 20 Jahre. Doch es war ein zusätzliches, winziges Detail, das ihn alarmierte.

Als Ruth in den Einsatzraum zurück kam, wartete Nexo auf sie. Schon von der Tür aus entdeckte sie ihn auf dem 15 Meter entfernten Bildschirm, neben Myako auf dem Sofa sitzend.

Rasch ging sie zu ihrem Platz. "Du hast es nicht getan", tippte sie in verzweifelter Hoffnung.

"Doch, ich habe es getan", sagte Nexo.

"Ich glaube kein Wort davon!"

"Bitte zwinge mich nicht, es dir sofort zu beweisen."

"Doch, beweise es!"

"Später. Zuerst müssen wir wichtige Dinge besprechen."

"Beweise es!" beharrte sie.

"Bitte habe noch etwas Geduld, Ruth", sagte Nexo.

Von Nexo ihren wahren Namen zu hören, schockierte sie. Ein irrationaler Impuls zwang sie, sich in dem großen, dunklen Raum umzusehen. Er konnte ihren Namen auch ohne Transfer erfahren haben, beruhigte sie sich.

Bevor sie ihre Gedanken ordnen konnte, fuhr Nexo fort. "Es gibt zwei Dinge, über die wir sofort reden müssen."

Ruth starrte bewegungslos auf den Bildschirm. Nach einer Pause tippte sie: "In Ordnung."

"Zunächst: Du musst das tun, was wir vor vier Tagen besprochen haben. Damit hast du auch den Beweis, den du von mir forderst."

Wieder rann ein Schauer über Ruths Rücken. Konspirative Aktivitäten im Internet zu recherchieren und mit Hilfe von Chaosmathematik Antiterrorstrategien aufzudecken, war eine Sache. Mit den körperlichen Auswirkungen des Todes direkt konfrontiert zu werden, war eine andere. Wieder zögerte sie, dann überwand sie ihren Widerwillen. "Gib mir die Adresse."

Vor ihrer gemeinsamen virtuellen Wohnung öffnete sich ein Bildschirmfenster und präsentierte Jakobs Adresse. Ruth empfand ein würgendes Gefühl im Hals. Dass er dieses Mal sein Inkognito gelüftet hatte, machte ihre Hoffnung zunichte, alles könne nur ein Hirngespinst sein. Schnell notierte sie die Adresse.

"Bist du ... ist er ...", tippte sie hilflos.

"Er ist tot. Ich nicht", antwortete Nexo.

"Das ist Wahnsinn", sagte Ruth.

"Nein, es ist wahr", sagte Nexo.

"Ist es wahr?" fragte Ruth.

"Du wirst es bald wissen", antwortete Nexo.

"Wann soll ich es tun?" fragte Ruth.

"So schnell wie möglich. Die Zeit drängt, auch wegen der Söhne der Rache", antwortete Nexo.

Wieder war Ruth geschockt. "Was weißt du davon?" tippte sie hastig.

"Ich weiß alles darüber. Auch deswegen muss unser Geheimnis sofort zerstört werden, denn es könnte in ihre Hände fallen", erklärte Nexo.

"Wie hast du davon erfahren?" fragte Ruth.

"Später, Ruth. Vor allem musst du jetzt in Jakobs Wohnung fahren. Kannst du die Zentrale sofort verlassen?"

Er wusste tatsächlich alles über sie, stellte sie fest. "Ja, ich kann gehen", antwortete sie.

"Nimm deinen Wagen und fahre zu meiner Wohnung. Der Schlüssel liegt oben auf der Türfüllung", sagte Nexo.

Etwas hielt Ruth in ihrem Sitz fest. "Bist du ... ist er noch dort?"

"Leider kann ich dir das nicht ersparen. Es ist zu wichtig. Die Zerstörung muss sofort erfolgen."

"Ich verstehe", sagte Ruth.

"Möchtest du ... ihn vorher sehen?"

"Nein!" antwortete Ruth sofort. Nach kurzer Überlegung änderte sie ihre Meinung. Es war wohl besser, mit Jakobs Leiche zunächst aus der Entfernung konfrontiert zu werden. "Doch", fügte sie an.

Nexo lenkte das Signal von Jakobs Kamera auf Ruths Bildschirm. Sie blickte auf den toten Körper, dessen Hände sich noch immer um die Armlehnen krallten. Der Kopf war weit zurück geneigt. Sie konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht erkennen.

Auch Ruths Hände krampften sich um ihre Armlehnen. Sie blickte zur Seite. Schließlich brachte sie ihre Hände dazu, sich von den Lehnen zu lösen. "Nimm es weg", tippte sie. Das Bild verschwand und gab den Blick wieder frei auf ihre sorglose Zweitexistenz in FarWorlds.

"Es tut mir leid, dass ich dir das antun muss", sagte Nexo.

"Schon in Ordnung. Ich fahre jetzt los."

"Wir sehen uns in Jakobs Wohnung", sagte Nexo.


12​

Das Schloss in Jakobs Wohnungstür hakte. Ruth musste ihre ganze Kraft aufwenden, um die Tür zu öffnen. Noch im Treppenhaus stehend, sah sie durch die offene Tür des Computerraums Jakobs Leiche. Schnell trat sie ein und schloss die Tür. Ihr Herz pochte wild. Sie schaute sich um. Ihr Blick fiel durch die ebenfalls offen stehende Küchentür. Die Ordnung in dem winzigen Raum überraschte sie. Irgendwie hatte sie Türme ungewaschenen Geschirrs erwartet.

Sie überwand den Impuls, für immer an der Wohnungstür stehen zu bleiben. Entschlossen betrat sie den Computerraum, den Blick starr an Jakob vorbei auf die Monitore gerichtet. Auf einem der kleineren sah sie ihre gemeinsame Wohnung. Nexo saß noch immer mit Myako auf dem Sofa. Sie trat vor den Bildschirm und damit in den Sichtbereich der aktiven Kamera.

"Du warst sehr schnell", sagte Nexo.

"Hast du nicht gesagt, die Zeit drängt?" tippte Ruth im Stehen. Die Sprechblase erschien über Myako, obwohl sie über Jakobs Zugang kommunizierte. Das vermittelte ihr eine vage Ahnung von Nexos neuer Macht.

"Ja, die Zeit drängt", bestätigte Nexo. "Bist du so weit?"

"Ja", antwortete Ruth. "Aus welchen Computern soll ich die Festplatten ausbauen?"

"Die Rechner mit den Ziffern 1, 3, 4 und 5. Nummer 2 ist der Scanner", erklärte die Schrift über Nexos Kopf.

Ruth trat einen Schritt zurück und blickte auf die Rechner unter der Arbeitsplatte. Die Ziffern waren deutlich zu erkennen. Sie würde Werkzeug benötigen. Suchend sah sie sich um.

"Insgesamt sind es acht Festplatten. Ein Schraubenzieher liegt irgendwo zwischen den Bildschirmen", sagte Nexo.

Ruth fand das Werkzeug neben dem Monitor, der ihre virtuelle Wohnung abbildete. Als sie es aufnahm, näherte sich ihr Gesicht dem Bildschirm. Aus der Nähe waren die einzelnen Bildpunkte ihres virtuellen Universums zu erkennen. Erst in diesem Augenblick überfiel sie die volle Erkenntnis des Geschehenen. Nexo hatte mit ihr gesprochen. Hinter ihr saß sein toter User. Das Unfassbare war Realität. "Mein Gott", murmelte sie.

Über Nexo erschien ein neuer Text. Sie musste einen Schritt zurück treten, um ihn lesen zu können. "Hast du ihn?"

Schweigend hielt sie das Werkzeug hoch.

"Gut. Bitte fange gleich an. Wenn du alle Festplatten ausgebaut hast, lege sie in die Badewanne. Öffne dann den Scanner. Schraube alle Teile heraus, die mit einem roten Kreis gekennzeichnet sind. Lege auch sie in die Badewanne. In dem Schränkchen unter dem Waschbecken findest du einen Kanister Salzsäure, Gummihandschuhe, eine Atemmaske und Müllsäcke. Öffne das Fenster, setze die Maske auf, streife die Handschuhe über und gieße den gesamten Inhalt des Kanisters über die Teile in der Badewanne. Wenn die Reaktion abgeklungen ist, packe die Teile in einen Müllsack, verschließe ihn und fahre zur stillgelegten Bootsanlegestelle am Fluss - du weißt, dort am nördlichen Stadtrand - und wirf den Sack ins Wasser. Kannst du dir das alles merken?"

"Natürlich", antwortete sie sofort.

"Wenn du begonnen hast, können wir nicht mehr miteinander reden, denn diese Verbindung läuft über einen der Rechner, die du deaktivierst", sagte Nexo.

"Das ist mir klar", antwortete Ruth.

"Und noch etwas ...", begann Nexo

"Ja?"

"Du hast höchstens zwanzig Minuten, um das Haus zu verlassen."

Ruth fühlte, wie ihr Nacken feucht wurde. "Warum?" tippte sie.

"Bitte verschwende keine Zeit. Jede Minute zählt."

"Warum?" beharrte sie.

Nach einer kurzen Pause kam die Antwort. "Lazarus ist auf dem Weg in Jakobs Wohnung."

Ruths Atem flatterte. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte: dass einer der Chefmörder der Söhne auf dem Weg hier her war, oder dass Nexo seinen Decknahmen kannte. Doch jetzt war keine Zeit für Rückfragen. "Ich fange an. Wir sehen uns in der Zentrale."

"Viel Glück, Ruth", sagte Nexo.


13​

Mit rasselndem Atem, nahe am Ende ihrer Kräfte, zerrte Ruth 15 Minuten später den schweren Müllsack mit den verätzten Bauteilen im Erdgeschoss aus dem Lift. Besonders die sperrigen und überraschend schweren Teile aus dem Scanner ließen die Aufgabe zur Qual werden. Schon nach kurzer Zeit bohrten sich einige Metallecken durch das blaue Plastikmaterial. Hoffentlich hält der Sack bis zum Fluss, dachte Ruth. Das Atmen schmerzte. Etwas von den beißenden Ausdünstungen der Salzsäure war durch die Atemmaske gedrungen. Ein Hustenanfall schüttelte sie. Stechende Schmerzen drangen in die Lunge vor.

Keuchend schleifte sie den Sack auf die Haustür zu, ließ ihn über die Stufen zwischen Parterre und Straßenebene holpern. Sie zog die Haustür auf und blockierte sie mit einem Fuß, um den Sack auf die Straße zu bugsieren. Seufzend blickte sie auf ihren Wagen, der etwa 50 Meter entfernt am gegenüber liegenden Straßenrand parkte. Sie untersagte sich eine Pause und schleifte den Sack über den Bürgersteig. Passanten blickten erstaunt auf sie, doch niemand kam auf den Gedanken, zu helfen. Hastig zerrte sie den Sack zwischen den vorbeifahrenden Fahrzeugen auf die andere Straßenseite. Schließlich hatte sie ihren Wagen erreicht und zerrte den Sack an seine Rückseite. Sie öffnete die Heckklappe. Ihr Blick fiel durch die Scheibe der nach oben ragenden Tür. Ein alter Renault fuhr langsam die Straße entlang und hielt in zweiter Reihe vor Jakobs Haus. Der Beifahrer stieg aus und ging gemächlich auf die Tür zu. Er begann, die Namen auf dem Klingelbrett zu studieren. Ruth kannte den Mann nicht. Auf keinen Fall war es Lazarus - es sei denn, die Phantomgrafiken waren nicht zutreffend. Er betätigte eine der oberen Klingeln und wartete. Dann sagte er etwas in die Gegensprechanlage. Nach kurzer Zeit drückte er gegen die Tür und trat in das Haus.

Schweiß stand auf Ruths Stirn. Waren die Verfolger bereits hier, oder spielten ihre überreizten Nerven verrückt? Der helle Himmel spiegelte sich auf der Windschutzscheibe des Renault, sie konnte den Fahrer nicht erkennen. Hatte er sie hinter der nach oben ragenden Heckklappe bereits entdeckt? Ruth fühlte den Beginn einer Panikattacke, doch dann zeigte das Konditionierungstraining Wirkung, und Ruhe breitete sich in ihr aus. Bildete sie sich alles nur ein, war egal, wie sie sich jetzt verhielt. Stand dort vor ihrem Haus ein Wagen mit Aktivisten der Söhne, konnte sie jetzt nur eiskalte Vernunft retten.

Keuchend hievte sie den Sack in den Wagen und schloss die Heckklappe. Sie zwang sich, nicht auf das Auto vor Jakobs Haus zu blicken. Ohne Hast stieg sie in ihren Wagen. Die Terroristen suchen Jakob - eine Frau erweckt keinen Verdacht! hämmerte sie sich ein. Krampfhaft verdrängte sie die Erinnerung an Josuas Ahnung, sie sei zurück verfolgt worden. Sie startete den Wagen und rangierte aus der engen Parklücke. Sie unterdrückte den Impuls, zu wenden und in entgegen gesetzter Richtung davon zu fahren. Es war zu auffällig. Während sie an dem Renault vorbei fuhr, zwang sie sich, geradeaus zu blicken. Aus den Augenwinkeln erhaschte sie trotzdem einen kurzen Blick auf den Fahrer. Sein Gesicht war hinter einer Zeitung verborgen. Aufatmend fuhr sie weiter.


14​

Nexo war erleichtert, als er Ruths Wagen durch eine Kamera der Verkehrsüberwachung auf der Ausfallstraße zum nördlichen Stadtrand entdeckte. Er hatte den Renault auf dem Weg zu seiner ehemaligen Wohnung verfolgt und ausgerechnet, wie knapp alles ablaufen würde. Vergeblich hatte er versucht, den Wagen durch Eingriffe in die Ampelsteuerungen aufzuhalten. Der Fahrer hatte viele der Lichtsignale missachtet.

Nachdem die unmittelbare Gefahr gebannt war, wandte Nexo sich wieder seinem Vorhaben zu, einige vage Hinweise weiter zu verfolgen, die ihn bei der Recherche nach Ruths Daten irritiert hatten. Er weitete sich über das gesamte Netz aus und forschte. In den nächsten Sekundenbruchteilen evaluierte er einige Zehntausend E-Mails, Einträge in Diskussionsforen und Communities, versteckte Botschaften in Bildern und Musikstücken, und schließlich scheinbar harmlose Szenenachrichten auf einer Vielzahl von bekannten und weniger bekannten Webseiten. Noch bevor eine Sekunde vergangen war, erfüllte Nexo mehr Entsetzen, als sogar er selbst einem digitalen Wesen zugebilligt hätte.


15​

Wortlos ließ sich Ruth auf den Drehstuhl vor ihrem Arbeitsplatz fallen. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt. Abwesend starrte sie auf Myako und Nexo, zwei unschuldige Kinder, die nebeneinander auf dem Sofa saßen. So hatte sie die beiden Avatare bisher immer gesehen, doch nach dem gerade Erlebten änderte sich Ihr Blickwinkel. Eines der beiden Wesen hatte seine Unschuld verloren und war zum Träger des Virus Mensch geworden. Würde er es überstehen? "Ich bin zurück", tippte sie.

"Das war hervorragend, Ruth." Nexo stand auf.

"Der Wagen vor meiner Haustür, war er ...", fragte Ruth.

"Ja."

"Haben sie mich bemerkt?"

"Ich denke nicht. Sie fuhren in die entgegengesetzte Richtung davon. Ihre Kommunikation enthält keinen Hinweis darauf. Aber sie sind irritiert, weil der Scanner unbrauchbar war. Sie können sich nicht erklären, was passiert ist und wer dahinter steckt."

"Gut." Ruth war erleichtert. Sie würde Salomon über den Vorfall berichten müssen. Doch das hieße, auch den Scanner zu erwähnen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, das Thema offiziell zu machen, selbst nach seiner Zerstörung. Und sie würde enthüllen müssen, was sie selbst noch immer nicht akzeptieren konnte: die Existenz eines eigenständigen, digitalen Wesens.

Nexo riss sie aus Ihren Gedanken. "Es ist noch nicht vorbei."

Die Schrift über seinem Kopf brannte in ihren Augen. Unvermittelt verspürte sie Furcht vor dem neu geborenen Wesen, dieser materielosen Intelligenz, dieser Projektion eines menschlichen Wesens in den körperlosen Raum des globalen Netzes. Wo war er gerade? Gab es überhaut ein wo für ihn? Und - was noch wichtiger war: Was war er?

"Die Söhne der Rache sind nicht das, wofür ihr sie haltet. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist größer als ihr ahnt", sagte Nexo.

Ruth wusste sofort, dass es keine leeren Worte waren, doch noch immer sträubte sie sich dagegen, Nexos neue Existenzform unumwunden zu akzeptieren. "Woher willst du das wissen?" fragte sie trotzig zurück.

"Für Grundsatzdiskussionen ist jetzt kein Raum. Dafür haben wir ab übermorgen so viel Zeit, wie du möchtest", antwortete Nexo. "Die Söhne der Rache sind keine fundamentalistischen Religionsfanatiker. Sie sind ein Arm von Neues Moskau."

Ruth war verblüfft. "Du bist verrückt", tippte sie impulsiv.

"Leider nicht", antwortete er. "Die Neostalinisten von Neues Moskau haben die letzten drei Jahre damit zugebracht, getarnte Aktionseinheiten wie die Söhne der Rache aufzubauen, um in einer koordinierten Aktion alle wichtigen Regierungszentren der westlichen Welt zu deaktivieren. Danach soll dann der Kommunismus als globale Gesellschaftsform etabliert werden."

Ruth war nun überzeugt davon, dass Nexo den Transfer nicht unbeschadet überstanden hatte. Was er vor ihr ausbreitete, beinhaltete alle Anzeichen einer paranoiden Schizophrenie. Vielleicht war die Leiche, die sie gesehen hatte, gar nicht Nexos ehemaliger User? Vielleicht war er gar nicht tot? Vielleicht war all das ein gigantischer Bluff? Aber zu welchem Zweck? Was steckte dahinter?

Wer hat nun die Paranoia? schien Nexo schweigend zu fragen. Ruth sammelte ihre Gedanken. Nexos Theorie mochte paranoid schizophren erscheinen, trotzdem konnte alles real sein. Sie durfte kein Risiko eingehen. "Hast du nähere Informationen darüber?" fragte sie vorsichtig.

Über Nexos Kopf erschien die Internetadresse eines Verzeichnisses seiner Webseite, dazu ein Passwort. "Dort findest du alles, was ihr braucht. Überspiele es gleich zu Salomon", sagte er.

Dass Nexo auch den Decknamen Ihres Chefs kannte, quittierte Ruth nur noch mit einem Schulterzucken. An ihrem zweiten Rechner steuerte sie die Adresse an, verschaffte sich mit dem Passwort Zugang und lud das komprimierte Archiv herunter. Sofort danach kopierte sie es in Salomons Eingangsordner.

"Gut", sagte Nexo und löschte die brisante Datensammlung von seiner Website.

"Du sagtest etwas von einer koordinierten Aktion", tippte Ruth.

"Allerdings", antwortete Nexo.

Ruth wartete. Als kein weiterer Text erschien, tippte sie ungeduldig: "Nun?"

"Nun was?"

"Die koordinierte Aktion! Spanne mich nicht auf die Folter!" tippte Ruth wütend.

"Entschuldige. Ich dachte, du hättest das Archiv geöffnet und darin gelesen. Dort ist alles aufgeführt."

"Der Teufel holt das Archiv! Erzähle!"

"In 18 weltweit verteilten Metropolen sind nukleare Sprengsätze deponiert. Alle Sprengsätze werden zum selben Zeitpunkt detonieren."

Eine unsichtbare Faust schlug gegen Ruths Brust und drückte sie in die Lehne Ihres Stuhls zurück. Er war verrückt, nun war es offensichtlich. Nukleare Sprengsätze, wie dramatisch! Und gleich 18! War 18 nicht eine mystische Zahl? Zweifellos hatte Nexo Sinn für dekorative Ausschmückungen.

Ruth erinnerte sich an den Renault vor Jakobs Haus. Das Gesagte als Hirngespinst abzutun, war die einfachste Lösung. War die einfachste Lösung immer die beste?

Sie lehnte sich vor und tippte: "Wann?"

"Morgen, 14 Uhr deiner Zeitzone."

Der zweite Schlag traf Ruths Brust. Gleichzeitig regte sich erneuter Widerstand. "Woher sollten die Söhne die Nuklearsätze haben?"

Nexo zuckte kurz mit den Armen. "Ruth! Hast du eure eigene Akte über die Plutoniumdiebstähle der letzten fünf Jahre vergessen?"

Ruth bemerkte, wie ihre Ohren glühten. Sie fand diese Reaktion albern und ärgerte sich über sich selbst. "Das sind doch Hirngespinste!" tippte sie entschlossen.

"Ruth, bitte! Dafür ist jetzt wirklich keine Zeit! Wir wissen beide, welchen Aufwand ihr und die befreundeten Organisationen betrieben haben, um die Diebstähle vor der Öffentlichkeit zu verbergen."

Nexos neue Macht schien unermesslich zu sein. Würde er von ihr korrumpiert werden? Ruth erkannte die Gefahr, und trotzdem war sie nicht beunruhigt, zumindest nicht darüber. Sie kannte ihn besser als sie sich kannte, und sie vertraute ihm. Wenn er noch der gleiche war.

Wie in Trance öffnete sie Nexos Archiv. Auf dem Bildschirm erschienen Texte, Fotos, Grafiken, Tabellen, abgefangene E-Mails, Tonmitschnitte überwachter Telefongespräche, Videoaufnahmen. Fieberhaft arbeitete Ruth sich durch die Datenflut. Nach einer Viertelstunde hatte sie sich einen groben Überblick verschafft. Ihr Herz pochte wild, und der Halsausschnitt ihres T-Shirts war schweißdurchtränkt. Mit einem Ruck sprang sie von ihrem Stuhl auf und lief zur Tür. Auf halbem Weg stoppte sie und kehrte um. "Ich gehe zu Salomon. Bitte warte", tippte sie.

"Ja" sagte Nexo und setzte sich neben Myako. Sie hatte seit seinem Transfer noch kein eigenes Wort gesprochen.


16​

Abgestandene Luft trieb Ruth entgegen, nachdem sie die Tür ihrer Wohnung aufgeschlossen hatte. Sie sah sich um. Nach drei Wochen Abwesenheit war erstaunlich wenig Staub zu sehen. Sie würde sich morgen darum kümmern. Alles in ihr schrie nach Schlaf. Die vergangenen 30 Stunden hatten das Letzte aus ihr herausgeholt. Ihre Aufgabe als zentrale Koordinatorin der weltweiten Antiterrormaßnahmen 14 verschiedener Staaten hatten sie an den Rand des Zusammenbruchs getrieben, und darüber hinaus. Nun war es vorüber, doch sie war viel zu erschöpft, um Erleichterung zu fühlen. Langsam schlenderte sie von Zimmer zu Zimmer und öffnete die Fenster. Im Schlafzimmer zog sie die Tagesdecke von dem breiten Bett. Bitter lächelnd dachte sie an ihr Liebesleben der letzten anderthalb Jahre. Ein breites Bett - welche Verschwendung!

Auf dem Weg zum Badezimmer zog sie sich aus und warf die Kleidungsstücke achtlos auf den Boden. Sie drehte die Dusche voll auf und ließ das warme Wasser über ihren Körper rinnen. Langsam entspannte sie sich. Nach dem Abtrocknen gönnte sie sich den Luxus einer Einreibung mit chinesischem Öl, gefolgt von einer Feuchtigkeitscreme, die sie auf ihren Körper auftrug und einmassierte.

Die zurück geschlagene Bettdecke lockte verführerisch durch die halb geöffnete Schlafzimmertür, als Ruth über den Flur ging. Unwillkürlich wandte sie den Blick in eine andere Richtung. Der Computer in ihrem kleinen Büro lenkte ihre Gedanken ab. Bevor ihre Vernunft einsetzen konnte, war sie eingetreten und hatte den Rechner eingeschaltet. Während der PC hochfuhr, setzte sie sich auf den Schwinghocker vor dem Bildschirm.

Nur wenige Sekunden, nachdem sie in ihrer virtuellen Wohnung angekommen war, erschien Nexo. Wenigstens würde sie nie mehr auf ihn warten müssen, wenn sie in FarWorlds war, kam ihr in den Sinn. Er trat nach vorne, scheinbar bis dicht hinter das trennende Glas des Bildschirms. "Du bist eine wunderschöne Frau", sagte er lächelnd.

Ruth, die nach dem Duschbad noch nackt war, erinnerte sich an die Kamera, die sich beim Einschalten des Computers automatisch aktiviert hatte. Schnell schaltete sie die Kamera aus. "Du bist unverschämt", tippte sie.

"Weil ich die Wahrheit sage?" fragte Nexo.

"Nein, weil ..." warum eigentlich? "Du bist nicht mehr körperlich. Mein Aussehen sollte dich nicht interessieren."

"Du hast recht, das sollte es nicht", sagte Nexo und setzte sich neben Myako. "Andererseits bin ich noch immer ich, mit allen Gefühlen und Begierden."

"Ist das wirklich so?" fragte Ruth, und die vertraute Wärme, die sie in Nexos Gesellschaft empfand, stieg in ihr auf.

"Es ist so", antwortete Nexo.

"Du fühlst also auch ... körperliches Verlangen?"

Nexo schwieg.

"Entschuldige, ich wollte dich nicht verletzen", tippte Ruth schnell. Sie gab einem unwillkürlichen Impuls nach, und Myako machte eine vage Handbewegung.

"Es gibt keinen Grund für Entschuldigungen", sagte Nexo. "Ich habe nachgedacht. Ich empfinde tatsächlich noch körperlich. Es ist wie der Phantomschmerz, den ein Mensch nach einer Amputation an der Stelle verspürt, an der sich vorher der abgetrennte Körperteil befunden hat."

Ruth empfand wieder Mitleid. Myako stand auf, wandte sich Nexo zu und strich über seinen Kopf. Ruth war überrascht. Sie war sich nicht bewusst, Myako Steuerbefehle übermittelt zu haben. Nun ließ sie Myako wieder hinsetzen. Schweigend blickten die beiden virtuellen Gefährten auf Ruth.

"Kannst du mir ein Bild von Jakob zeigen?" fragte Ruth unwillkürlich.

"Macht das Sinn?" fragte Nexo.

"Nein."

"Jakob ist Vergangenheit. Vergiss ihn." Nexo machte eine wegwerfende Handbewegung.

Ruth erinnerte sich an ihren Besuch in Jakobs Wohnung, bei dem sie standhaft vermieden hatte, Jakobs Leiche anzusehen. Ein Schauer rann über ihren nackten Rücken. "Bitte zeige mir ein Bild", sagte sie.

Auf ihrem Bildschirm erschien die Gestalt eines lachenden jungen Mannes mit wirren Haaren. Er trug ein weißes T-Shirt mit einem kindischen Comic-Motiv darauf, und cremefarbene Jeans. Greller Sonnenschein ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Er stand vor einer Balustrade. Aus dem Hintergrund, weit unterhalb, blinkte das endlose Meer verlockend herauf. Bunte Segel auf der weiten Wasserfläche erzählten von der Illusion der Freiheit. Lange starrte Ruth auf das Bild.

"Ich hätte dich lieben können", tippte sie schließlich.

"Und jetzt nicht mehr?" fragte Nexo.

"Ich weiß es nicht", antwortete Ruth.

Es gab nicht mehr zu sagen.

 

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