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06.07.2005
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Sollte denn mein Zug nicht schon längst hier sein? - Zwar bin ich freilich ganz im Unklaren, wann er hätte einfahren sollen, geschweige denn auf welchem dieser unzähligen Gleise vor mir, deren Anblick mich sehr verwirrt; doch weiß ich, dass ich schon sehr lange hier draußen in der Kälte sitze und auf meinen Zug warte, ja, einen Zug, der mich aufnimmt und endlich von hier fortträgt, einen Zug, der mich einsteigen lässt, einen Platz für mich frei hat – egal welchen - und eine Weile zu meinem Schicksal wird. Denn ja, man braucht doch Züge, möchte ich meinen, auch Leute, die nicht danach aussehen, als ob sie darauf warten würden, auch sie brauchen doch ihre Züge! Keinen gibt es, der nicht eines Zuges bedürfte! Aus deiner Kälte nehmen sie dich in sich auf - halten sogar nur für dich alleine an - , geben dir einen Platz im Warmen und machen ihren Weg zu deinem. Und gäbe es denn eine Stelle, wohin du nicht mit ihnen gelangen könntest? Tragen sie dich nicht über all ihre Brücken, durch all ihre Tunnel – sei gewiss, auch diese dunklen Höhlen führen am Ende wieder ans Licht – und eilen mit dir im Flug an Orte, von denen du noch nicht einmal gehört hast und welche alleine, zu Fuß zu erreichen dir ganz unmöglich gewesen wäre?
- Ja, man braucht Züge, jeder braucht doch wohl einen Zug und deshalb warte ich hier und lasse mich auch nicht verwundern durch all diese leeren Gleise, deren Zahl und Merkwürdigkeiten ich nicht überblicken kann! Was aber gibt es hier nur für Seltsamkeiten - manche von ihnen sind so schmal, dass nur Kinderlokomotiven darauf fahren könnten, und erstrecken sich nur einige Meter weit, wo sie dann plötzlich ohne Grund im Leeren enden, andere, von normaler Breite, schlängeln sich zuerst in gewagten, halsbrecherischen Windungen, werden dann aber langsam gerade und lassen sich weit in die Ferne verfolgen, bis dorthin, wo ihre Schienen in einem Punkte zusammenschmelzen, wieder andere, anfangs von mächtigen Ausmaßen und blanken Trägern, werden allmählich immer kleiner und schmaler, wobei ihr Metall zunehmend unsauber und rostig wird, so weit, bis sich die Oberfläche schon aufblättert und abschält, doch kann man auf ihnen vermutlich länger fahren als auf jenen anderen, welche bereits nach kurzer Strecke entweder gänzlich abbrechen oder sich - ohne Vertrauen in ihre eigenen Schienen - bald in andere Gleise verlaufen, die ihrerseits oft gleich wieder an neue Gabelungen und Weichenstellungen geraten. Und ich weiß, auf einem dieser vielen Gleise muss auch mein Zug hier eintreffen - ich hoffe mit allerlei Rauch und Quietschen und Pfeifen und Schienenstöhnen, damit ich ihn auch bemerke, bevor er wieder abfährt, und er mich nicht alleine auf meiner Bank sitzen lässt.
Aber wie? Wäre es denn möglich, dass er schon längst hier gewesen ist - vor einer Ewigkeit vielleicht schon - und dass ich nichts davon wahrgenommen habe? Dass er sich herangeschlichen hat wie ein Kätzchen, ohne viel Aufhebens, ohne Geschmetter und Gehupe, sondern leise und geschmeidig, auf samtenen Pfoten, unmerklich demjenigen, der sich nicht die Mühe machte, beständig aufzuschauen und wachsam zu sein? Aber dann muss doch bald wieder einer eintreffen, der den Weg des vorherigen oder doch bestimmt irgendeinen Weg zu fahren bereit ist! Also, wohlan, so gilt es: warten und wachsam sein! - Ja, sag es nur: ich will warten und wachsam sein!
Oder ist es wohl möglich, dass hier überhaupt kein Verkehr mehr stattfindet und ich vergebens warte und wachsam bin? Einiges würde hierfür sprechen, am meisten wohl diese öde Schienenwüste vor mir, auf der nicht einmal die alten und ausrangierten Waggons abgestellt sind, die es doch überall gibt; oder das verfallene Bahnhofsgebäude, das ich sehe, wenn ich mich kurz umwende – aber nicht zu lange! – und dessen Ortsschild bereits zur Unlesbarkeit herabgebröckelt ist. Sollte ich dann vielleicht nicht nachsehen, ob und wann mein Zug hier ankommen und mir einen Platz im Warmen geben wird? Aber nirgends hängen Fahrpläne und der mächtigen Uhr an der Front des Gebäudes hinter mir fehlen die Zeiger und bereits ein Teil ihres Ziffernblattes, sodass ich hier beim besten Willen keine Auskunft erhalten werde. Auch fällt mir, während ich in meiner Tasche nach Zigaretten suche, plötzlich auf, dass ich meine Fahrkarte verloren haben muss oder dass ich wahrscheinlich noch gar keine gelöst habe - ich erinnere mich zumindest nicht mehr genau daran, was mich jetzt aber nicht länger verwirren soll, denn es gilt ja: wachsam bleiben!
Ja, nur das - warten und wachsam bleiben! Die Gleise nicht aus den Augen verlieren! An nichts anderes seine Blicke verschwenden! Denn irgendwann, irgendwann muss das Warten sich doch bezahlt machen und mein Zug – auf welchem Gleis auch immer – meine Station doch erreichen - ja, mein Zug! Und dann, dann möchte ich mich schon irgendwie bemerkbar machen, will ihn schon irgendwie zum Anhalten zwingen, meinen Zug, und den Schaffner verstehen machen, dass er mich doch aus meiner Kälte aufnehmen, dass er mir einen Platz im Warmen geben, dass er seinen Weg zu meinem machen muss, da er für mich doch geradezu den Träger Holz auf wüstem Ozean bedeutet! – Ja, ich will ihn schon überzeugen, ihm meine Lage klar vor Augen führen, werde ihm auch gut zureden, wenn er nicht gleich verstehen sollte, werde ihn bitten und anflehen, ja, und ihm sogar mehr zukommen lassen, als erforderlich ist, wenn er mich doch nur mitnimmt und von hier fortträgt!
Doch hier, hier, sieh nur: woher er gekommen ist, weiß ich nicht – war ich denn nicht die ganze Zeit wachsam? - , auch kann ich durchaus nicht sagen, wie lange er schon hier steht, doch jetzt gilt es, die Gelegenheit am Schopfe zu ergreifen! Nicht zögern, nicht länger warten, sondern handeln! Hier, hier steht er doch, er, auf den ich so lange hier in der Kälte gewartet habe! Grün ist er, ja, ein schönes Grün, mit schwarzer Aufschrift – was mag sie nur heißen? - und großen Fenstern, aus denen ich bald schauen will, wenn er mich über all seine Brücken, durch all seine Tunnel trägt – sei gewiss, auch diese dunklen Höhlen führen am Ende wieder ans Licht - und mit mir im Flug an niegesehne Orte eilt, welche alleine, zu Fuß zu erreichen mir ganz unmöglich gewesen wäre! Auf einem der geraden Gleise wartet er schon auf mich und die Türen stehen ja bereits offen, ja, weit offen, und für wen sonst, wenn nicht für mich! Nun also, nicht gezögert, sondern nur munter hereingetreten, das Gepäck abgestellt- habe ich eigentlich Gepäck?- , einen Platz im Warmen gesucht und zurückgelehnt!
Ich stehe schon vor den drei Stufen, die ins Innere führen, ja, wittere schon die geheizte, nach warmem Leder duftende Luft, die meine erfrorenen Wangen in wohligem Hauch einhüllen will, als über mir, auf der Schwelle, der Schaffner erscheint - ein strammer, stattlicher Mann mit schwarzen Bartstoppeln im Gesicht und vernarbter Nase, geradezu furchteinflößend mit seiner prächtigen Uniform, auf der vergoldete Knöpfe blankgeputzt leuchten, und seiner großen blauen Dienstmütze, welche er mit derselben strengen Würde zu tragen versteht wie ein alter König seine Krone.
„Schaffner“ , sage ich mit fester Stimme - denn ich weiß ja, dass man mit fester Stimme allerlei erreichen kann - „lange warte ich hier draußen in meiner Kälte, alleine, ohne Spur von jener schönen grünen Weide, und bin wachsam, ob nicht ein Zug für mich käme, der mich aufnimmt, mir einen Platz im Warmen gibt und eine Weile zu meinem Schicksal wird! O verschließe deine Türen nicht gleich wieder, sondern lass mich nur schnell einsteigen und mache eine Weile deinen Weg zu meinem! Sollte denn mein Warten ganz umsonst gewesen sein? Auch viel mehr will ich dir zukommen lassen, als erforderlich ist, wenn du mich nur mitnimmst und von hier fortträgst, über alle Brücken und durch alle dunklen Höhlen, und eilst mit mir an Orte, von denen ich noch nicht einmal gehört habe, und welche alleine, zu Fuß zu erreichen mir ganz unmöglich gewesen wäre! – ja, wenn du nur verstehst, dass du für mich geradezu den Träger Holz auf wüstem Ozean bedeutest!“
„So sollte denn dein langes Warten tatsächlich ganz umsonst gewesen sein“, entgegnet er mit strenger Miene, „da du nicht begriffen hast, dass du auch deinen Weg zu meinem machen musst und nur jener Zug dir einen Platz im Warmen gibt, in dem deine Kälte nicht mit dir reisen wird!“
Und während er mit einem mitleidigen Lächeln an seiner Mütze rückt, schließen sich knarrend die beiden Türen, unter Dampfen und Seufzen setzt der Zug sich in Bewegung und schnell verschmilzt er mit den beiden Schienen zu einem unsichtbaren Punkt vor der tiefhängenden Eissonne am Horizont - forteilend zu Orten, von welchen ich noch nicht einmal gehört habe, und welche alleine, zu Fuß zu erreichen mir ganz unmöglich ist.-

 

hi rscheider
eine interessante Geschichte, die du da auf die Schienen setzt! Mir gefällt die fast schon märchenhafte Art, die Sprechweise der Situation, die auf dem merkwürdigen Abstellgleis des Lebens spielt. Sehr schön und traurig, die Gedanken des Einsamen, die Hoffnungen und seine Angst, den Zug verpasst zu haben - alles sehr schön geschildert. Eine Kleinigkeit ist mir aufgefallen:

„ Schaffner“ , sage ich mit fester Stimme - denn ich weiß ja, dass man mit fester Stimme allerlei erreichen kann - „ lange warte ich hier draußen in meiner Kälte, alleine, ohne Spur von jener schönen grünen Weide, und bin wachsam, ob nicht ein Zug für mich käme, der mich aufnimmt, mir einen Platz im Warmen gibt und eine Weile zu meinem Schicksal wird!
Mach bitte die Pause vor "lange" und hinter dem Anführungszeichen weg, im Text ist es nämlich am Zeilenende und das verwirrt, weil man die Anführungszeichen dann nicht bemerkt.
Diesen Fehler hast du noch ein paar Mal, wo es aber nicht so schlimm ist.

Gruß, jonny

 

Hallo jonny m

Danke für deine Tipps ; hab die Erzählung soweit umgeändert.
Grüße,
rscheider

 

Hallo rscheider,

da hast Du ja in mir altem Eisenbahner den richtigen Leser gefunden! Ich mag diese Reflexion über das Leben als Schienenstrang sehr gerne, Deine Sprache ist schön, obwohl und weil sie nicht modern ist. Das passt, weil ja auch Dein Bild der Dampflokomotive schon etwas älter ist. Üblicherweise geraten solche inneren Monologe leicht zur Ödnis, aber durch die Lebendigkeit Deiner Bilder hältst Du den Leser bei Dir. Das Ende schließlich ist kurz und symbolisch aufgeladen, es bietet damit Stoff zum längeren Nachdenken. Insgesamt sehr schön. :thumbsup:

Hier noch die Liste:

werden allmählich immer kleiner und schmaler, wobei ihr Metall

Rauch und Quietschen und Pfeifen

dass du für mich geradezu den Träger Holz auf wüstem Ozean bedeutest!

Außerdem beginnst Du die wörtliche Rede immer mit einem Leerzeichen, das solltest Du entfernen.

 

Hi rschneider!

Du vergleichst da das Leben, letztlich auch Lebensstrategien mit dem Warten auf einen Zug. In Stufen betrachtest du die Thematik, die Feststellung Ja, man braucht Züge, jeder braucht doch wohl einen Zug zeigt: eine prinzipielle Annahme, eine Grundvoraussetzung ist nötig, für die Betrachtung des Daseins, wenn ich das mal so ein bissel hochtrabend formulieren darf. Natürlich gibt es auch Zweifel, gut beobachtet, zumindest bei einer gewissen Lebenserfahrung: Oder ist es wohl möglich, dass hier überhaupt kein Verkehr stattfindet. Dann, nachdem fast schon alles prima gelaufen zu sein scheint, die Ernüchterung: So sollte denn dein langes Warten tatsächlich ganz umsonst gewesen sein ... "da du nicht begriffen hast, dass du auch deinen Weg zu meinem machen musst ...".

Gerade diese Wendung macht viel aus der Geschichte, erinnert an - carpe diem -.

aquata

 

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