Verlorene Seelen
V e r l o r e n e S e e l e n
Kalter, feiner Regen benetzte ihr Gesicht. Mit einem geflochtenen Korb unter ihrem Arm stand die Frau vor einem alten Hühnerstall. Das protestierende Geschrei der Hennen, die aufgescheucht um ihre Füße huschten, nahm sie kaum wahr. Die Welt wurde von einem grauen, undurchdringlichen Nebel verschlungen, schien das Geschrei der Tiere zu verschlucken, in sich aufzusaugen.
Fröstelnd zog die Frau ihren Wollumhang um ihre Schultern. Die Kälte dieses Morgens schien ihr bis in das Herz zu kriechen. Mit einer langsamen Bewegung, die auf seltsamerweise grazil wirkte, hob sie ein Ei von dem frostüberzogenen Boden auf.
Sie war jung, noch nicht einmal fünfundzwanzig. Und doch zeigten ihre Gesichtszüge harte Falten. Falten, die das Leben zeichnete, nicht das Alter. Die Augen waren seltsam stumpf, als sie aufblickte und den leeren Blick in Richtung des benachbarten Hofes schweifen ließ, der durch den Nebel von dem ihren getrennt war. Ihrem Hof.. Ja, es war ihr Hof. Es war nicht nur der Ort, an dem sie aufgewachsen war, nicht der Ort, an dem sie hart gearbeitet und sich ihr Brot verdient hatte. Es war der Hof, der ihrer Familie gehört hatte. Er war ihr Heim, ihr Leben.
Und jetzt war da nichts mehr.
Die Falten kamen vielleicht von der jahrelangen, harten Arbeit, die sie verrichtet hatte, und der Sorgen um die kläglichen Erträge, die der Hof abwarf und die seit einiger Zeit kaum einer mehr zu kaufen vermochte oder wollte.
Der stumpfe Glanz der Augen rührte aus ihrem Kummer. Kummer um die Liebsten, die ihrer Sünden wegen grausam von ihr fortgerissen worden waren. Hoffnungslosigkeit und Panik, die sich im ganzen Land ausbreitete. Auch die anderen Höfe hatte es erwischt. Viele waren in letzter Zeit dahingerafft worden. Es blieb kaum Zeit sich zu verabschieden von dem Leben. Der Tod holte sie alle. Sie hatte die Panik in dem Blick ihrer Mutter gesehen. Der sonst schlanke und starke Körper grausam zugerichtet. Keine Zeit mehr einen Priester zu holen, der ihr die Absolution erteilt hätte.
Sie war sich sicher, dass ihre Mutter nicht gesündigt hatte. Und doch hatte sie der Tod geholt. Schwarzer Tod wurde er genannt, erinnerte sie sich. Er holte sie alle. Sogar die, die höhere Privilegien genossen. Es wurde darüber gemunkelt, dass selbst Priester von ihm heimgesucht wurden. Es hatte alles schnell um sich gegriffen. Und als würde es nicht schon genug Trauer in ihrem Haus geben, versuchte Gott ihr auch noch den letzten geliebten Menschen zu entreißen.
Elisabeth zuckte zusammen, als das Ei, welches sie gerade aufgehoben hatte, in ihrer Hand zerbrach. Durfte sie erzürnt sein? Auf Gott, der ihr das und all den ihren antat? Als heiße Tränen in ihr aufzusteigen drohten und sie versucht war, Gott und ihren Glauben zu verfluchen, biss sie sich auf die Lippen und eilte zum Haus.
Sie wusste es. Wusste, dass ihr der Geruch des Todes in die Nase steigen würde, sobald sie die Tür aufstieß. Es roch faulig und stickig in dem Raum. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu schluchzen. Vor Ekel und Trauer. Sie musste schauen wie es ihm ging. Musste wissen, wie lange er noch durchhalten könnte...
Als sie ihn sah, verkrampfte sich ihr Herz abermals. Es gab keine Hoffnung darauf, dass er länger bei ihr blieb als die anderen... Seine Stirn war verschwitz und er blickte starr mit blutunterlaufenen Augen in ihre Richtung, als sähe er nichts. Das Bett war zerwühlt, als hätte er sich eine ewige Zeit vor Qualen hin und her geworfen. Die Nacht war vorbei. Zu schnell für sie und zu langsam für ihn. Es würde nicht mehr viel Zeit bleiben ...
Vorsichtig legte sie ihren Wollumhang auf einen kleinen Stuhl, der nah bei dem zerwühlten Bett stand, und kniete sich vor ihren Mann. Das Zimmer war schummerig beleuchtet, bat nicht viel mehr Trost als das nasskalte Wetter draußen. Auf einem dunklen, zerkratzten Tisch in einer Ecke des Raumes lag ein jämmerlicher Rest Essen in Form eines angebrochenen Brotes, daneben ein zerbrechlicher Krug Wasser. Früher hatte dieses Zimmer Geborgenheit ausgestrahlt. Jetzt stank es nach Tod und Krankheit.
Sanft berührte sie seine eiskalte Hand. Er hatte kaum die Kraft, die ihre in seiner zu halten, so strich sie ihm leicht über den bläulichen Arm, in der Hoffnung er würde ihre Berührung durch das Delirium des Fiebers wahrnehmen. Die Augen, die vergeblich versuchten die ihren wahrzunehmen, zuzuordnen, was vor ihnen verschwamm, weiteten sich langsam vor Angst. Er begann zu zittern. Nein, nicht!
In der Nacht hatte sie neben ihm gesessen, hatte gewartet und stundenlang um seine Seele gebetet. Es durfte nicht zu spät sein. Sie musste wenigstens ihm helfen. Helfen einen friedlichen Tod zu sterben. Ihm helfen, Gottes Gnaden zu erlangen.
Mit aller Kraft packte sie seinen zuckenden Körper und drückte ihn an den Schultern zurück. Krampfanfälle. All die anderen, all die anderen hatten sie auch gehabt. Ihre Finger vergruben sich vor Anstrengung in seinen Schultern. Bleib liegen. Bitte bleib liegen! Ich hole Hilfe. Ich hole Hilfe! Mit all ihrer Kraft schaffte Sie es ihn in die dreckigen Laken zurück zu drücken. Sie hätte sie gern für ihn gewechselt, aber sie hatten nichts mehr. Sie stützte sich mit gestreckten Armen auf seine Schultern. Stand so über ihn gebeugt und hinderte ihn daran, sich selbst in seinem Wahn Schmerzen zuzufügen. Nachdem seine Krämpfe nachgelassen hatten, verharrte sie noch eine Weile regungslos. Unterdrückte ihre Verzweifelung. Schloss die Augen, um Kraft zu sammeln. Musste sich zusammenreißen und Hilfe holen.
Der Kirchturm ragte hoch in den Wolken verhangenden Himmel hinein. Elisabeth musste den Kopf in den Nacken legen, um ganz bis zur Spitze hoch schauen zu können, die sich wie ein gewaltiges Mahnmal vor dem einheitlichen Grau des Himmels abhob. Es schien, als würde alles um sie herum ihr inneres Gefühlsleben widerspiegeln, kalt und hoffnungslos, als würden die tief hängenden Wolken alles Licht und alles Schöne von der Erde aufsaugen, dass sie je empfunden hatte. Der eisige Wind drang mühelos bis auf ihre Knochen vor und ließ sie frösteln und sich ihren Mantel enger um die Schultern ziehen. War es der Wind, der sie frösteln ließ? Oder war es das Anliegen, für welches sie hierher gekommen war? Herkommen musste.
Es zerriss ihr fast die Brust, als sie daran dachte.
Langsam trat sie näher auf das große, zweiflüglige Portal der Kirche zu. Feine Holzschnitzereien zierten die Tür, sodass sie ganz ohne aufwendige Gold- und Silberverzierungen überzeugen konnte. Rechts und links des Eingangs thronten steinerne Engel über einem spitz zulaufenden Giebel und sahen mit ihren ausdruckslosen Augen auf sie hinab, schienen sie anzuklagen. Anklagen? Aber warum mich?
Ohne es mitzubekommen, stand Elisabeth einige Minuten lang still verharrt vor den Engeln und sah nur stumm zu ihnen hinauf, fragte sich, für was man sie anklagen könnte, warum Gott sie strafen wollte.
Sie wusste es nicht.
Langsam wandte sie schließlich ihren Blick von den steinernen Statuen ab und ging zögernd auf die Kirchentür zu. Mühsam zog sie sie auf und trat in das kühle Gebäude hinein, das ihr nach der Kälte draußen beinahe warm erschien. Augenblicklich schienen alle Geräusche in ihrer Umgebung zu verstummen, der Wind, der Regen, die wenigen Straßengeräusche. Mit einem Male war es, als würde es außerhalb der Kirche nichts anderes mehr geben, als wäre nichts jemals so wichtig gewesen, wie hier zu sein. Eine ehrfürchtige Stille zog sich durch das ganze Gotteshaus hindurch, schuf eine unnachahmliche Atmosphäre und ließ alles andere in einer winzigen Bedeutungslosigkeit erblassen.
Elisabeth überkam ein erneutes Frösteln und sie zerrte ihren Mantel noch etwas enger um sich. Unwillkürlich stellte sie sich die Frage, ob sie überhaupt das Recht hatte, hier zu sein, wo sie in ihrem Leben offenbar doch so viel gesündigt hatte. Bestrafte Gott sie nicht dadurch, dass er ihr all ihre Liebsten nahm?
Nur wenige Menschen befanden sich in den Bänken vor der Kanzel, was sie angesichts dieser schrecklichen Geschehnisse gar nicht vermutet hätte. Gedämpftes Murmeln und ersticktes Schluchzen durchbrach ab und an die Stille in der Kirche und ließ ihr Herz gleichsam schwerer werden.
Vorsichtig trat sie weiter vor, bemüht, die Ruhe durch ihre Schritte nicht zu zerstören. Der eine oder andere in den Bänken schaute zu ihr hoch, sodass sie geröteter Augen und gequälter Gesichtsausdrücke gewahr werden konnte. Sie erschrak ungewollt, als sich ihr eine junge Frau zuwandte. Die Haut ihres Gesichts hatte eine leichte, aber unübersehbare Blaufärbung angenommen und unter dem aufgestellten Kragen ihres Mantels versteckte sie dicke, schwarze Beulen, wie sie sie in letzter Zeit zu häufig hatte sehen müssen.
Ein kleiner Junge saß neben ihr und lag schlaff an ihrer Schulter. Auch seine Haut kennzeichnete eine unverwechselbare, dunkle Färbung.
Elisabeth schluckte trocken und schritt dann weiter durch den von Bänken gesäumten Gang, bis sie die Kanzel erreicht hatte. Suchend sah sie sich nach einem Priester um, konnte jedoch keinen ausmachen. Eilig schaute sie sich weiter um. Sie wollte so schnell es ging wieder zurück zu ihrem Hof und ihrem Mann. Gott allein wusste, wie viel Zeit ihm noch blieb, und da sie ihm nicht anderweitig helfen konnte, wollte sie ihm wenigstens einen Priester beschaffen, der ihm die Absolution erteilte.
Oh Gott, sie wollte gar nicht daran denken.
Mühselig schluckt sie ihre Tränen runter; dafür war jetzt keine Zeit.
Nach kurzer Zeit entdeckte sie schließlich einen Priester. Er war ein kleiner, untersetzter Mann, den seine Kutte noch um einiges kleiner wirken ließ, mit hoher Stirn und zurückgehendem, dunklen Haaransatz. Er hielt sich in einem Raum im hinteren Teil der Kirche auf, den sie etwas versteckt hinter der Predigerkanzel gefunden hatte, und rannte, offensichtlich in Eile, von einer Ecke in die nächste, um allerlei Dinge zusammenzusuchen. Vermutlich war er bereits unterwegs zu der nächsten Absolution …
„Ent…schuldigen Sie … ?“, fragte Elisabeth vorsichtig, da sie sich nicht sicher sein konnte, ob sie überhaupt Zutritt zu diesen Räumlichkeiten hatte.
Des Priesters Kopf zuckte hoch, als hätte sie geschrieen. Vor Angst geweitete, wässrig blaue Augen starrten sie erschrocken an und in einer beinahe unbewussten Geste wich der Mann nach hinten zurück.
„Entschuldigen Sie, falls ich Sie erschreckt habe“, wiederholte Elisabeth, nun jedoch mit festerer Stimme. Sie machte einige Schritte auf ihn zu. „Aber in der Kirche war –“
„Halt! Keinen Schritt weiter!“, rief ihr der Priester mit beinahe überschnappender Stimme zu, sodass sie ganz von selbst inne hielt. Feine Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. „Was machen Sie hier? Wie kommen Sie hier herein?!“
„Durch … die Tür“, erklärte Elisabeth mit wachsender Verwirrung. „Ich bin gekommen, um sie um die Absolution für meinen Mann zu bitten. Er ist von dem heimgesucht worden, was sie Schwarzen Tod nennen, und es geht ihm zunehmend schlechter. Ich glaube …“ Ihre Stimme brach und sie hatte sich erst nach einigen Versuchen wieder im Griff. „Ich glaube nicht, dass er die Nacht überstehen wird.“
„Schwarzer …“, ächzte der Priester atemlos und starrte sie nun mit offenkundiger Panik in den wässrigen Augen an. „Sie … Schwarzer Tod … bei Ihnen … Sie …“ Er holte tief Luft, schien sich sichtlich um Fassung zu bemühen und richtete sich dann zu seiner vollen Größe auf, straffte die Schultern. Etwas argwöhnisch beobachtete sie, wie er sich noch weiter gegen die Wand drückte, vor der er stand, als ob ihm der Abstand zwischen sich und Elisabeth noch immer nicht genügen würde. „Tut mir aufrichtig Leid, aber ich habe jetzt keine Zeit für Sie. Tut mir Leid“, wiederholte er und ignorierte Elisabeths verstörten Blick geflissentlich. Stattdessen hob er eine Hand und machte damit eine gebieterisch wedelnde Geste in ihre Richtung. „Und nun lassen Sie mich allein. Gehen Sie, gehen Sie, ich habe zu tun.“ Seine Stimme klang noch immer etwas zu hoch, gleichzeitig aber auch drängend.
Es dauerte einen Moment, bis sie den Sinn dieser Worte erfasste. Dann jedoch überkam sie plötzlich eine Woge der Wut, die sie nur bezwingen konnte, indem sie fest die Zähne aufeinander biss und ihre Hände zu Fäusten ballte. Fassungslos starrte sie den Priester an. „Aber ...“ Ihre Stimme zitterte ein wenig; ein sicheres Zeichen ihres wachsenden Ärgers. „Aber mein Mann benötigt Ihre Hilfe! Sie können ihn doch nicht im Stich lassen! Er liegt im Sterben! Was wird denn aus ihm, wenn Sie ihm nicht helfen?“ Sie bemühte sich um eine aufrechte Haltung und verlieh ihrer Stimme einen festen, aber nicht aufmüpfigen Ton, als sie fortfuhr: „Sie müssen ihm einfach helfen. Sie sind Priester.“
Ein kurzes Aufblitzen wurde in seinen blassen Augen sichtbar und verdrängte für einen kurzen Moment den gehetzten Ausdruck. „Wagen Sie es nicht, so mit mir zu sprechen. Ich weiß, was meine Pflicht ist.“
„Und warum tun Sie dann nicht, wozu Sie zu Ihrem Glauben an Gott verpflichtet sind?“ Sie spürte, wie ihr erneut die Tränen in die Augen stiegen. „Bitte, sie müssen mit mir kommen.“ Ihre Stimme versagte ihr, als der Priester nur abermals den Kopf schüttelte und erneut mit der Hand auf die Tür hinter ihr wies.
Da erkannte sie, dass es hoffnungslos war. Er würde nicht mitkommen. Seine Augen hatten es ihr bereits in dem Moment verraten, als sie dieses Zimmer betreten hatte. Doch war sie erst jetzt imstande gewesen, zu erkennen, was sie in ihnen gelesen hatte.
Angst.
Todesangst.
Den selben Blick hatte sie in den letzten Tagen zu häufig auf den Straßen sehen müssen. In den Augen ihrer Eltern. In den Augen ihres Mannes. In ihren Augen.
Plötzlich durchbrach ein schriller Schrei die zwischen ihnen entstandene Stille und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Erschrocken fuhr sie herum, stürzte auf die Tür zu und rannte zurück ins Kirchenschiff. Der Priester folgte ihr mit einigem Abstand, blieb im Gegensatz zu Elisabeth allerdings in der Tür stehen, während sie selbst erst stehen blieb, als sie die junge Frau auf dem kalten Boden kauern sah.
Ihr regloses Kind im Schoß wiegend, hatte sie den Mund zu einem gequälten Aufschrei aufgerissen, doch kein Laut entrang sich mehr ihrer Kehle. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt, als sie sich verzweifelt an ihren kleinen Jungen klammerte und mit ihm wie in Trance vor und zurück wippte.
Ihr Anblick schien ihr Herz mit einer Eisschicht zu überziehen und nahezu einzufrieren, als Elisabeth die junge Frau auf einmal durch die vollkommene Stille leise etwas wimmern hörte. „Warum? Warum? Warum?“ Immer wieder dieselben Worte kamen über ihre Lippen, halb erstickt von dem Haar ihres Kindes, in das sie ihr Gesicht gepresst hatte. „Warum nur? Was hat er denn getan? Was hat er getan?“
„Oh Gott ...“, hörte Elisabeth den Priester entsetzt hinter sich flüstern und sah kurz zu ihm hinüber. Sie erkannte gerade noch, wie er sich mit bleichem Gesicht hastig bekreuzigte, herumfuhr und die Tür mit einem Stoß hinter sich ins Schloss warf. Ein leises Klicken folgte; er hatte sich eingeschlossen, sich den Hilfe suchenden verweigert.
Das Kind war tot.
Da erkannte sie, es gab keine Hoffnungen mehr.
Für niemanden.