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Vespa
Er befestigte ein weiteres Foto an der Wand seines Arbeitszimmers. Sie war keine zehn Jahre alt, schätzte er und lächelte. Mittlerweile konnte er mehr als zwanzig junge Gesichter betrachten, während er im Home-Office arbeitete. Die perfekte Motivation. Sie würden ihn niemals erwischen. Sein Lächeln wurde breiter, als er an die offensichtliche Unfähigkeit anderer Verbrecher dachte.
Etwas landete auf seinem Arm und stach ihn. Er zuckte zusammen und schlug danach, aber das Insekt war schneller. Es landete an der Wand, direkt neben dem Fenster. Verharrte ruhig, als würde es ihn beobachten.
„Auch du kannst mir nichts“, flüsterte er und wollte aufstehen, den Arm unter fließendem Wasser kühlen.
Seine Beine gaben nach, so unerwartet, dass er hart auf dem Boden aufschlug. Für einige Sekunden blieb er ruhig liegen, wartete auf die beginnenden Schmerzen. Stattdessen begann sein Körper, sich taub anzufühlen. Und dabei anzuschwellen, als würde sich das Insektengift immer weiter ausbreiten.
Er lag auf der Seite und versuchte, sich auf den Bauch zu drehen, aber die Kraft reichte schon nicht mehr. Seine Wahrnehmung begann, sich zu verändern, als würde er durch unzählige, immer kleinere Fenster blicken, die sein Sichtfeld erweiterten. Auch mit seinen Händen geschah etwas. Sie wurden dunkler, bräunlich, wie mit einer Glasur überzogen. Die Finger bildeten sich zurück, wurden mit den Handflächen zu unförmigen Geschwülsten. Sein ganzer Körper war in Bewegung, schwoll an, transformierte sich. Immer wieder knackte es, als seine Knochen brachen.
Mit aller Energie, die er aufbringen konnte, schüttelte er den Kopf hin und her. Etwas war aus seiner Stirn gewachsen und pendelte vor seinen Augen. Der Schrei, den er ausstoßen wollte, wurde zu einem heiseren Gurgeln. Eine Flüssigkeit tropfte auf den Boden, braun und zähflüssig.
Langsam kehrte sein Körpergefühl zurück. Alles schmerzte. Er versuchte, erneut zu schreien. Statt einem Gurgeln entstand nun ein dunkles Brummen, unterbrochen durch klickende Laute. Die Schmerzen wurden nach und nach zu einem Kribbeln, seine Kraft kehrte zurück.
Er blickte an seinem veränderten Körper entlang. Die länger gewordenen Arme kamen aus den weißen Hemdärmeln hervor, wie karamellfarbene Stöcke, die in verformten Klumpen endeten. Seine Beine hatten sich noch mehr verlängert und die verwachsenen Gebilde, die zuvor seine Füße waren, hatten die Schuhe auseinandergerissen. Der Oberkörper war ein länglicher, ovaler Torso, gelblich und schwarz. Fast durchsichtige Flügel hingen schlaff herab. Fetzen seiner Stoffhose und des Hemdes hingen daran. Zwei Fühler bewegten sich im oberen Teil seines Sichtfeldes.
Trotz des Anblicks breitete sich Ruhe in seinen Gedanken aus. So wie er es nach dem Töten kannte, wenn er mit der Welt im Einklang war, niemand ihm etwas anhaben konnte.
„Zeig dich der Welt, niemand wird dich erkennen!“
Ein Gedanke wie von einem fremden Wesen. Aber so war es, jetzt standen ihm alle Freiheiten offen. Er versuchte, seinen neuen Körper wahrzunehmen. Die Flügel entzogen sich seiner Kontrolle, aber alles andere spürte er immer mehr, wurde Teil seines Bewusstseins. Er konnte in seiner veränderten Gestalt nicht aufstehen und zog sich daher mit dem, was zuvor seine Arme waren, aus dem Arbeitszimmer. Den Flur entlang zur Haustür, es ging immer besser, schneller. Beim dritten Versuch schaffte er es, den Oberkörper etwas zu heben und die Klinke mit seinem Handklumpen herunterzudrücken. Die Tür einen Spalt aufzuziehen und frische Luft mit seiner neuen Wahrnehmung zu spüren.
Mit immer geübteren Bewegungen zog er sich über den kleinen Weg durch seinen Garten bis zum Bürgersteig und blieb dort erschöpft liegen.
Ein Gruppe Kinder näherte sich, wahrscheinlich auf dem Weg zur Schule, dachte er. Sollen sie mich sehen, jetzt kann ich sie endgültig ungestraft vernichten. Sie blieben vor ihm stehen, betrachteten ihn ruhig.
„Was für ein erbärmlicher Clown“, sagte eines von ihnen. Ein Mädchen, die langen Haare zu Zöpfen geflochten.
Er wollte sie schnappen, wusste aber nicht wie. Als er sich in ihre Richtung zog, drückte ihn ein Junge mit dem Fuß zurück. Ein anderer sprang neben ihn und trat ihm in die Seite. „Machen wir ihn fertig, das Schwein hat es verdient!“, rief er zu den anderen. Sie umzingelten ihn und begannen, auf ihn einzuschlagen, zu treten, immer wieder. Das Mädchen spuckte ihn an.
Er spürte die Hiebe und Tritte, konnte sich nicht dagegen wehren, sein Körper loderte vor Schmerzen. Einer der Jungen hatte einen Baseballschläger dabei und begann, auf seinen Kopf einzuschlagen.
Kaum noch in der Lage, zu denken, wurde ihm schwarz vor Augen.
Dann hörte es auf. Keine Schmerzen mehr, seine Sicht war wieder klar. Er spürte seinen neuen Körper noch besser, auch die Flügel konnte er nun benutzen. Anscheinend befand er sich an einer Wand, nahe einem angelehnten Fenster.
Nicht weit entfernt saß jemand auf einem Bürostuhl und blickte starr auf eine Wand mit Fotos. Keine Regung war zu erkennen, wie eine seelenlose Hülle.
Er stieß sich von der Wand ab und flog hinaus, in eine andere Welt.