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Vielleicht kehrt das Leben zurück
Carolin stellte die Teetasse auf den Beistelltisch und setzte sich in ihren Lieblingssessel vor dem Panoramafenster. Böiger Wind wehte rötlichen Sand durch die flimmernde Luft. Die Gebäude mit Fassaden aus hitzeabweisendem Gestein standen in der Mittagssonne wie vergessene Kunstwerke. Lebten die Architekten noch, die diese abstrakten Formen geschaffen hatten? Bei einigen wunderte sie sich immer wieder, wie darin große Wohnungen Platz fanden, so wie die gebogenen Außenwände ineinander verschlungen waren.
Nach einigen Schlucken des wärmenden Getränks schloss sie die Augen und drehte gedankenverloren mit Daumen und Zeigefinger ihren Ehering. Bis sie von einem Klingelton geweckt wurde. Sie öffnete die Lider, vor ihr war eine kleine holografische Fläche erschienen. Mit dem Zeigefinger fuhr sie durch das grüne Bestätigungssymbol und nahm damit die Verbindungsanfrage an. Das Gesicht von Vitus erschien. Seine müden Augen lagen tief in den Höhlen.
„Vitus, was verschafft mir die Ehre?“, fragte Carolin.
„Brauche mal eine Auszeit und du meldest dich ja nicht von alleine.“ Er lächelte kurz.
„Vielleicht musst du nur geduldiger sein. Wie kommt ihr voran?“
„Wir starten heute Mittag eine weitere Prüfung. Wahrscheinlich ist sie in einigen Tagen startklar.“
„Respekt! Gar nicht so schlecht für euer Alter.“ Auch Carolin lächelte und nahm die Teetasse.
„Lust auf einen Ausflug, bevor ich wieder in der Montagehalle verschwinde?“
„Was schwebt dir vor?“
„Wir könnten ein Kino aktivieren. Oder zu einem der Flüsse?“
„Ich war schon lange nicht mehr unter der Erde. Funktionieren die Aufzüge noch?“
„Klar, die fahren schon.“ Vitus zwinkerte ihr zu.
„Sehr vertrauenswürdig! Aber warum nicht, wo treffen wir uns?“
„Ich komme dich abholen. In einer halben Stunde?“
„Okay, dann hab ich noch genug Zeit für meinen Tee.“
„Wie viele Menschen leben noch in diesem Gebäude?“, fragte Carolin, als sie und Vitus mit dem Aufzug in die Tiefgarage fuhren.
„Weiß nicht, hab lange nichts mehr außerhalb der Montagehalle mitbekommen. Wie geht es Benita?“
Carolin seufzte. „Hoffentlich gut, ich sollte sie mal wieder besuchen. Kaum zu glauben, oder? Unsere Zivilisation vergeht mit Einsamkeit und Teetrinken.“
Der Aufzug hielt, die Türen gingen auf. Flackernd sprang die Deckenbeleuchtung an und tauchte den weitläufigen, unterirdischen Raum in kaltes Licht. Fast fünfzig Fahrzeuge standen darin verteilt auf Induktionsflächen. Sie gingen zu einem kleinen Zweisitzer. Vitus berührte den Wagen und sagte: „Aktivierung.“ Daraufhin öffneten sich die beiden Türen, die Innen- und Außenbeleuchtung sprang an.
„Autopilot oder manuelle Steuerung?“, fragte die monotone Stimme des Bordcomputers, als sie auf der kleinen gepolsterten Sitzbank Platz nahmen.
„Autopilot“, erwiderte Vitus. „Bring uns zum Tunnelzugang Vier.“
Langsam setzte sich das Fahrzeug in Bewegung, fuhr zum Ende der Tiefgarage und die Rampe hinauf. Das metallene Tor wurde hochgefahren, Sand wehte ihnen entgegen. Auf dem Weg aus dem Stadtgebiet kamen sie an mehreren selbststeuernden Reinigungsfahrzeugen vorbei. Unermüdlich befreiten sie die Straßen von der rötlichen Schicht. Genauso die Bürgersteige, die niemand mehr benutzte. Selbst jetzt noch, mit dreiundsiebzig Jahren, bewunderte Carolin die Gestaltung der Gebäude. Eins sah aus wie eine mehrfach gebogene Büroklammer.
„Vielleicht hoffen viele, dass es irgendwann weitergeht“, sagte Vitus, als sie die freie Ebene erreichten.
Immer wieder fuhren sie über Schlaglöcher, niemand kümmerte sich noch um die Straßen außerhalb der Wohngebiete.
„Was meinst du?“
„Alles was wir aufgegeben haben. Unsere Arbeit, die Regierungen, das Leben.“
„Immer für eine Aufmunterung gut.“ Sie klopfte ihm auf den Oberschenkel. „Wenigstens hast du noch etwas zu tun und wartest nicht nur auf das Ende.“
Sie schwiegen während der weiteren Fahrt. Carolin blickte aus dem Seitenfenster. Am Horizont waren die Gebäude und Gewächshäuser des Produktionsbereichs zu sehen. Ausnahmsweise Häuser mit geraden Wänden, funktional und steril. Wie Ameisen wirkten die Roboter, die für die restliche Zeit genügend Nahrung und sauberes Wasser sicherstellten.
Sie erreichten den Zugang zum Tunnelsystem, ein kleines Gebäude mitten im Niemandsland. Der Wagen hielt direkt davor, Carolin und Vitus stiegen aus. Es war fast windstill, sie beeilten sich, aus der Sonne ins Innere zu kommen. Die Eingangstür glitt zur Seite und schloss sich hinter ihnen. Im Innenraum befanden sich neben dem Aufzug zwei Automaten an der hinteren Wand. Einer mit Getränken, der andere mit versiegelten Lebensmitteln.
„Darf ich dir etwas anbieten?“, fragte Vitus.
„Sehr großzügig!“ Carolin lachte kurz. „Ein Wasser reicht mir als Wegproviant.“
„Kommt sofort!“
Er zog eine Flasche, während Carolin zum Aufzug ging und den Rufknopf betätigte. Irgendwo weit unter ihnen setzte sich die Kabine in Bewegung. Erst nach einigen Minuten kam sie an, die metallene Tür schwang nach außen auf.
„Huch!“, rief Carolin und trat einen Schritt nach hinten. „Hatte fast vergessen, wie gemein diese Tür ist.“ Wieder lachte sie.
„Ich auch, sorry.“
Sie betraten den Aufzug und fuhren in die Tiefe.
Die Kabine vibrierte und klapperte. Carolin schloss die Augen und hielt sich an Vitus' Ellenbogen fest, bis sie unten ankamen. Kühle Luft wehte ihnen entgegen als die Tür aufging. In der dahinterliegenden Felskammer waren am Boden in regelmäßigen Abständen Lampen montiert. Nicht alle funktionierten, aber sie konnten ausreichend sehen. Am entfernten Ende der Kammer hörten sie den unterirdischen Fluss. Aufmerksam gingen sie über den unebenen Grund, vorbei an Stalagmiten und Gesteinsbrocken, die sich von der Decke gelöst haben mussten. Am Wasser angekommen kniete Carolin sich hin und hielt eine Hand hinein, genoss die Kühle um sich herum. Auch unter der Oberfläche waren Leuchtmittel angebracht, ließen die Umgebung schimmern.
„Niemand hat das Geheimnis gelöst, oder?“
„Des Wassers? Nein, glaube nicht.“
„Wo kommt es her? Auf eurem Zielplaneten gibt es mehr als genug.“
„Ja, dort bedeckt es Teile der Oberfläche. Sollen wir zum See?“
„Klar.“
Carolin stand auf. Sie folgten dem Fluss stromabwärts, verließen die Felskammer und betraten einen Tunnel. Auch hier waren genügend Lampen und Platz, um neben dem Strom zu gehen. Nach einigen Minuten bog nach links ein Bach ab, der durch einen Stollen floss. Hinter einer langgezogenen Biegung erreichten sie eine weitere beleuchtete Kammer, in deren Mitte war ein See. Sie gingen zum Ufer, zogen Schuhe und Socken aus.
„Wie in alten Zeiten“, sagte Carolin und setzte sich, ließ die Füße ins Wasser baumeln.
Vitus nahm neben ihr Platz und tat das Gleiche. Er öffnete den Verschluss der Wasserflasche und reichte sie ihr.
„Danke!“ Sie trank und gab ihm das Getränk zurück. „Vielleicht sollten wir wieder öfters etwas unternehmen.“
Vitus betrachtete die ruhige Wasseroberfläche. „Wäre wohl besser. Das Meiste hat aufgehört, nachdem die Entscheidung akzeptiert wurde. Keine weiteren Kinder.“
„Ob sich alle daran gehalten haben?“
„Weiß nicht, mir sind zumindest keine mehr über den Weg gelaufen.“
„Was sollten sie auch noch hier?“
Sie schwiegen eine Weile.
„Wir hätten wie früher unsere Schwimmsachen mitnehmen sollen“, meinte Vitus.
„Ach, die brauchen wir nicht.“ Carolin ließ sich nach vorne ins Wasser gleiten.
Vitus lachte. „Ich hätte es wissen sollen!“
„Komm rein, Wasser ist gut für alte Knochen.“ Auf dem Rücken schwamm sie zur Mitte des Sees.
Vitus stand auf, ging in die Knie und machte vorsichtig einen Kopfsprung.
„Nicht schlecht!“, rief Carolin, nachdem er aufgetaucht war und zu ihr schwamm.
„Ich werde spätestens morgen früh wissen, ob das eine gute Idee war.“
Sie kam nah an ihn heran, betrachtete ihn einige Sekunden. „Wir kennen uns eine Ewigkeit, warum waren wir nie ein Paar?“
„Weiß nicht. Du warst verheiratet, ich war verheiratet. Auch jetzt noch trägst du deinen Ehering.“
„So viel ist vergangen.“
„Aber wir sind noch hier.“
Für einigen Sekunden hielten sie den Blickkontakt, dann sah Vitus zum Ausgang.
„Möchtest du gleich mit zur Halle? Unser Wunderwerk der Technik bestaunen?“
„Klar, warum nicht?“
In der sengenden Mittagshitze erreichten sie die Montagehalle. Fast dreißig Meter ragte das ovale Gebäude in die Höhe. Die steinerne, gebogene Fassade glitzerte in der Sonne. Das Fahrzeug fuhr unter dem hochfahrenden Eingangstor durch in den dahinterliegenden Parkbereich. Drei weitere Wagen standen dort.
„Bereit?“, fragte Vitus.
„Denke schon.“
Carolin leerte die Wasserflasche, stieg aus und folgte Vitus. Er hielt sein Identifikationsarmband an den Scanner neben einer der Türen zum Konstruktionsbereich, die daraufhin zur Seite glitt. Sie betraten die riesige Halle.
„Nicht schlecht!“, rief Carolin, als sie die silbern glänzende Rakete erblickte. Mehrere Ingenieure und Techniker arbeiteten daran. „Wie habt ihr das denn geschafft?“
„Es hat zum Glück nicht mehr viel gefehlt, als wir mit den Arbeiten begonnen haben. Die meisten Projekte wurden damals nach der Entscheidung zur letzten Generation eingestellt, auch dieses. Wir haben hauptsächlich die verschiedenen Komponenten verbunden, Einzelteile ergänzt und testen nun alles immer wieder durch.“
Sie ging näher an das Flugobjekt heran und sah nach oben. Es reichte bis unter die Decke.
„Wo wird sie gestartet?“
„Genau hier. Das Gebäude kann auseinandergeklappt werden.“
„Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Wird es funktionieren?“
„Wir werden es leider nicht erleben, aber warum nicht? Wir schicken die Grundbausteine unseres Lebens zu einer vitalen Welt. Ich mache mich mal an die Arbeit, bleibst du noch etwas?“
„Nein, ich störe euch hier nur. Ich werde mal nach Benita sehen.“
„Okay, dann fahre ich mit den anderen zurück. Bis dann.“ Er strich ihr kurz über den Rücken.
„Bis dann. Pass auf dich auf.“
Die Tür glitt zur Seite, kurz nachdem Carolin geklingelt hatte. Sie betrat Benitas Wohnung, ihre Freundin war nicht zu sehen. Vom Ende des Flurs kam leise, instrumentale Musik. Carolin ging dorthin, vorbei an staubbedeckten Kommoden. Benita saß vor einem Fenster, die angewinkelten Knie mit den Armen umschlungen. Hinter der vom Boden bis zur Decke reichenden Scheibe war kaum etwas zu erkennen, der aufgekommene Sturm wirbelte Sand durch die Luft.
„Alles in Ordnung?“, fragte Carolin.
Auch im Wohnzimmer war alles verstaubt. Die Couch, der flache Tisch, auf dem die kleine Musikanlage stand.
„Nichts mehr zu sehen. Existiert die Welt noch?“, flüsterte Benita und summte mit den ruhigen Klängen.
„Klar, es ist nur der Wind und -“
„Nein!“, unterbrach Benita. „Es gibt nichts mehr! Wofür existieren wir noch?“ Sie wiegte sich vor und zurück.
Carolin schwieg. Sie wusste spontan keine Antwort und betrachtete die holografischen Bilder, die vor einer Wand schwebten. Auf einem waren sie und Benita. Sie hatten eine Motorradtour zu einem Canyon gemacht. Wie alt waren sie damals, knapp über zwanzig? Eine Erinnerung wie aus einem anderen Leben. Die meisten anderen Hologramme zeigten Benita und ihre Familie. Auf den meisten lachten sie.
„Such dir wieder eine Aufgabe, etwas, das dir Spaß macht“, sagte Carolin, als sie zu ihrer Freundin ging und sich neben sie setzte.
Mit glasigem Blick sah Benita hinaus. „Das versuche ich seit Jahren. Jedes Mal endet es hier vor diesem Fenster. Ich habe noch nicht mal mehr die Kraft zum Nachdenken.“
„Wir könnten wieder mehr Zeit miteinander verbringen.“
„Weißt du, warum ich mein Leben noch nicht beendet habe?“, fuhr Benita fort, als hätte sie ihre Freundin nicht gehört.
Carolin legte einen Arm um sie.
„Weil ich mir nicht eingestehen möchte, dass die letzten Jahre sinnlos waren. Ich sitze hier wie eine seelenlose Puppe vorm Fenster, Tag für Tag. Und weil ich ein ziemlicher Feigling bin.“ Sie sah Carolin an. „Hilfst du mir? Hast du noch Zugang zu den Tabletten?“
Tränen schimmerten in Carolins Augen. „Bitte mich nicht darum.“
„Tut mir leid. Ich habe sonst niemanden.“
„Ich weiß es nicht.“
„Denkst du drüber nach?“
„Ja.“
„Danke.“
Benita strich die grauen Haare zurück und lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Freundin.
„Ich möchte dir etwas zeigen, wenn es dunkel ist. Kommst du mit?“, fragte Carolin.
„Ist es weit weg?“
„Vielleicht eine halbe Stunde, aber du musst ja erst mal nur mit runter zu den Fahrzeugen.“
„Okay“, antwortete Benita nach einer Weile und begann wieder zu summen.
Sie betraten das Observatorium, eine gedimmte Beleuchtung ging an.
„Ich war erst einmal hier, als Kind“, sagte Benita und ging auf zittrigen Beinen zum Teleskop.
Carolin blickte sich in dem kuppelförmigen Raum um, den auch sie lange nicht mehr betreten hatte. Die dunkelblauen Wände waren mit Sternenkarten bemalt.
„Mein Mann ist mit mir regelmäßig hierhin gefahren. Er hatte immer die Vorstellung, dass die Menschen irgendwann selbst zu anderen Welten reisen.“
„Wer weiß. Vielleicht halten wir uns aber auch für zu wichtig und sind nur Staubkörner im Universum.“
Das holografische Display neben dem Fernglas listete mehrere Koordinaten auf. Eine davon war umrandet. Carolin hatte vermutet, dass es bereits auf diesen Planeten ausgerichtet war. Sie beugte sich nach vorne und blickte durch das Okular.
„Er sieht aus wie das Paradies!“, sagte sie und bekam Gänsehaut. „So viel Wasser und grüne Flächen. Sieh ihn dir an.“
Benita sah nur kurz hindurch und ging dann zu einem der Stühle am Rand der Sternwarte. „Ich möchte das hier nicht mehr, diesen krampfhaften Versuch, noch an ein weiteres Leben zu glauben. Sogar zum Weinen bin ich zu müde.“
„Benita, wir können doch -“
„Nein“, unterbrach sie. „Das hier ist ein guter letzter Ort. Hast du etwas für mich?“
Carolin zögerte, suchte nach weiteren Worten. Dann nahm sie etwas aus ihrer Umhängetasche, eine verpackte Tablette und eine kleine Flasche Wasser.
„Gib es mir einfach, bitte. Keine Abschiedsszene.“ Benita streckte die Hände aus.
„In Ordnung.“ Carolin reichte ihr die Sachen. „In einem anderen Leben machen wir wieder eine Welt auf Motorrädern unsicher.“
Benita nickte stumm und schloss die Augen, als Carolin den Raum verließ.
Vitus hatte das Grab fast zugeschaufelt, nicht weit von der Sternwarte entfernt.
„Warte“, sagte Carolin und zog ihren Hochzeitsring vom Finger.
„Bist du sicher?“, fragte er. Sein Atem kondensierte in der kühlen Morgenluft.
Sie antwortete nicht, gab dem Ring einen Kuss und legte ihn auf die rötliche Erde.
Nach wenigen Minuten war Vitus fertig. Er legte die Schaufel hin und formte mit Steinen einen Kreis auf Benitas letzter Ruhestätte. Dann setzte er sich, Carolin kam neben ihn.
„Ich hätte mich mehr um sie kümmern sollen. Sie war noch einsamer als die meisten von uns.“
Vitus legte einen Arm um ihre Schulter. „Niemand war mehr für sie da als du.“
„Bestimmt hätte sie ihr Grab so gewollt. Schlicht und einfach, mit dem Symbol des Lebens.“
Für einige Minuten schwiegen sie.
„In sechs Tagen ist es so weit.“
„Der Start?“
„Ja. Bis dahin prüfen wir alles immer wieder durch. Bin mir manchmal nicht sicher, ob ich Fehler überhaupt noch bemerke.“
Sie sah zum orangefarbenen, wolkenlosen Himmel. „Vielleicht entsteht etwas Neues und irgendwann blicken andere Lebewesen hierhin.“
„Wer weiß. Nur ist es dann ein toter Planet.“
Weitere Fahrzeuge erreichten das Gelände um die Montagehalle. Das Gebäude war wie eine Knospe geöffnet, die vier Teile in einem 45-Grad-Winkel geneigt. Die silberne Rakete ragte daraus hervor und reflektierte das Licht der Morgensonne. Im sicheren Abstand bildeten die Zuschauer einen Kreis um die Abflugstelle.
„Hätte nicht gedacht, dass noch so viele da sind.“ Carolin betrachtete die anderen Menschen und den entstehenden Ring. Viele mussten aus anderen Siedlungen hierhin gekommen sein.
„Das letzte große Ereignis unserer Zivilisation“, sagte Vitus.
Carolin nahm seine Hand, als die Triebwerke zündeten. Der Boden vibrierte. Nach einigen Sekunden stieg die Rakete in die Höhe, zuerst langsam, dann immer schneller. Mit rauchendem Schweif verließ sie diese Welt. Alle blickten ihr hinterher, wie sie immer kleiner wurde und schließlich als Punkt am Firmament verschwand. Dann setzte Stille ein. Niemand sagte etwas oder bewegte sich.
Nach einigen Minuten drehte Carolin sich zu Vitus. „Unsere Eltern und Großeltern haben in unserem Alter auch noch neue Dinge angefangen. Welchen Grund gibt es, damit aufzuhören?“
„Weiß nicht. Vielleicht weil es niemanden nach uns gibt, den es noch interessieren könnte?“
„Das ist für mich kein Grund, meine letzten Jahre zu verschwenden.“ Sie ging näher an ihn heran, er legte seine Hände an ihre Hüfte.
„Und was hast du vor, eine weitere Rakete bauen?“
„Warum nicht? Zeit genug haben wir. Oder wir erkunden den Planeten.“
„Auf jeden Fall sollten wir aufhören, alleine auf das Ende zu warten. Lass uns zurückfahren.“
„Warte! Sieh mal.“
Vereinzelt gingen Menschen auf die geöffnete Montagehalle zu. Immer mehr folgten. Carolin sah Vitus an, zuckte mit den Schultern und nahm seine Hand. Gemeinsam machten sie sich ebenfalls auf den Weg. Als sie das Gebäude erreichten, waren bereits viele dort, hielten jedoch einige Meter Abstand zueinander. Bis sie sich nach und nach annäherten und zögernd miteinander sprachen. Kleine Menschentrauben entstanden. Auch Carolin und Vitus stellten sich zu einer kleinen Gruppe.
Eine Frau mit weißem Kopftuch blickte zum Himmel. „Vielleicht kehrt das Leben irgendwann zurück.“
Carolin lächelte und streckte die Hand aus. „Wer weiß. Ich bin Carolin.“
Einige Sekunden zögerte die Frau, dann reichte auch sie ihre Hand. „Anna.“