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Vom Esel, vom Wagen, von der Zigeunerin
Ein Wagen rollte auf einer Straße durch die Hügel. Auf den Hügeln waren Felder, und, da es Herbst war, Bauern, die eifrig ihre Sensen schwangen. Der Himmel war unwahrscheinlich blau, ohne auch nur eine Wolke. Nur die rote, abendliche Sonne war von einer liebevollen Hand an ihn geheftet worden. Auf dem Wagen saß eine Zigeunerin in ihrem zu der Sonne passenden roten Kleid, und spielte eine Flöte. Gezogen wurde die kleine Karawane von einem faulen, starrsinnigen Esel, den die Zigeunerin von Zeit zu Zeit mit ihrer Rute antreiben musste.
Die Bauern hatten keine roten Kleider. Die ihrigen waren grau-lederbraun-zerlumpt, aber deren Besitzer waren nichtdestotrotz heiter, denn ihre Gegend war eine wohlhabende. Sie hatten Bier und Brei, Apfelwein und nicht selten auch Fleisch. Aber vor allen Dingen hatten sie gute Kameraden, die einem stets zur Hilfe eilen wollten, wenn dies vonnöten war. Sie arbeiteten zur Zeit viel, aber bei gutem Wetter, mit guten Freunden, und mit einer Gewissheit, dass der Abend ihre Arbeit in der Wirtschaft feiern wird, da arbeitet es sich leicht. Nun aber würde die Zigeunerin ihr Dorf besuchen.
Das Dorf, von welchem unsere Geschichte handeln will, lag auf einer Straße, die, wie der lokale Graf stets behauptete, einst von den Römern angelegt worden war. Auch zur Zeit, von der wir berichten, war die Straße groß und recht bedeutend, obschon auch keine Soldaten in ihren feschen Uniformen darüber marschierten. Beschritten wurde sie aber von verschiedenen Vagabunden, die von der einen Stadt in die andere gingen. Natürlich hielten sie in unserem vom Heugeruch durchdrungenen Dorfe an, brachten verschiedene seltene Handwerksgüter, aßen, tranken und erfreuten die Bevölkerung mit den unwahrscheinlichsten Geschichten, nahmen aber auch stets die hiesigen Sagen aufmerksam mit, aufdass andere Dörfer davon hören konnten. Deshalb stand die Gastfreundschaft oben auf der Liste der bäuerlichen Tugenden dieser Gegend. So wurde auch die Zigeunerin herzlich begrüßt.
Als der Wagen mit dem Esel und der Zigeunerin von den Bauernkindern gesichtet wurde, verbreitete sich die Kunde davon ziemlich rasch. Die Bauern bemühten sich, ihre Arbeit schneller abzurunden. Natürlich arbeiteten sie gewissenhaft, ja, sie erfreuten sich der Arbeit, aber wenn Gäste in ihr Dorf kamen, da wollten sie so schnell wie möglich fertig werden. Vor allem, wenn es eine Zigeunerin ist, die vorbeifährt – denn Zigeuner sind aufregend. Sie sind immer gut im Erzählen, Singen und Musizieren, ihre Frauen aber können zaubern. Sie wissen die Zukunft vorauszusagen und kennen Sprüche, die das Unheil abwenden. So eilten die Männer gleich ihren Kindern schon früh in ihr Dorf zurrück, denn die Zigeunerin war schon da.
Die Zigeunerin hatte zwar keine Waren, war aber heiter und fröhlich, sowie begabt darin, selbst das nüchternste Dorf schon bald zum Singen und Tanzen zu bringen. Sie war jung und recht mager, ihr Haar war lang und dunkel. Manche behaupteten, sie sei schön gewesen, aber es war nicht wirklich der Fall. Was sie so anders, so reizend machte, war ihre äußerste Lebhaftigkeit, die sie von den Bauersfrauen unterschied, die zwar ihre nur zu oft trunkenen Männer temperamentvoll zu schelten vermochten, nicht aber eine fröhlich unbesorgte Stimmung verbreiten konnten.Vielmehr mussten Männer ihre Frauen recht mühevoll anflehen, doch bitte etwas spendabler sein zu dürfen. Unsere Geschichte aber handelt von der liebenswürdigen Zigeunerin. Es war schon recht seltsam, das sie sich alleine auf Reisen begab.
Die Sonne begann, sich hinter den Hügeln zu verbergen, während im Osten sich einige Wolken zeigten. Im Dorfe aber wurde gefeiert. Wein und Bier wurde ohne Maß eingeschenkt, Brote und Kuchen wurden gebacken. Ein dicker, bärtiger Bauer hatte sogar ein Schaf geschlachtet! Feuer wurde in der Dorfmitte entfacht, während die Tische mit Laternen geschmückt wurden. Es wurde ja auch langsam dunkel, und die Zikaden stimmten ihr Lied an. Die Dorfbevölkerung aber sprach und lachte, und jeder wartete durch den Geruch angestachelt, wann das Schaf endlich geniesbar werden würde. So auch die Zigeunerin, die allerdings recht verwundert über eine derart warme Aufnahme war, und sich erst finden musste, um der Situation gerecht zu handeln.
Der Dorfjude und der Pfarrer tranken den kirchlichen Rotwein aus einem Kruge. Der Pfarrer war alt, grau und scheinbar zerbrechlich. Dem war aber in der Tat nicht so, denn er war ein Mann vom starken Willen – und der Wille kann oft einen Mangel an Körperkraft ausgleichen. Streng, ja gar neophytisch in seiner Jugend, wurde der Pfarrer nach Jahren in diesem Dorfe von der allgemeinen Gemütsfreude angesteckt, und konnte nicht anders, als jeden seiner Mitbürger zu lieben. Bemerkenswerterweise verband ihn mit dem Juden eine besonders tiefe Freundschaft, die wohl darin ihren Grund hatte, dass beide Männer für die dörflichen Verhältnisse ziemlich belesen und gebildet waren. Auch hatte der Pfarrer den Ehrgeiz, den Juden, der ja an sich ein guter, schlauer Mensch war, zu dem wahren Glauben zu bekehren, und damit zumindest eine Seele zu retten. So sprach er ihn beständig in einem scherzhaften Ton über Glaubensfragen an, worauf der Jude stets im selben, wenn auch etwas respektvolleren Tonfall antwortete. Er war ja ein Sproß einer Rabbinerfamilie. Er wurde von jedem gemocht, eigentlich.
Die Zigeunerin erzählte von Wundern und Zaubern, von großartigen Erfindungen und unerhörten Begebenheiten, die sie allesamt miterlebt zu haben schwor. Früher würden solche Reden den Pfarrer vielleicht befremden, aber nun war er ein weiser, alter Mann, und hatte keine Lust, die Stimmung zu zerstören mit langweiligen Predigten oder bösen Konfliktaufhetzungen. Er ließ die Zigeunerin sprechen, und die Bauern lauschen, wenngleich es der Sache des Aberglaubens, den es zu bekämpfen galt, unheimlich verhalf. Die Bauern lauschten auch gespannt, der Jude und der Pfarrer aber kommentierten das Gesagte nur ab und zu auf eine ironisch-sarkastischen Weise, die die Bauern nicht verstanden, die Zigeunerin aber kunstvoll ignorierte.
Dann war das Schaf fertig, und man aß und trank sich satt. Der Zigeunerin wurde ein warmer Platz zum Übernachten gegeben. Noch während der Nacht aber begann es zu regnen, und zwar recht stark. Die Wolken, von einem stürmischen Wind angetrieben, benetzten den Himmel, und bedeckten ihn vollständig. Die Bauern gingen nur widerwillig, und doch lebensfroh auf ihre Felder, denn sie wussten, das sie gerade ihre künftigen Kuchen und Brote, ihr künftiges Bier und ihr künftiges Schnaps aufsammelten. Die Zigeunerin aber blieb den ganzen Tag lang in dem ihr zugewiesenen Stall, wie auch den nächsten Tag. Am dritten Tag aber verstarb sie, so früh wie man eigentlich nur selten starb.
Sie wurde feierlich zu Grabe getragen, mit allem Gebührenden, doch ohne wahrer Klage um sie: man hatte sie noch nicht recht gekannt. Schade fand man es trotzdem, dass eine derart junge Frau plötzlich vom Tod ereilt wurde. Man gedachte der eigenen Endlichkeit. Sie wurde dort beigesetzt, wo auch die Christen ihre Ruhe fanden, ohne allerdings einen Namen auf einem Grabstein zu haben. Man wusste nicht, wie sie hieß, und stellte ein schlichtes Kreuz auf. Der Pfarrer sprach, und jeder nahm sein Hut ab. Dann gingen sie an die Arbeit, mit der Zigeunerin in den Gedanken. Jeder wurde nachdenklich, aber nicht wirklich traurig.
Dann wurden einige Bauern schwach. Sie fühlten sich krank, gingen aber trotz allem jeden Tag auf die Felder. Es war ja Erntezeit, und wenn man nicht hinausging, würde man im Winter weniger essen. Gerade im Winter ist Nahrung eine große Notwendigkeit. Wenn es kalt ist, wenn der Schnee liegt, wie fröhlich macht einen dann der Kuchen? Sehr fröhlich! Dann aber verstarben die ersten. Man war traurig, und klagte. Es waren Brüder und Väter, Schwester und Mütter, Söhne und Töchter, die dieses Mal verschieden waren. Man war traurig, als die ersten zwei starben. Als vier Bauern tot waren, wussten die anderen Kranken, das sie auch sterben mussten. Es wurden mehr Gräber gegraben, als nötig, da man wusste, das mehr Leute sterben würden.
Als zwölfe tot waren, der Pfarrer aber schwer krank, da sagte einer, die Zigeunerin sei eine Hexe gewesen. Die Erde, so dachte man, wollte die Zigeunerin nicht aufnehmen, und so wollte Gott sie bestrafen. Den Pfarrer und die Bevölkerung sollte bestraft werden, weil sie teuflisch-abergläubige Geschichten, die verfluchten Sprüche und Vorhersagen der Zigeunerin toleriert hatten. So beschloss man, sie auszugraben.
Sie schien immer noch schön zu sein, in ihrem roten Kleid. Bleich war sie geworden, ihre Fingernägel aber lang, wodurch sie noch stärker an eine Hexe erinnerte. Die Bauern wurden unschlüssig, als sie die Zigeunerin sahen, doch eine jede Möglichkeit, ihr Leben, das Leben ihrer Nächsten zu retten, war ihnen Willkommen. Traurig bahrte man sie auf. Traurig, aber mit Hoffnung, sah man das Feuer am Waldrande, doch stand man weit abseits, um nicht den grässlichen Zerfall ihres Körpers beobachten zu können.
Auch der Graf wurde traurig, als er erfuhr, das in seinen Ländereien eine Seuche wütete. Traurig befahl er, Wachen auf der Straße aufzustellen, die die Wanderer am weiter-, die Bauern aber am fortziehen hindern sollten, aufdass sich die Krankheit nicht verbreiten konnte. Traurig und vergeblich suchen wir den Namen des Dorfes, von dem unsere Geschichte handelte, auf neueren Landkarten. Traurig erinnern wir uns an die Zigeunerin, ihren Wagen und ihren Esel.