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Vom Leben gezeichnet

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01.08.2017
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Vom Leben gezeichnet

Weiße Leinwände gibt es in vielen Größen und Räumen dieser Stadt.
Carola hat sich letztens fünf davon gekauft, und die stehen jetzt quer verteilt in ihrer Wohnung. Carola studiert Kunst auf Lehramt und erhofft sich von den letzten Semesterferien so einiges.
Sie will endlich Ruhe. Mal eine Woche von der Sonne geweckt werden und nicht vom Wecker oder der Müllabfuhr. Abends feiern, ohne an den nächsten Tag zu denken. Auf dem Balkon sitzen, wenn die Sonne genau um vier um die Häuserwand gekrochen kommt und sich vom Leben halten zu lassen anstatt umgekehrt.
In ihre Tagträumen versunken, gleitet, der Faden der Vorlesung an ihr vorbei.
Carola hasst endlose Kunsttheorie. Sie will Kunst machen; mit Händen und Füßen mit Worten und anderen Menschen und glaubt, dazu müsse man nichts lernen.
Einmal entdeckte sie mitten im Treiben der Einkaufsstraße einen roten Ballon und sah minutenlang zu, wie er im steten Puls der Menge mit den Einkaufenden tanzte.

Manchmal, wenn sie das Gefühl hat, sich leer gelebt zu haben, setzt sie sich unauffällig in die hinterste Ecke eines Spielplatzes und sieht den Kindern beim Spielen zu, bis das Gefühl verschwindet. Doch auch sie, so unberührt sie nach außen wirken mag, erwischt sich mittlerweile dabei, wie sie ihre Lippen blutig beißt, wenn ihre Leinwände zu lange weiß bleiben. Wie auch sie im Angesicht des täglichen Hamsterrades vergisst, der Kassiererin bei Alnatura einen schönen Tag zu wünschen.
Eines Tages gibt sie sich einen Ruck, fährt mit ihrem Anhänger ans Klapprad geschnallt zur Galerie und kauft sich jene 5 Leinwände. Nun wird sie Extraschichten im Café übernehmen müssen, dafür sind sie herrlich groß und weißer als es jede Weste, eingeschlossen ihre, je sein könnte.

Am Abend des ersten vorlesungsfreien Tages holt Carola ihren Schlafsack aus dem Schrank und legt sich auf dem Fußboden des Zimmers, dass sie Wohnzimmer nennt. Um sie herum die fünf leeren Staffeleien, im Mondlicht so hell glühend, dass sie erst einschlafen kann, als Wolken aufziehen.
Am nächsten Morgen geht sie ohne zu frühstücken und mit schmerzendem Rücken, ihren einzigen Stuhl unter den Arm geklemmt aus der Wohnung und setzt sich auf die schön bepflanzte Verkehrsinsel vor dem Haus.
Gut sechs Stunden später wechselt sie mit knurrendem Magen und sonnenverbranntem Gesicht auf den Balkon. Dort greift sie nach ihrem Nokia und ruft alle ihre Freunde und noch ein paar mehr an, bis sie meint, die Aufnahmekapazität ihrer Wohnung mehr als ausgereizt zu haben.
Sie bittet alle Essen mitzubringen, mittlerweile hat sie wirklich Hunger, und mit den letzten Euros aus dem Blumentopf in ihrem nach Spektralfarben sortierten Bücherregal besorgt sie für alle Getränke.
Gegen 10 ist die Wohnung zerspringend voll, wozu die Staffeleien nicht unerheblich beitragen.
Als Carola am nächsten Tag aufwacht, ist es bereits dunkel und da sie weder sehr sicher auf den Beinen ist, noch im Halbdunkel für die Sauberkeit des Bodens garantieren kann, bleibt sie einfach liegen.
Würde man näheres über die Party von ihr wissen wollen, könnte sie nur spekulieren, und auch das nicht allzu lange, da ihre Kopfschmerzen längeres Denken unmöglich machen.

Einige Monate später ist die Abschlussarbeit fällig und so betritt sie schwer bepackt und in Eile ein letztes Mal die Universität, ihr Projekt im Anhänger.
Frei aus dem zugehörigen Aufsatz folgende Worte: „Für die, die meinen auf der Suche zu sein, für die, die meinen früher war alles besser und für die, die über den Alltag klagen, habe ich diese Leinwände. Das Leben passiert.“
Dies sind auch die einzigen Worte in ihrem Aufsatz, der damit dem theoretischen Anspruch wohl nicht genügen konnte. Carola mag nun mal keine Theorie, vielleicht wird sie auch doch nicht Lehrerin.
Ob sie die Arbeit dennoch bestanden hat, weiß sie selbst nicht. Noch am selben Tag nimmt sie einen einfachen Flug nach Turku, um ein Jahr in den Wäldern Finnlands zu leben.
Doch eines weiß sie: Weiße Leinwände muss es in vielen Größen und Räumen dieser Stadt geben. Carolas fünf sind nun nicht mehr weiß. Auch an ihnen ist die Party damals nicht spurlos vorbeigegangen.

Das alles ist jetzt lange her.
Wenn ihr heute, morgens um 10 denkt, ihr traut euren Augen nicht, weil da mitten im Lärm der Autos eine kleine Gestalt auf der Verkehrsinsel sitzt, oder ihr in der vollen U-Bahn von einer Frau mit niemals ordentlichen Haaren, sonnenverbranntem Gesicht und Augen so klar und tief wie eine Gletscherspalte warm angelächelt werdet, oder wenn ihr Plakate für Ausstellungen seht, auf denen bloß Vom Leben gezeichnet" steht, dann wisst ihr, es ist Carola und sie ist sich treu geblieben.

Wer selbst vor einem Stück Weiß sitzt, der soll an Carola denken, an ihre Ansichten zur Theorie und zum Leben und beruhigt sein, denn das Weiß wird noch viel zu erzählen haben.

 

Hallo Karjala,

Toller Text!
Ich finde deinen Schreibstil sehr angenehm und unaufdringlich. Du schaffst es dabei, Carola authentisch darzustellen und ich als Student, konnte mich sofort mit ihrer inneren Zerrissenheit identifizieren.
Ich hatte sogar kurzzeitig das Gefühl, dass du vielleicht über dich selbst schreibst.

Mir fiel dennoch auf, als ich deinen Text zum zweiten Mal gelesen habe, dass du in den ersten Sätzen deiner Geschichte über Inhalt sprichst, der in der Handlung zwischen dem zweiten und dritten Absatz angesiedelt ist.

Carola hat sich letztens fünf davon gekauft, und die stehen jetzt quer verteilt in ihrer Wohnung.

Dann fährst du chronologisch fort, und lässt den Leser glauben, dass er sich nun in der Gegenwart befindet und Carola begleitet. Bis du am Ende davon sprichst, dass dies alles weit in der Vergangenheit liegt.

Das alles ist jetzt lange her.

Trotzdem benutzt du in beinahe deinem ganzen Text Präsens.
Ist mir beim ersten lesen nicht aufgefallen, hat mich aber beim zweiten Mal dann doch irgendwie verwirrt. Wo liegt jetzt die Gegenwart des Erzählers?

Ich weiß, dass ist Meckern auf hohem Niveau und erinnert dich vermutlich an den allzeit nörgelnden Deutsch Lehrer in der Schule, aber ich wollte dich einfach darauf ansprechen.

Wenn du jedoch deine Absichten hinter alldem hattest, dann belehre mich gerne eines besseren.

Liebe Grüße,

Dave

 

Hallo Dave,

erstmal danke für deine Rückmeldung. Dass du dich als Student identifizieren konntest, ist schön, genauso authentisch soll es natürlich sein. Über mich selbst schreibe ich allerdings nicht, das ist, ob mans glaubt oder nicht, der reinen Phantasie entsprungen. :D

Mit der Erzählstruktur hast du natürlich recht. Das ist mir selbst auch aufgefallen. Ich versuche es mal zu erklären.

Der doch sehr dominante Erzähler erzählt einfach eine Geschichte, daher das Präsens.

Diese Geschichte liegt aber schon einige Zeit zurück, so lässt sich der Satz am Ende erklären, indem der Erzähler kommentierend eingreift, was aus der sonstigen Erzählhaltung herausfällt:

Das alles ist jetzt lange her.

Die Sätze am Anfang hingegen:
Weiße Leinwände gibt es in vielen Größen und Räumen dieser Stadt.
Carola hat sich letztens fünf davon gekauft, und die stehen jetzt quer verteilt in ihrer Wohnung.
dienen als eine Art Einleitung des Erzählers, entsprechen also einem Vorgriff, der wie du richtig gesagt hast, in der Handlung erst später kommt.

Hoffentlich kann dir das ein bisschen helfen, ist vielleicht auch einfach ein zu harter Bruch, wenn es so sehr verwirrt.

Nochmal Danke,
Karjala

 

Hallo Karjala,


Wer selbst vor einem Stück Weiß sitzt, der soll an Carola denken, an ihre Ansichten zur Theorie und zum Leben und beruhigt sein, denn das Weiß wird noch viel zu erzählen haben.

Was für ein hübscher Satz, um in einem Literaturforum zu starten. :)

herzlich Willkommen hier, Karjala. Deine Geschichte kommt so heiter und leicht daher, das hat mich angesprochen. Eigentlich hat sie zwei Seiten in mir berührt, die eine, die sich von der Konsequenz und dem Vertrauen deiner Protagonistin inspiriert fühlt, die andere, die eben doch misstrauisch bleibt. Speziell das Bild mit der Verkehrsinsel löst am Ende eher so ein Gefühl von Stagnation aus in mir, auch Einsamkeit, aber das hast du bestimmt nicht gemeint.

Aber der Reihe nach.

Carola hat sich letztens fünf davon gekauft, und die stehen jetzt quer verteilt in ihrer Wohnung. Carola studiert Kunst auf Lehramt und erhofft sich von den letzten Semesterferien so einiges.

Zweimal Carola. Hm. Aber irgendwie auch drollig. Verweist sofort auf den, wie du es nennst "dominanten Erzähler".

Sie will endlich Ruhe. Mal eine Woche von der Sonne geweckt werden und nicht vom Wecker oder der Müllabfuhr. Abends feiern, ohne an den nächsten Tag zu denken. Auf dem Balkon sitzen, wenn die Sonne genau um vier um die Häuserwand gekrochen kommt und sich vom Leben halten zu lassen anstatt umgekehrt.

Schön klar. Nur der letzte Halbsatz irritiert mich. Sonst "hält sie das Leben"? Darunter kann ich mir nichts vorstellen.

In ihren Tagträumen steht Carola vor einem Amboss und schmiedet Pläne, während der Faden der Vorlesung an ihr vorbeigleitet.

Zwei verschiedene Metaphern zu kombinieren, das ist mir zuviel. Auch glaube ich ihr das nicht, dass sie das wirklich tagträumt, im Gegensatz z.B. zu dem Wunsch auf dem Balkon zu sitzen. Das ist mir zu abstrakt für einen Tagtraum. Also, irgendwie wirkt dieser ganze Satz auf mich bemüht, ich würde ihn nicht vermissen.

Sie will Kunst machen; mit Händen und Füßen mit Worten und anderen Menschen und glaubt, dazu müsse man nichts lernen.

Hier tritt der Erzähler stark nach vorne. Erst am Ende der Geschichte wird deutlich, dass er diese Haltung durchaus wertschätzt. Hier bin ich mir noch nicht sicher, ob da nicht eine leise Missbilligung drinsteckt.

Manchmal wenn sie das Gefühl hat, sich leer gelebt zu haben, setzt sie sich unauffällig in die hinterste Ecke eines Spielplatzes und sieht den Kindern beim Spielen zu, bis das Gefühl verschwindet.

Vielleicht könnte sie auf der Verkehrsinsel am Ende noch ein paar Kinder um sich rum sitzen haben? Nur ein Gedanke. Oder im Tragetuch auf dem Rücken, nee, geht auch nicht wegen der Abgase.

Doch auch sie, so unberührt sie nach außen wirken mag, erwischt sich mittlerweile dabei, wie sie ihre Lippen blutig beißt, wenn ihre Leinwände zu lange weiß bleiben. Wie auch sie im Angesicht des täglichen Hamsterrades vergisst der Kassiererin bei Alnatura einen schönen Tag zu wünschen.
Eines Tages gibt sie sich einen Ruck

Wow, das ist nun die Krise, die sie dazu bringt, ihr Leben radikal zu ändern! Deine Carola muss eine Waldorfschülerin sein. Ich bin fasziniert und neidisch. Bei anderen braucht es da erheblich mehr Leidensdruck. Aber mir gefallen die Bilder, ich habe sie gut vor Augen. Die Kassiererin bei Alnatura ist klasse. Einen relativ hohen sozialen und moralischen Anspruch an sich hat Carola aber schon. Mal muffelig "nicht grüßen" ist nicht gut.

Um sie herum die fünf leeren Staffeleien, im Mondlicht so hell glühend, dass sie erst einschlafen kann, als Wolken aufziehen.

Wunderbar!

Sie bittet alle Essen mitzubringen, mittlerweile hat sie wirklich Hunger, und mit den letzten Euros aus dem Blumentopf in ihrem nach Spektralfarben sortierten Bücherregal besorgt sie für alle Getränke.

Ich kann mir nicht helfen, aber ich meine, der Erzähler hat doch einen kleinen Hang zur Ironie. Bist du Carolas Vater?

Carolas fünf sind nun nicht mehr weiß. Auch an ihnen ist die Party damals nicht spurlos vorbeigegangen.

Schön, dass das erst jetzt kommt, gut platziert.

Wenn ihr heute, morgens um 10 denkt, ihr traut euren Augen nicht, weil da mitten im Lärm der Autos eine kleine Gestalt auf der Verkehrsinsel sitzt, oder ihr in der vollen U-Bahn von einer Frau mit niemals ordentlichen Haaren, sonnenverbranntem Gesicht und Augen so klar und tief wie eine Gletscherspalte warm angelächelt werdet, oder wenn ihr Plakate für Ausstellungen seht, auf denen bloß (Anführungszeichen fehlen) Vom Leben gezeichnet" steht, dann wisst ihr, es ist Carola und sie ist sich treu geblieben.

Wie gesagt, der erste Satz kommt mir eher ein bisschen wie hängengeblieben vor, der zweite Satz mit der U-Bahn ist mir zu kitschig und mit den Plakaten, das ist eine schöne Idee, wirkt aber in Kombination mit dem ersten Satz auch, wie stehengeblieben. Du schreibst "sich treu geblieben". Worin ist sie sich treu geblieben? In ihrer Ablehnung in ein "Hamsterrad" einzusteigen? Dinge zu lernen, die sie überflüssig findet, um ein Ziel zu erreichen? Ja, das könnte passen.

Also ich habe deine Geschichte gerne gelesen und bin gespannt auf mehr.

Liebe Grüße von Chutney

 

Hey Chutney,

schöne Sachen hast du gefunden(das ist ernst gemeint, genau das brauche ich).

Einiges werde ich versuchen zu erklären.

Sonst "hält sie das Leben"? Darunter kann ich mir nichts vorstellen.
.

Damit ist der krampfhafte Versuch alles geregelt zu kriegen gemeint, der einen im Alltag überkommt, wenn man zu viel zutun hat. Ist aber sehr missverständlich formuliert, da hast du Recht.

In ihren Tagträumen steht Carola vor einem Amboss und schmiedet Pläne, während der Faden der Vorlesung an ihr vorbeigleitet.

Viel zu dick aufgetragen, werde ich ändern.

Wow, das ist nun die Krise, die sie dazu bringt, ihr Leben radikal zu ändern! Deine Carola muss eine Waldorfschülerin sein. Ich bin fasziniert und neidisch. Bei anderen braucht es da erheblich mehr Leidensdruck.

Das soll so extrem nicht wirken. Weder ist die Entscheidung so radikal, wie du es aufgefasst hast, noch ist ihre Krise so tiefgehend.
Sie ergreift angesichts der Dinge, die sie an sich merkt bloß eine Maßnahme.

Ich kann mir nicht helfen, aber ich meine, der Erzähler hat doch einen kleinen Hang zur Ironie. Bist du Carolas Vater?

Carolas Vater auf keinen Fall, ganz sicher aber eine u.a auch ironisch kommentierende Instanz.

Wie gesagt, der erste Satz kommt mir eher ein bisschen wie hängengeblieben vor, der zweite Satz mit der U-Bahn ist mir zu kitschig und mit den Plakaten, das ist eine schöne Idee, wirkt aber in Kombination mit dem ersten Satz auch, wie stehengeblieben.

Absolut "hängengeblieben", so ist es auch gemeint, auch wenn das Wort zu negativ ist. Im Grunde hat sie gefunden, was sie glücklich macht. Wenn daraus eine Art von Einsamkeit resultiert, ist sie dennoch glücklich.

Danke für deine Kritik, ich werde einiges überdenken müssen.
Liebe Grüße,
Karjala

 

Hallo maria.meerhaba,

formale Fehler sind bereits geändert.

Schade für die Kinder, sie werden es wohl nie lesen. War aber auch, wenn ich deinen Kommentar richtig verstehe, nur auf den Stil bezogen.

Ich spare mir die Erklärungen für den Rest, es ist auf jeden Fall schade, dass du die Geschichte samt Figur nicht mochtest. Sei dir sicher, dass dein Kommentar ein winziger Schritt auf dem langen Weg zur funktionierenden Geschichte ist.

Ich nehme mir deine Kritik zu Herzen, aber nicht zu sehr und in dem Sinne vielen Dank für deine Anmerkungen.

Liebe Grüße,
Karjala

 

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