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Von Anderswo
Ich bin auf einem Floß in dieses Land gekommen. Ich ließ es am Ufer zurück, weil ich keine Verwendung mehr dafür hatte, ich hatte wieder festen Boden unter den Füßen und hörte wieder andere Geräusche als das Schwappen der Wellen, das Pfeifen des Windes und das Krächzen der Möwen.
Zuerst habe ich gegessen. Ich habe Sand gegessen, einfach, um etwas im Magen zu haben. Ich hatte gehofft, zwischen dem Sand Schildkröteneier zu finden, und stattdessen wurde ich gefunden. Von ihnen, dem Mann und der Frau, ich sah sie über den Sand auf mich zugeprescht kommen, ich war mir sicher, dass sie kamen, um … ich weiß nicht, was ich dachte. Aber ich weiß, dass ich ihnen nicht vertraute und ich deshalb die Flucht ergriff, dass ich dem Mann deshalb den Arm brach, als er mich einholte und versuchte, mich festzuhalten. Ich hatte nichts im Magen außer einem Haufen Sand, und trotzdem war ich stark und unberechenbar, ich sah das Weiß meiner Knöchel durch die Haut schimmern, als das Weiß seiner Knochen durch die Haut brach. Der Mann gab auf, er blieb dort liegen, aber die Frau lief mir weiter nach, rief nach mir, so laut und so krächzend wie die Möwen, und am liebsten hätte ich auch ihr den Arm gebrochen, einfach um ihr klarzumachen, dass ich jetzt Ruhe brauchte, dass ich nichts wissen wollte von ihren Worten, die ich sowieso nicht verstand.
Ich flüchtete ins Landesinnere. Ich aß noch mehr, ich aß Baumrinde und Blätter, ich grub Wurzeln aus und biss mir an ihnen die Zähne stumpf, ich trank schlammiges Wasser, das nicht nach Meersalz schmeckte, und erbrach alles in einem stinkenden, dampfenden Schwall. Dann kam die Nacht, und mit ihr das Licht.
Plötzlich war es da. Zuerst war es nicht mehr als ein Fleck in der Finsternis, doch je näher ich mich heranwagte, desto deutlicher sah ich es leuchten. Es bewegte sich. War lebendig. Ich gab mir Mühe, nicht entdeckt zu werden, setzte jeden Schritt mit Bedacht, ich war der ungebetene Gast, war der Eindringling im Revier dieses fremden Wesens, und noch konnte ich nicht wissen, ob es mir freundlich gesinnt war. Ich taumelte. Schwankte. Mein Hirn drohte überzulaufen.
Aber nichts, was so schön war, konnte böse sein, sagte ich mir, nichts, was so tanzte, so schwebte … Und so trat ich ihm gegenüber, willenlos und schwach, und wurde von seinem Lichtschein durchflutet. Ich war blind. Ich war glücklich.
Aber dann hörte ich ihn, ich hörte den Mann mit dem gebrochenen Arm und ich hörte die Möwe und begriff, dass sie es war, die mich blendete. Die Möwe krächzte, ich knurrte, sie kam auf mich zu und ich biss zu, ich riss ihr das Fleisch aus dem Rumpf und aus der Wade und schluckte es unzerkaut herunter und das leuchtende Ding fiel aus ihrer Hand auf den Boden. Dann schlug ich meine Krallen in das Gesicht des Mannes, und ich weiß nicht, was danach geschah. Ich habe es vergessen, verdrängt, nie gewusst, ich weiß nur noch, wie ich mit brennender Lunge und brennendem Schädel wieder zu mir kam, an einem Ort, den ich nie zuvor gesehen hatte, eingesperrt, gefangen, mit Stäben vor meinem Hundemaul, meinem Wolfsmaul, und wie mich seitdem Nacht für Nacht Albträume aus dem Schlaf reißen, wie ich alles in Frage stelle, wie ich der festen Überzeugung bin, dass es das Floß niemals gegeben hat, dass ich in Wahrheit von unter dem Wasser komme, von hinter den Wolken, von irgendwo anders, wo es keine Möwen gibt und keine Menschen und auch sonst nichts … Alles Lüge, alles Illusion …