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Von der Liebe einer Ameise
Vor vielen, vielen Jahren, als die Menschheit noch tief verborgen in der Erde schlummerte, lebte in einem kolossalen Haufen eine Ameise namens Tola. Sie war eine einfache Sucherin und so musste sie ihre Wohnung mit hunderten Schwestern teilen. Sie besaß im Grunde nichts, außer ihren scharfen Werkzeugen, ihrem Panzer und ihr bisschen Leben. Nichtsdestotrotz war sie zufrieden damit. Es war nämlich so, dass Besitz und Eigentum in der Welt der Ameisen keine Bedeutung hatten.
Als Tola an einem verregneten Septembermorgen auf der Suche nach Essbaren durch das nasse Gehölz krabbelte, entdeckte sie ein Rosenblatt. Sie nahm es in die Zange und machte sich auf den Rückweg, denn dies schien ihr eine geeignete Nahrung für die anderen zu sein.
Doch plötzlich blieb sie stehen. Tola legte das Blütenblatt behutsam auf einen Kiesel und betrachtete es von allen Seiten. Sie tastete es mit den Fühlern ab und zog seinen Duft ein. Auf eine sonderbare Weise fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Da kam ihr der Einfall, dieses Rosenblatt ihr Eigen zu nennen und mit niemanden auf der Welt teilen zu wollen.
Ängstlich blickte sie umher. Hatte sie jemand gesehen? Schnell versteckte sie das Blatt unter einer alten Wurzel und machte sich auf den Nachhauseweg.
Am Bau angekommen, wurde sie von einer großen Wächterin aus der Menge gezogen.
„He, du da! Wie kannst du es wagen ohne Beute zurückzukehren?“
Tola schluckte.Vor lauter Aufregung hatte sie doch tatsächlich vergessen, Nahrung mitzubringen. Seine Aufgabe zu vernachlässigen, galt bei Ameisen als ein schweres Verbrechen.
„D-doch!“, stotterte Tola. „Ich habe eine Beere gefunden, aber dann kam plötzlich eine Amsel herabgestürzt und hat sie mir gestohlen!“
Die Wächterin begann aus vollem Halse zu lachen.
„Na, dann sei froh, dass sie dich nicht gleich mit gestohlen hat! Morgen bringst du dafür das Doppelte, klar?“
Tola nickte und beeilte sich ins Innere des Baus zu kommen, froh, dass ihr die Ausrede eingefallen war, doch auch mit dem Gefühl, Unrecht begangen zu haben.
„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“ Tiko war Tolas Lieblingsschwester. Die beiden waren etwa gleich alt und redeten abends oft über die Erlebnisse des Tages. Dass Tola etwas bedrückte, war ihrer Freundin gleich aufgefallen.
Zuerst druckste Tola herum, doch schließlich verriet sie Tiko flüsternd ihr Geheimnis. Und auch, wie sehr sie Angst um ihren neuen Schatz hatte, denn so manches Tier wären doch heilfroh, wenn es solch ein bezauberndes Rosenblatt besäße.
Tiko verstand nicht ganz, was in ihre Schwester gefahren war.
„Aber es ist doch nur ein gewöhnliches Blatt, das Teil einer Pflanze, nichts weiter!“
„Für mich nicht ...“, seufzte Tola, „... nicht für mich.“
Als am nächsten Morgen die ersten Sonnenstrahlen den nebeligen Dunst erwärmten, konnte man die kleine Ameise über den Waldboden eilen sehen. Tola hatte in der Nacht nicht schlafen können und ungeduldig auf den Beginn ihrer Schicht gewartet. Zielgenau peilte sie das Versteck an. Bald würde sie ihren Schatz mit den Fühlern umschließen.
Doch es kam wie es kommen musste, die Stelle an der sie das Blatt gelegt hatte, war leer. Tola suchte unter jedem Steinchen und jedem Ästchen, doch es half alles nichts.
Verzweifelt begann sie zu heulen.
„Wo gibt’ s denn so was? Eine Ameise, die weint? Das hab ich auch noch nicht gesehen.“
Erschrocken sah Tola auf. Vor ihr schwebte eine Biene.
„Ach, was geht' s dich an“, sagte Tola gleichgültig.
Aber die Biene ließ nicht locker: „Du siehst aus, als hättest du was verloren.“
„Ich verliere nur meine Zeit mit dir“, grummelte Tola und wollte weggehen.
„Nun warte doch“, summte die Biene, „vielleicht kann ich dir ja helfen.“
„Warum solltest du?“, fragte Tola.
„Schau!“, sagte die Biene und deutete auf ihren Hinterleib. Darin steckte eine rote Dorne.
„Wenn du mich mit von meinen Schmerz erlöst, werde ich dir bestimmt helfen. Denn sicherlich weißt du, dass man aus der Luft eine viel bessere Perspektive hat, als wenn man auf dem Boden umher krabbelt.“ Die Biene schaute Tola erwartungsvoll an.
Da gab sich die Ameise einen Ruck und zog die Dorne heraus.
Voller Freude flog die Biene einen Looping und landete schließlich neben Tola.
„Sag schon, was hast du verloren, kleine Retterin!“
Und Tola beschrieb der Biene ihr vermisstes Rosenblatt, so detailreich und blumig, wie nur sie es vermochte.
Auch die Biene konnte nicht verstehen, warum Tola so viel daran lag, ein einfaches Blatt zu finden. Aber sie hatte versprochen zu helfen und summte endlich:
„Ich weiß, wo das Blatt herstammt. Ein paar Bäume weiter steht ein großer Busch Rosen mit derselben Farbe. Wenn du willst, führe ich dich dort hin.“
Tola nickte eifrig und trippelte vor Aufregung mit den Beinchen.
Die Ameise blickte den gewaltigen Rosenstrauch empor. Am liebsten hätte sie der Biene die Fühler geküsst, doch die war schon längst wieder auf Nektarsuche davon geschwebt.
„Nimm dich in acht vor den Rosen“, hatte sie noch gesummt.
Die Sonne blinkte durch das Blätterdach. Tola war sich sicher, noch nie so etwas Schönes gesehen zu haben.
Jetzt wusste sie, nicht das Blatt war das Ziel ihrer Wünsche, nein, den ganzen Strauch wollte sie für sich haben.
Berauscht von der Duft- und Farbenpracht machte sie sich an den Aufstieg.
Spitze Dornen setzten dabei ihrem Panzer zu, fast verlor sie ein Auge. Aber es war ihr gleich, denn sie fühlte keinen Schmerz. Sie wollte nur eines: hoch, hinein in die Blütenkrone. Mit jedem geschafften Abschnitt klopfte ihr Herz schneller.
Endlich oben angelangt, glaubte sie fast, den Himmel erreicht zu haben. Feierlich schlüpfte sie in die am lieblichsten duftende Rose.
An diesem Abend kam Tola nicht mit leerer Zange zurück. Den Teil eines toten Käfers hatte sie im Gras entdeckt. Nie und nimmer hätte sie etwas von ihrem Rosenbusch gebracht.
Auch heute ließ sie die Wächterin nicht einfach vorbei.
„Ah, die kleine Sucherin hat heute Glück gehabt“, rief sie spöttisch.
„Nicht viel, aber immerhin“, piepste Tola.
„Moment, bleib mal stehen!“ Die Wächterin trat ganz nahe an sie heran und tastete sie mit den Fühlern ab. Schließlich sagte sie:
„Du hast so einen süßlichen Duft an dir. Der stammt wohl kaum von dem alten Käfer, oder?“
Tola hatte sich zwar gründlich vom Blütenstaub gereinigt, doch die Riechorgane einer Wächterin waren wohl nicht so leicht zu überlisten. Sie überlegte kurz und sagte:
„Ich musste ihn unter einigen Gänseblümchen hervorziehen. Die Erinnerung an ihren Gestank treibt mir noch immer Tränen in die Augen.“
Misstrauisch beäugte sie die Wächterin und raunte dann:
„Irgendwas stimmt nicht mit dir. Du weißt, dass es für dich Konsequenzen haben wird, wenn du uns was vorenthältst?“
„Sicher, das würde ich nie tun“, sagte Tola und ging in den Bau.
„Nun komm schon Tiko, ich kann ihn fast schon sehen!“ Tola lief ungeduldig im Kreis. Sie hatte es am gestrigen Abend geschafft, ihre Freundin zu überreden, mit zum Rosenstrauch zu kommen. Tiko schaute sich alle paar Meter misstrauisch um, denn ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, von Wächterinnen bei ihrer Unternehmung ertappt zu werden.
Endlich standen sie vor der riesigen Pflanze.
„Schön“, sagte Tiko, „ein wirklich schöner Rosenstrauch! … Aber können wir jetzt bitte nach etwas Fressbarem suchen? Wir haben schon genug Zeit verschwendet.“
Tola schüttelte den Kopf. „Nichts da! Du wirst natürlich mit mir hoch krabbeln. Wie willst du sonst wissen, wie es sich in der Blüte anfühlt?“ Und sie begann an einem der Stämme empor zu steigen.
Tiko stand immer noch da und blickte unsicher umher.
„Tola, ich möchte nicht. Ich habe dir versprochen mitzukommen. Aber ich klettere da nicht hoch. Was sollte ich auch dort oben? Es schickt sich für eine Sucherin nicht, so was zu tun.“
„Jetzt komm schon, was ist schon dabei?“, wollte Tola wissen.
„Eine Sucherin hat die Aufgabe, Nahrung aufzuspüren. Was wird aus dem Staat, wenn wir alle irgendwelchen schönen Blumen hinterherrennen?“
„Und was wird aus mir, wenn ich nicht zu meiner geliebten Rose darf? Mein Leben hat ohne Sie keinen Sinn mehr.“
„Ich glaube langsam, du bist verrückt geworden.“
Traurig blickte Tola ihre beste Freundin an. Ihr wurde klar, dass sich ihre Wege trennen würden.
„Hallo, ihr beiden!“
Erschrocken zuckte Tiko zusammen. Sie hatte die Stimme der Wächterin gleich erkannt. Langsam schritt diese aus dem Dickicht.
„Gibt' s Probleme bei der Arbeit?“
Tiko zitterte am ganzen Leib.
„Nein, alles in Ordnung, Frau Wächterin“, stammelte sie.
„Schön. Und du da oben? Was hast du dort zu suchen?“
Tola kam ein Stück herunter und rief: „Ich habe hier oben etwas gefunden. Etwas, was unserem Dasein einen völlig neuen Sinn geben wird. Etwas wundervolles.“
Die Wächterin grinste.
„Da steht also eine kleine Sucherin auf einer Rose und hat etwas wundervolles entdeckt. Warum ist uns das bloß nicht früher aufgefallen? Hm, mir scheint, dir sind die Ausdünstungen der Blüten in den Kopf gestiegen.“
Dann richtete die große Ameise sich auf und schrie:
„Du kommst jetzt runter und machst dich an die Arbeit!“
Tola schaute sie unbeeindruckt für eine Weile an.
„Gut, wie du willst“, sagte die Wächterin im ruhigen Ton. "Entweder du machst was wir dir sagen, oder du bist eine Verstoßene. Du wirst nie wieder den Schutz des Staates genießen und draußen in der Nacht um dein Leben zittern. Es könnte auch vorkommen, dass wir dich eines Tages umbringen, denn schließlich gehörst du ja nicht mehr zu uns.“
Tola lächelte und sagte daraufhin: „Tiko, meine liebe Freundin! Mach dir um mich keine Sorgen und vermisse mich nicht. Ich habe meine Bestimmung gefunden und werde nun gehen, denn für mich gibt es keine Wahl mehr.“ Dann verschwand sie im Grün des Rosenstrauchs.
Tiko nickte nachdenklich und folgte schließlich der Wächterin in den Wald.
Tola hatte es sich in ihrer Lieblingsblüte bequem gemacht. Sie schwelgte in ihrem Duft und war über und über mit Blütenstaub bedeckt. Geschützt vor der kühlen Nachtluft träumte sie von endlosen, sich im Wind wiegenden Rosenbeeten.
Am Morgen sammelte sich der Tau im Blütenkelch zu einem Becken. Der süße Nektar stieg langsam aber stetig an, bis Tola ganz untergetaucht war.
Und alles, der Ameisenbau, ihre Aufgabe und auch ihre Existenz, löste sich in Bedeutungslosigkeit auf, denn nun war sie eins mit dem Rosenstrauch geworden.