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Von Verkäufern und Schreckensottern
Ich war die erste Person, der Sebastian von seinem Ableben erzählte. Mir, dem Verkäufer in einem Elektromarkt. Er hatte es soeben erfahren und kam direkt vom Arzt hierher. Krebs habe er. Unheilbar. Welchen, habe ich vergessen. Unmöglich, sich alles zu merken. Und das, obwohl ich ihm zuhörte. Empathie war eine Währung, die sich im Verkauf bezahlt machte, doch sie hatte auch ihren Preis. Sie ließ Kunden einen Freund in mir sehen, ermutigte sie, mir allerlei Probleme, auch jene abseits technischer Sachfragen, darzulegen. All die Lebensgeschichten, die mir in diesem Verkaufsraum zugetragen wurden, sind mit den Jahren zu einer einzigen, klebrigen Leidmelange verschmolzen. Undifferenziertes Jammern. Austauschbar. Dieses Mal also Krebs.
Es dauerte eine Weile bis wir sein Krankenbild durchexerziert hatten. Irgendwann offenbarte er mir den eigentlichen Grund für seinen Besuch. Ein Küchenradio. Als Kind habe er immer vor der Stereoanlage seiner Eltern gesessen und Schlagermusik gehört. Ein Kanal hatte es ihm besonders angetan. Die Lieder, die dort gespielt wurden, seien großartig gewesen, geradezu brillant. Außerdem machten sie das Geschrei des Vaters vergessen. Ein Alkoholiker. Gewalttätig. Am Zehnten des kommenden Monats sei er auf den Tag genau zwanzig Jahre unter der Erde. Seine Mutter ist ihm im Jahr darauf gefolgt. Gott hab sie selig, alle beide, sagte er.
Da war etwas Stumpfsinniges an ihm. Etwas, das mich abstieß, in die Ferne trieb. Hör zu, befahl ich mir, zeig Interesse! Doch mein Blick konnte nicht anders, als dem seinen auszuweichen und die stetig größer werdende Menschentraube hinter ihm zum scannen. Ich hatte sie allein zu bewältigen. Zwei meiner Abteilungskollegen waren krank, ein weiterer im Urlaub. Abgesehen von Slavoj, einem Springer, der abteilungsübergreifend aushelfen sollte, aber immerzu unauffindbar war, wenn ich ihn brauchte, war ich auf mich gestellt. Ein Herr mit kläffendem Dackelwelpen im Arm, blickte zu mir, dann auf einen Werbeflyer in seiner Hand und schließlich erneut zu mir. Er seufzte und sah sich theatralisch nach anderen Verkäufern um. Doch da war nur ich, der versuchte, die Ruhe im aufziehenden Kunden-Orkan zu bewahren. Sebastian tat so, als bekäme er von alldem nichts mit und monologisierte weiter vor sich hin.
Vom Tag an, sagte er, als er das elterliche Heim verlassen und eine Ausbildung zum Beamten begonnen hatte, waren seine Radiotage passé. Nie wieder danach hatte er einen besessen. Er wusste nicht wieso. Wahrscheinlich weil die Arbeit seinen Alltag vereinnahmt hatte. Ja, er wisse, Beamte und Arbeit, ein Oxymoron, haha, doch nein, ganz im Ernst, da sei kein Raum für Musik geblieben. Erst recht nicht für Schlager. Denn Schlager ist Schlager und Leben ist Leben. O-Ton. Die geliebte Station war irgendwann vergessen. All die Jahre hatte er nicht an sie gedacht. Aber das Erste, was ihm nach Verlassen des Krankenhauses in den Sinn gekommen war, sei ebenjener Schlagerkanal gewesen. Kurios, sagte er. Eine Eingebung. Deshalb kam er hierher. Um verlorene Erinnerungen wachzurütteln. Etwas nachzuholen.
Mein Mitgefühl schwand parallel zur anschwellenden Dramatik seiner Erzählung dahin. Ich nahm diese Empfindung mit zunehmender Häufigkeit wahr. Eine in mir brodelnde Gereiztheit gegenüber Menschen. Ein Unverständnis für ihre Belange. Es waren schlichtweg zu viele. Menschen, meine ich. Sie kamen aus allen Ecken. Kunden. Könige. Die Schar hinter Sebastian hatte sich verdreifacht. Last Christmas mischte sich unterdessen zum Geheule der Alarmanlage in der Mobilfunkabteilung, die seit über einem Jahr defekt war, fortwährend ohne Grund auslöste und sich nur durch Jürgens Sicherheitsschlüssel abschalten lies, der diesen an seinen freien Tagen, wie es heute einer war, oft in der Brusttasche seines Firmenhemds vergaß, welches weggesperrt, für niemanden zugänglich, in seinem Spind hing und sinnlos vor sich hin stank. Oh, diese Vorwehen des Weihnachtsgeschäfts. Wo war Slavoj?
Eine kurze Recherche zeigte, dass es Sebastians Sender nicht mehr gab. Schon siebzehn Jahre nicht mehr. Mir schwebte ein Internetradio für ihn vor. Genau genommen ein Auslaufmodell von Grundig, das im Falle eines Verkaufs eine ordentliche Provision einbrachte. Ich erzählte Sebastian von der Möglichkeit, unzählige Schlagerkanäle zu empfangen. Man sah ihm an, dass er nichts von dem, was ich sagte, verstand. Trotzdem mimte er den Begeisterten. Oh ja, das klingt toll, m-hm, ja, sagte er und nickte. Währenddessen morphte die Schlange hinter ihm zu einer Schreckensotter, die langsam auf ihre Beute, mich, den Verkäufer, zukroch und ihr Gift ausstieß. Das Dackelherrchen war ihr Kopf. Ich konnte lediglich einzelne Gesprächsfetzen ausmachen. Schlechter Service… schlimmer als die Bahn… wird das noch was vor Weihnachten… und der Klassiker: Das Summen der Jeopardy-Melodie. Sind Sie der einzige Verkäufer hier, fragte der Dackelmann schließlich. Ich tat so, als hörte ich ihn nicht, was in Anbetracht der vorherrschenden Geräuschkulisse im Rahmen des Wahrscheinlichen lag.
Sebastian ignorierte ihn ebenso, was mich aufregte. Es war Eines, wenn ich mich dazu durchrang, einen Kunden zu meiden, aber etwas Anderes, wenn einer von ihnen gegen jemand aus den eigenen Reihen aufbegehrte. Es hatte etwas Arrogantes. Ich musterte ihn, versuchte mir in Erinnerung zu rufen, dass er bald starb. Aber tat er das denn wirklich? Für einen Moment zog ich in Erwägung, dass er ein Simulant war, ein Soziopath, der seine Kicks daraus zog, andere glauben zu machen, dass er bald hopsging. Doch nein, er war krank, das sah man. Abgemagert und ausgemergelt. Dunkle, nahezu schwarze Augenringe zeichneten sich hinter den Gläsern seiner Pantobrille ab, dessen linker Bügel nicht so recht am Ohr anliegen wollte. Auch mental schien er nicht obenauf zu sein. Armer Kerl, dachte ich. Zwang mich, es zu denken. Lass deine Gefühlswelt keinen Einfluss auf deine Mimik nehmen! Doch wenn die Augen wirklich das Fenster zur Seele sind, verrieten sie alles. Sebastian war das entweder egal oder er war ein unterirdischer Mennschenkenner. Bemerkte er was vorging? In mir? In diesem Geschäft?
Guter Mann, sagte ich irgendwann, ich meine es nicht böse, aber all die Leute hinter Ihnen warten darauf, von mir bedient zu werden, deshalb müssen Sie sich jetzt entscheiden. Meine Empfehlung ist und bleibt, fuhr ich fort, dieses Gerät (ich zeigte auf den Grundig), aber es liegt letztendlich bei Ihnen. Sebastian schien mein Versuch, den Verkaufsabschluss herbeizuführen, nicht zu gefallen. Es ging ihm auf einmal entschieden zu hastig. Er runzelte die Stirn, spielte den Abwägenden. Also?, fragte ich mit Nachdruck und endlich willigte er ein. Die Meute begann zu tuscheln. Man freute sich des Abschlusses, sah die eigene Chance auf eine Beratung näherrücken. Doch wo war das Radio? Laut Bestand war es originalverpackt vorrätig, aber dort im Regal, wo es sein sollte, war es nicht. Ich entschuldigte mich für einen Moment bei Sebastian, sowie bei der wartenden Gesellschaft und ging Richtung Lager, ein Unterfangen, das für allgemeine Entrüstung sorgte. Wo will er denn jetzt hin, WAS MACHT DER DENN DA?!, fragte ein Knabe seinen Vater, der mir entgeistert, in seine Bratwurstsemmel beißend, hinterhersah und “Halt! Stop! Hiergeblieben!” rief. Eine hysterische Studentin sagte sich von der Menge los und versuchte mit mir Schritt zu halten. Sie redete auf mich ein, gab mir ihr Ehrenwort, dass es ganz schnell bei ihr ginge, wenn ich ihr denn nur einen Augenblick zuhören würde. Ich winkte ab, beschleunigte und schepperte die Lagertür vor ihrer Visage in den Rahmen. Arschloch, hörte ich sie mir hinterherrufen.
Keine fünf Minuten später war ich wieder draußen. Meine Bemühungen, zurück zu Sebastian zu gelangen, glichen dem Versuch eines Rockstars, sich durch frenetische Fanhorden einen Weg vom Hotelausgang zur Limousine zu bahnen. Herr Verkäufer, hier! Herr Verkäufer, da! Finger ragten aus der Menge, zogen an meinen Hemdsärmeln. Einige riefen Schimpfwörter aus, ja, ganze Flüche, während andere Loblieder auf meine ach so mönchische Natur sangen. Herr Verkäufer, Herr Verkäufer, so lassen Sie uns doch konsumieren, riefen sie, die Hände faltend, auf den Knien herumkriechend, betend. Am Ende des Gemenges wartete anstelle des Luxuswagens der krebsgeplagte Sebastian auf mich. Ich präsentierte ihm das Radio wie etwas Frischerlegtes. Doch da streckte auch er mir einen Karton entgegen. Was halten Sie denn davon, fragte er. Ich nahm ihn in Augenschein, den Karton. Ein zwanzig Euro FM-Radio, das billigste Gerät im Sortiment. Schüttenware. Um uns herum tobte ungebremst die Hölle, während Marlene Dietrich aus den Lautsprechern den Trommelmann von der Kette ließ und Schmerzsalven durch meine Schläfen schoss.
Seine Worte waren ausgesprochen und ich erkannte sie sofort als das was sie waren. Eine Nullifikation meiner vorangegangenen Mühen, ein übler Angriff auf meine Kompetenz. Ein dürftiger Wurf, der derart seicht geflogen kam, dass ich ihn nicht verfehlen konnte, nein, ich musste jetzt lediglich ausholen und das Ding mit voller Wucht aus dem Stadion hinausdreschen, pa-rum-pum-pum-pum, und dann laufen, laufen, laufen, von Base zu Base, “Was ich davon halte?”, fragte ich, schlagbereit, die Beisteher ins Raunen versetzend, “Glauben Sie denn, ich hätte derart viel Zeit in Sie investiert, wenn…” — Da wäre sie fast dahingeflogen, die Empathie des großen Verkäufers, doch wie der personifizierte Deus ex Machina, erschien Slavoj aus den Weiten der Filiale und zog die Aufmerksamkeit aller, inklusive die meine, auf sich, was die Glut meiner gerade aufflammenden Wutrede erstickte. Slavoj ragte seine geballte Faust in die Luft, stieß einen Schlachtruf im Tenor von “Das ist Sparta!” aus und stürzte sich in das Kundenheer.
Ich wandte mich wieder Sebastian zu. Noch immer hielt er mir das Ramschprodukt hin. Wir sahen einander an. Sprachlos, alle beide. Erneut nahm ich einen Anlauf, versuchte ihm das Billiggerät auszureden und pries die Altware an, als könne sie Krebs heilen. Ich hatte zu viel in ihn investiert, als dass ich ihn ohne provisionsträchtigen Verkauf fortschicken wollte. Doch mein Vorgehen war zu forsch. Er schien meinen Eifer jetzt zu bemerken. Wieder begann er sich zu zieren. Dieses Mal genoss er mein Werben um seine Kaufentscheidung sichtlich. Er wusste nun unmissverständlich was ich von ihm wollte und wie wichtig es mir war. Es lag an ihm, ob er es mir gab. Was für eine Macht! Was ein Nervenkitzel! So ist das also, Herr Verkäufer? Hm, nunja, ich weiß ja nicht. Meine Geduld war erschöpft, denn trotz Slavojs Anwesenheit dezimierte sich die Warteschlange nur unmerklich. Es musste dringend etwas geschehen. Dieses “Etwas” manifestierte sich in einer spontanen Drohung meinerseits. Ich zähle nun bis zehn, sagte ich, dann müssen Sie mir Ihre Entscheidung mitteilen. Sebastian sah mich an, wie ein Rehkitz im Spotlight. Unmöglich sei es, ihm eine Pistole vor die Brust setzen, sagte er, aber da rief ich auch schon: EINS!
Neben uns lieferte sich Slavoj ein Gefecht mit dem Dackelherrchen, das unseren Markt des Vertriebs von Lockvogelangeboten bezichtigte. Sebastian lugte zu dem Spektakel rüber, doch ich holte ihn gleich mit einem Schnipsen zu mir zurück — Hallo, ja, hier spielt die Musik — ZWEI! *Do they know it’s Christmas*, fragte der Chor aus den Filialboxen. Bei Gott, ich weiß es nicht, dachte ich. Do they? DREI, rief ich Sebastian zu, der mich apathisch anblickte und auch die Zahlen Vier, Fünf und Sechs verstreichen ließ, ohne eine nennenswerte Reaktion zu zeigen. Doch mit dem Ausruf der SIEBEN kniff er die Augen zusammen und tat so, als würde er über etwas sinnieren. Was passiere denn, fragte er, wenn er sich bis zehn nicht entscheiden könne? Was dann? Er sah mich herausfordernd an und befeuchtete seine Lippen.
Während ich ihm einen bedeutungsschwangeren Blick zuwarf, protestierte neben uns der Dackelmann. Sein Hund stimmte bellend mit ein. Es könne nicht sein, dass der Fernseher, den er sich im Wochenangebot ausgesucht hatte, nicht mehr vorrätig sei. Doch, sehr wohl könne dies sein, belehrte ihn Slavoj — eine ausbleibende Verfügbarkeit sei nicht unüblich im derart späten Stadium des Werbezeitraums. Warum er denn nicht eher gekommen sei, rief er dem Dackelmann zu und gestikulierte mit den Händen vor seinem Gesicht, was den Hund dazu animierte, nach Slavojs Arm zu schnappen und zuzubeißen. Slavoj schrie auf und versuchte den Vierbeiner abzuschütteln. Auch das Dackelherrchen schrie. Überhaupt schrien alle.
Nur Sebastian und ich reagierten nicht. Unsere Blicke waren immer noch aufeinander gerichtet. Das werde er schon sehen, was dann passiert, versicherte ich ihm und ließ die ACHT und NEUN auf ihn einprasseln wie wortgewordene Jabs. Ich wartete vergeblich auf einen Gegenschlag, während der Lautstärkenpegel im Markt ungeahnte Dezibelbereiche erklomm. *And it’s a world of dread and fear*, plärrte es aus den Boxen.
Sebastian fragte lächelnd: Zehn? Und da lief ihm ein Blutfaden aus der Nase hinab auf die Oberlippe, hinein in den Mund und färbte, zunächst seine Schneidezähne, und schließlich den kompletten sichtbaren Bereich seines Gebisses, rot. Gewiss bemerkte er dies. Doch es war ihm ein Anliegen, die Pose aufrechtzuerhalten. Schau hin, schien er zu sagen, schau hin und beachte mich. Er dehnte sein Lächeln sekündlich aus, bis es zu einer debilen Fratze verkam. Es war, als wollte er sicherstellen, dass er gesehen und, vor allem, nicht vergessen wird.
"Richtig, zehn", sagte ich dann und reichte ihm ein Taschentuch, ganz der empathische Verkäufer, der ich war.