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Warmer Nebel
Es schmerzte. Jeder Muskel, jede Sehne, einfach alles. Die Wolken waren vor der großen gelb – weißen Scheibe verschwunden und sie strahlte nun ungehindert ins Schlafzimmer der jungen Frau hinein. Sie krümmte sich mit schmerzverrzertem Gesicht hilflos im Bett hin und her. Im regelmäßigem Takt von vier Wochen kamen diese Schmerzen und betäubten sie fast. Und jedes Mal half ihr Freund Mirko, indem er sie am Bettgestell mit Handschellen fesselte. Doch von den Schmerzen konnte er sie nicht befreien. Dazu war noch nicht einmal ein Arzt fähig. Und sie war bei vielen gewesen.
Fast nackt, nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet, das fast durchsichtig zu sein schien, lag Sandra da und weinte. Ihre Finger nestelten an den Handschellen und versuchten wie jedes Mal verzweifelt, sich aus der Situation zu befreien. Ihr Mund fühlte sich trocken an und sie begann zu frieren. Ihre Muskeln verkrampften sich nun immer schneller und bald würde sie nichts mehr mitbekommen. In wenigen Augenblicken wäre es soweit und es würde anfangen zu brennen. Ihr ganzer Körper, als hätte man Benzin an ihr entzündet.Sie versuchte sich zu konzentrieren, ihren Geist eins mit dem Schmerz werden zu lassen, ihn zu empfangen als guten Freund. Der Kontrollverlust begann. Es hatte geklappt – der Schmerz war nun überall doch er war nun nicht mehr ihr Feind. Ihre Arme, ihr gesamter Körper wurde eingenommen und Sandra hatte das Gefühl, sie würde auseinander gerissen – überall. Vor lauter Freude begann sie zu schreien, während leichte Wolkenfetzen an der runden Mondscheibe, die groß und weiß am Himmel stand, davonflogen.
Dann war es zu Ende – einfach so. Nach Stunden der Qual. Ihr Atem beruhigte sich und sie sackte auf die Matratze. Normal riss sie immer wie wild an den Handschellen, doch diesmal wurde sie nur müde. So unglaublich müde. Plötzlich bildeten sich Atemwolken vor ihrem Mund und sie spürte diese furchtbare Kälte, die alles in ihrem Körper zu Eis werden ließ. Matt drehte sie sich um und sah schwach Mirko im Mondschein stehen. Er hielt was in der Hand. Etwas dünnes langes.
„Ich habe Dich erlöst, nicht getötet,“ hauchte er. Seine Stimme klang unglaublich traurig. Dann war es still.
Ihr Kopf fiel zur Seite. Mit zitternder Hand schloss er ihre Augen, während aus seinen Augen die Tränen liefen. Anschließend griff er zu dem Benzinkanister, der in einer Ecke stand und goss den Inhalt über den toten Körper, welcher von der Strapaze der Nacht zerschunden aussah. Er war leider zu spät gekommen, um sie rechtzeitig festzuketten, so hatte sie begonnen mit dem irrsinnigen Kratzen. Sie hätte noch schlimmer ausgesehen, wenn er sie nicht festgebunden hätte. Bei Vollmond begann sie, sich wie von Sinnen zu kratzen und zu verletzen. Überall sah man Kratzer auf dem Oberkörper, die von ihren Fingernägeln stammten.
Er zündete ein Streichholz an und warf es auf das Bett, welches sofort zu brennen begann. Schnell nahm er den Benzinkanister, verließ das Haus und rannte und zu seinem Wagen. Er stieg hastig ein und fuhr schnell davon.
Die Zeitung hatte einen kleinen Artikel über den Brand in einer Schrebergartenlaube gebracht, jedoch wurde keine große Untersuchung angestellt, da es klar war das die Person, die dort eingeschlafen war, höchstwahrscheinlich dies mit einer Zigarette tat wie es so häufig in der letzten Zeit geschah. Es war ganz so, wie Frank es gesagt hatte. Er wollte sich gerade eine Tasse Kaffee einschenken, da klingelte das Telefon.
„Schöllter?“
„Es sind alles Verfluchte, selbst in der Zeitung kann man es lesen, wenn man die Augen öffnet.“
Ohne Zweifel – es war Frank am anderen Ende der Leitung. Diese leicht zischende, immer leise sprechende Stimme erkannte er sofort.
„Frank, ja es ist schon seltsam. Da geschieht ein Mord und es interessiert keinen.“
„Ja, ja alles Verfluchte. Pass auf – wir müssen was tun, fliehen oder sonst was.“ Michael, fällt Dir was ein?“
„Ja... also weißt Du, ich wüsste zunächst mal, was oder wer diese armen Menschen zu diesen leeren Geschöpfen macht. Denn eins ist ja klar, von alleine wird vielleicht ein Bürger so seltsam, aber nicht eine ganze Stadt.“
Frank wurde für einige Minuten still. Dann vernahm man seine Stimme wieder.
„Ein Mensch ist in das Wasser des Verderbens gestürzt, bevor der See sich wieder verschlossen hat.“
Michael stöhnte, denn diese Rede hörte er bestimmt jetzt zum x – ten Mal. Eine kleine Geschichte um Kinder vor dem Ertrinken zu bewahren, denn um den See war Torfboden, welcher bei nassen Wetter sehr schlüpfrig war und schon manchen am Uferrand wegrutschen und direkt ins eisige Wasser fallen ließ.
„Also bitte Frank, ich bin 35 Jahre alt und somit ein wenig zu alt für Kindergeschichten. Es wäre besser, wenn wir...“
„Du bist ungläubig! Na ja kein Wunder, denn Du bist ja zugezogen. Dieser See hat eine fünfhundert Jahre alte Geschichte, sie begann Anfang des 15. Jahrhunderts mit dem reichsten Herzogs dieser Stadt und heute herrscht in dieser Stadt immer noch das böse, welches der Mann mit einer List versiegelte.Dieser Mann hatte damals eine schwarze Messe mit einigen anderen Menschen durchgeführt und dabei tatsächlich einen Geist beschworen, der älter als die Zeit zu sein schien. Nur durch ein weibliches Opfer ließ sich der geist besänftigen und der Herzog schwor, nie wieder die dunklen Mächte heraus zu beschwören. Er rief einen Magier zu sich, der den See mit einer Nebelschicht zudeckte. Aber ab und an schafft es das Böse eben doch die Mauer des Nebels zu durchbrechen, dann sind unschuldige Passanten, die am See spazieren gehen das Opfer.Sie werden zu Marionetten des Bösen, die keinerlei Emotionen zeigen, den alles egal ist!“
„Ja ja ich kenne diese Geschichte, immerhin hat man mir im Bürgeramt ein Buch geschenkt, das alle Berichte über diese nicht sonderlich große Pfütze enthält. Frank – sei mir nicht böse aber ich werde jetzt auflegen, dieses Gespräch führt nämlich zu nichts.“
Er legte auf und atmete tief ein. Dieses Gespräch hatte seinen Puls in die Höhe getrieben, sodass sich dadurch sein Gesicht deutlich erwärmt war. Mit großen Schritten ging er ins Badezimmer und betrachtete sein Antlitz in Spiegel. In der Tat – das Gespräch hatte ihn wirklich etwas erregt. Kopfschüttelnd ging er zurück in die Küche um sich mit einer Tasse Kaffee wieder zu beruhigen. Dazu schaltete er das Radio ein. Es lief ein Bericht über ein kleines Fest, irgendwo am Randgebiet der Stadt. Provinzsender! Nur kleine, dumme Feste zu denen nur Kleingeister gingen, um einmal aus dem Alltag zu kommen. Michael wollte gerade ausschalten, als plötzlich ein unglaublich schriller Schrei aus dem Lautsprecher drang. Michael fuhr zusammen und hielt sich schützend die Hände an die Ohren. Entsetzt schaute er das Radio an, aus dem nun nur noch Rauschen kam. Vorsichtig näherte er sich ihm, bereit jederzeit sich wieder die Ohren zu zu halten aber diesmal geschah nichts. Rasch machte er das Gerät aus und schaute lange Zeit das Radio an. Was zum Henker war das gewesen? Er beschloss, dieser Störung auf den Grund zu gehen und rief sogleich bei dem Sender an.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe er durchkam, da wahrscheinlich viele Leitungen besetzt waren.
„Radio Wagenfeld?“
„Schöllter, guten Tag ich rufe an wegen der Störung während eines Berichts, wo genau ist das Fest?“
„Störung? Von uns aus gab´s keine Störung, es kann schon mal vorkommen, dass die Signale unterbrochen werden aber das liegt nicht an uns.“
„Nein, ich meine diesen schrecklichen Schrei, keine Ahnung woher der herkam, er unterbrach jedoch einen Teil des Berichts über das Fest am See.“
Die Frauenstimme am anderen Ende schien verunsichert.
„Ich weiß wirklich nicht wovon Sie sprechen aber der Bericht handelte von einem Gartenfest am Stausee nahe der Torffelder.“
Die Frau legte schneller auf als Michael noch was sagen konnte. Verwirrt schaute er den stummen Telefonhörer an und schüttelte einige Minuten energisch den Kopf. Jetzt reichte es!Dieses dumme Gerede von diesem See und seinen Geschichten! Entschlossen zog er sich an und griff nach seinem Hausschlüssel. Was es dort auch zu geben gab, er würde sich von nichts und wieder nichts ins Bockshorn jagen lassen! Wahrscheinlich benötigte diese Stadt jemanden wie ihn, der die Bewohner wieder wachrüttelte.
Die Busfahrt war durch das ewige Anhalten an den diversen Haltestellen für Michael ziemlich nervenaufreibend. Schließlich wurde die Gegend waldiger, ein Zeichen dafür, dass er seinem Ziel näher kam. Und er sollte recht behalten, denn die elektronische Stimme, die jede Haltestelle ankündigte, nannte nun die „Torffelder.“ Er stand auf und wenig später stieg er aus. Vor ihm erstreckte sich das strahlendste Grün, welches er jeh an Bäumen gesehen hatte. Entzückt und wie in Trance ging er einen kleinen Trampelpfad entlang, der von der belebten Hauptstraße in den Wald führte. Vor ihm breitete sich eine Landschaft aus, wie er sie vorher noch nie gesehen hatte. Üppige Bündel Gras wuchsen in fast regelmäßigen Abständen neben dem fast schwarzen Pfad und dahinter wuchsen riesige, tiefgrüne Farnkräuter, die hier und dort ihre langen grünen Arme in die Luft reckten. Inmitten des Grüns waren Birken in einer kleinen Gruppe zu bestaunen, wie sie inmitten dieses dichten Farnwuchses einen Hain beschrieben. Die Luft roch sonderlich kräftig – eben nach Sumpf und Torf.
Mit leicht geöffnetem Mund ging er den Pfad entlang und war von dieser Luft, die wie leichte Schwaden den Geruch von Torf zu ihm herüberwehte, verzaubert. Er blieb stehen und schloss die Augen. Seine Lungen füllten sich mit der guten Luft, die er tief einatmete als er plötzlich seine Augen wieder öffnete. Er konnte noch leise entfernt das Rauschen der Autos hören aber nicht ein Vogel war mit seinem Gezwitscher zu vernehmen. Dabei waren die Bäume voller grüner Blätter und starken Ästen. Langsam ging er weiter, der Weg beschrieb jetzt eine scharfe Linkskurve und führte zu einem großen See, der ruhig und still zwischen den dichten Bäumen verborgen lag. Auch hier an diesem Ort sang kein Vogel und so herrschte eisige Stille. Kein Lüftchen ging, dass Wasser lag regungslos und rabenschwarz vor ihm. Der Geruch von Moor und Torf war hier so intensiv, dass es bald schon stank.
War hier in der Nähe nicht das Fest? Michael lauschte, doch war weit und breit nichts zu hören. Vorsichtig und achtsam setzte Michael seinen Weg fort, da der Weg sehr feucht und nun enorm schlüpfrig war. Die Luft wurde mit jedem Schritt, den er tat kühler und er bemerkte, dass aus dem Wald Nebel emporstieg, welcher langsam und schwadenartig das Grün durchzog.Er zog seine Jacke enger um sich und trat auf eine hervorstehende Wurzel. Mit einem Ruck rutschte er seitlich weg. Erschrocken zuckten seine Arme zur Balancehaltung wiegend zur Seite doch vergeblich. Die Füße schlingerten auf dem allglatten Torf hin und her, was die Arme nicht auffangen konnten und so stürzte er ins schwarze Wasser. Sofort umspülte ihn eisige Kälte, die ihm schier erstarren ließ. Seine Instinkte reagierten und er begann zu strampeln. Seine Kleidung saugte sich rasch mit dem modrigem Wasser voll und zog Michael erbarmungslos in die Tiefe. Verzweifelt versuchte er, seine Schuhe von den Füßen zu streifen, doch rutschte er immer mit dem einen Fuß von der anderen Schuhkante ab. Panik machte sich in seinem Geist breit und er strampelte Richtung Uferrand. Er erblickte eine kräftige Wurzel, die vom Weg ins Wasser führte. Nach diesem Strohalm griff er und musste mit Entsetzen feststellen, dass seine Hände durch das modrige Nass ebenfalls glitschig wie nasse Schmierseife waren. Rasend durch die Angst vorm Ertrinken packte er unzählige Male die Wurzel, doch ohne nur ein Stück weiter zu kommen. Seine Kleidung war nun vollends durchnässt und Michael versagten die Kräfte. Geschwind ging er unter und sein Geist begann langsam, sich mit dem Unvermeidlichen abzufinden.
Doch dann – Michael kam es wie ein Traum vor – wich die eisige Kälte und sein Körper bekam wieder normale Temperatur. Erschrocken riss er die Augen auf und schaute sich hektisch um. Er lag auf dem modrigen, schwarzen Trampelpfad. Genau an der Stelle, an der er ins Schlingern geraten war. Er berührte seine Kleidung. Sie war trocken, nichts zeugte davon,dass er ins Wasser gestürzt war. Langsam richtete er sich auf. Der Nebel hatte ihn mitsamt der Umgebung eingeschlossen und die Sichtweite betrug jetzt nur noch einige Meter. Doch im Gegensatz zu dem Nebel, den Michael kannte,war dieser nicht kalt und durchnässte ihn, sondern war seltsam warm. Über dem Wasser war der Nebel am dichtesten und es schien, als wenn der dichte Luftschleier aus ihm empor stieg. Total verwirrt stand er auf und ging langsam und benommen den Weg zurück, der jetzt fast trocken war. Es dauerte fast eine Stunde, bis er die Hauptstraße erreicht hatte. Auch hier war dieser seltsame Nebel und ließ die Autos dadurch langsamer fahren. Nach zwanzig Minuten des Wartens an der Bushaltestelle kam dann der Bus mit dem er zurück nach Hause fuhr. Dort angekommen, wartete Frank schon auf ihn. „Mann wo warst Du, ich warte hier fast drei Stunden!“ Doch Franks Sorge wurde von Michael vollkommen ignoriert, wie auch alles andere. Stumm und träge ging er die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Er war nun auch ein Verbündeter des Nebels, ein Verfluchter, wie Frank zu sagen pflegte. Der Geist des Sees, der irgendwo im Innersten des Wassers schlummerte, hatte ein neues Opfer gefunden.