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Warten
Ich lag quer auf dem Bett, zusammengerollt wie ein Embryo im Mutterleib. Seit über einer Stunde war ich schon wach, aber ich konnte mich einfach nicht motivieren aufzustehen. Am liebsten hätte ich die Vorhänge zu- und die Bettdecke über den Kopf gezogen. Alles war unwichtig und sinnlos geworden. Ich durchbohrte die nackten Schlafzimmerwände mit Blicken, früher hatten dort Bilder gehangen, die jetzt nur noch Scherben in einer Abfalltone waren; genau wie mein Leben. Ich hoffte noch immer, dass dies alles ein Alptraum war, aus dem ich erwachen - und feststellen würde, das mir meine Phantasie einen Streich gespielt hatte.
Das monotone Ticken der Uhr hatte etwas beruhigend vertrautes an sich. Einen Moment lauschte ich in die Stille, hörte meinem Herz beim Schlagen zu und stemmte mich in eine halb sitzende, halb liegende Position. Das gedämpfte Trippeln von Hundepfoten drang an mein Ohr.
Bobby wollte nach draußen. Er kratzte an der Wohnungstür, winselte und kam dann mit eingezogenem Schwanz auf mich zu gelaufen. Er warf sich auf den Bauch und sah mich mit seinen großen, dunklen Augen an.
Ich kraulte ihn unter dem Hals und schob ihn beiseite. „Nicht jetzt. Ich muss warten, ich kann jetzt nicht mit dir Gassi gehen. Vielleicht klingelt das Telefon und dann bin ich nicht da. Später Bobby, ja? Frauchen geht später mit dir nach unten“
Ziellos wanderte ich durch die Wohnung, der flauschige Teppich kitzelte meine bloßen Füße. Meine Kleidungsstücke lagen überall auf dem Boden verstreut. Vom Wohnzimmer in den Flur, durch die Küche. Meine Hand strich sacht über die sauberen Armaturen. Ich öffnete die Kühlschranktür, sah den glänzenden Innenraum und ließ sie wieder zufallen. Ich hatte keinen Hunger. Mir war übel. Am liebsten wollte ich nie wieder essen.
Zurück in den Flur, ins Arbeitszimmer. Der Bildschirm strahlte ein Aquarium in den Raum. Ich beobachtete die Fische für einige Minuten, bevor ich mich abwendete.
Das E-mail-Fach würde leer sein, wie immer. Auf dem Anrufbeantworter auch nichts. Ich starrte das Telefon einige Sekunden an, als könnte ich allein dadurch bewirken, dass es klingelte.
Aber nichts geschah. "Verdammt, du beschissenes Ding, klingel doch endlich!" Für einen kurzen Moment überlegte ich, die Störungsstelle anzurufen - schließlich bestand die Möglichkeit das die Telefonleitung defekt war - verwarf den Gedanken aber wieder. Vielleicht später.
Flur und Schlafzimmer. Das breite Bett mit den zerwühlten Laken: beiges Leintuch, orangefarbene Bettwäsche. Ich hatte sie nicht gewechselt. Nicht heute Morgen und auch nicht in den Wochen zuvor. Ich konnte es nicht, ich wollte es nicht.
Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken, als ich an die letzten Nacht dachte. Seine Hände die meinen Körper erforschten, seine Küsse, die überall kleine Feuer hinterließen, seine Lippen, die so weich und warm waren. Gestern Abend war es Zuneigung, Leidenschaft, Nähe, fliehen vor der Einsamkeit, vergessen. Heute waren es nur noch Erinnerungen, Schatten, Träume. Dinge, über die man nie wieder sprach, die man tief im Herzen verbarg und hütete, wie einen Schatz
Ich hatte seine Nähe in mich aufgesogen, sie getrunken wie eine Verdurstende. Doch nun war ich wieder allein, allein in der Wüste.
Das Wohnzimmer war dunkel, kühl und erfüllt von den Schatten, die die Wintersonne durch Gardinen warf.
Ich öffnete die Balkontür und trat hinaus, so nackt, wie ich war. Ich spürte die Kälte auf den Armen, unter den Sohlen meiner Füße, überall: minus zwanzig Grad, die sich in meinen Körper fraßen. Mein Atem bildete dicke, weiße Dampfwolken in der Luft, meine Haut, begann zu prickeln. Wie lange dauert es wohl, bis ich erfriere?
Gestern hatte ich nicht gefroren – an seinen Körper gelehnt, von seinen Armen umschlungen hatte ich die Kälte nicht gespürt. Er hatte mich gewärmt, mit seinem Lächeln, seiner unbeschwerten Art. Ich hatte den Altersunterschied zwischen uns deutlich gefühlt. Obwohl es nur drei Jahre waren, war er unbeschwerter, nicht so kopfgesteuert wie ich. Er war genau das, was ich im Moment nicht war, half mir, wenigstens für diese eine Nacht, zu vergessen, zu verdrängen.
Zuckendes Blaulicht, das von der Straße heraufblitzte, hatte sein Gesicht beleuchtet, als er sich zu mir umdrehte: Küsse hauchend, auf Stirn, Nase, Lippen.
Ich konnte meinen Blick nicht aus seinen Augen befreien, fragend, ängstlich, während seine Hände über meinen Rücken tanzten, die Hüften streichelten und nach empfindlichen Stellen suchten.
Erst, als wir ins Schlafzimmer zurückgekehrt waren, konnte mein Körper wieder die Kontrolle übernehmen. Seine Nähe war so real, so intensiv gewesen, dass ich mir einreden konnte, er wäre nicht er.
Ich schaffte es, die Augen zu schließen, mich den Berührungen hinzugeben und von der Wärme überschwemmen zu lassen.
Ohne ihn anzusehen, war es leichter.
Ich konnte hören, wie er mir einen fremden Namen gab, ohne dass es allzu sehr schmerzte.
Für mich war er ja auch nicht Joshua, sondern ein Anderer.
Ich musste keine Wärme in seinen Augen suchen, ich hörte sie in seiner Stimme.
Für einige Zeit konnte ich Lisa sein, während er für mich Markus war.
Meine Muskeln begannen zu zittern, mein Körper war schon steif vor Kälte. Doch die eisige Morgenluft schien die Leere und Einsamkeit, wenigstens für ein paar Sekunden zu betäuben.
Ich kehrte in die Wohnung zurück und glaubte, ihn noch riechen zu können: eine Mischung aus Zigarettenrauch, Wein und dem Geruch längst gelöschten Kerzenlichts.
Bobby hatte eine Pfütze vor der Eingangstüre hinterlassen und lag jetzt unter dem Sofa, mit traurigen Augen, den Kopf ängstlich zwischen den Pfoten verborgen. "Schon gut, du kannst ja nichts dafür. Frauchen ist dir nicht böse."
Ich holte Lappen und Eimer, wischte auf.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer fiel mein Blick auf einen Zettel, der auf dem Boden lag.
Ich hob ihn auf, ein karierter Fetzen Papier, darauf meine Telefonnummer und E-Mail-Adresse.
Gestern hatte ich sie ihm aufgeschrieben, in der Hoffnung, er wäre derjenige, der mir vergessen helfen würde. Auf dem Weg von der Kneipe in meine Wohnung hatte ich ihm den Zettel in die Hand gedrückt. Als er aufgehört hatte, von seiner Freundin zu erzählen, und dem Streit, den sie hatten. Als er mir in die Augen sah und sagte, wie schön ich sei.
Ich lief ins Badezimmer, stellte die Dusche an und drehte das Wasser auf: bis zur Schmerzgrenze heiß. Doch auch das, vermochte die Kälte in mir, nicht zu vertreiben.
Ich wickelte mich in ein Badetuch und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Tiefe Schatten unter den Augen. Dunkles Blau darinnen. Sie waren jetzt wieder blau. Nicht mehr rot, vom vielen Weinen. Nicht mehr traurig vom hoffnungslosen Warten. Nur noch leer.
Mein Blick fiel auf etwas Glänzendes, das auf dem Boden, neben der Badewanne lag.
Der Lichtschein der Halllogenlampe brach sich darauf und warf einen hellen Lichtpunkt an die Decke. Ich hob es auf und hatte das Gefühl, jemand würde mir ein Messer ins Herz stoßen.
Es war ein goldener Ring mit Gravur: J & M 22.02.03. Mein Ehering.
Tränen rannen mir die Wangen hinab, meine Hände zitterten. Ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, aber es musste sein, ich musste endlich loslassen.
Ich klappte den Toilettendeckel nach oben und warf den Ring hinein. Meine Hand tastete nach dem Knopf für die Spülung, während ich durch einen Schleier von Tränen, das glänzende Schmuckstück im Wasser anstarrte. Der Ring war alles, was ich noch von ihm hatte. Er war gegangen, ohne Abschied, ohne mir einen Grund zu nennen. Nach drei Jahren Ehe, einfach so.
Ich betätigte die Spülung, diese einfache Bewegung kostete alle Kraft, die ich noch hatte.
Johanna und Markus gab es nicht mehr. Johanna und Joshua würde es nie geben.
Ich zog mich an und stolperte in den Flur. Raus, raus, raus, ich musste raus hier.
Ich nahm die Leine vom Haken und schlüpfte in Jacke und Winterstiefel.
„Bobby, komm!“
Es hatte keinen Sinn mehr zu warten, er würde nicht wieder kommen