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Was Svea nicht weiß

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07.10.2015
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Was Svea nicht weiß

Svea weiß alles über die Dorfkirche Sankt Johannes. Sie weiß das Alter von Langhaus und Turm. Sie weiß, dass oben in der Wölbung der Apsis ein Fresko erhalten ist: Christus in der Mandorla, die Majestas Domini. Sie weiß, wann es entstanden ist: Dreizehnhundertsiebzehn. Sie weiß, dass darunter, ringsum an der Wand, das Leben des Johannes dargestellt ist, Johannes des Täufers, Patron der Kirche. Sie weiß es, obwohl man nicht mehr viel erkennt. Sie weiß, wo seine Geburt zu finden ist, die Gefangennahme, sie weiß, wo Salome tanzt – sie tanzt auf dem Kopf – und wo Johannes enthauptet wird. Sie weiß es, und wenn sie genau hinschaut, durch das Fernglas, das sie dabeihat, dann erkennt sie Teile der Darstellung sogar, die Hand, die den Johannes beim Schopf packt, zum Beispiel. Sie weiß, dass gegenüber an der Westwand in satten Farben das Jüngste Gericht zu sehen ist, restauriert und verhunzt vor gut hundert Jahren, das interessiert sie nicht. Sie weiß von der Krypta unter dem Altarraum. Sie weiß, dass sich auch in der Krypta ein Wandbild befindet, deutlich älter als der Christus oben in der Halbkuppel der Apsis, um elfhundertachtzig, es zeigt die Heiligen Drei Könige. Und sie weiß, dass sie den Kirchendiener braucht, um sich dort aufschließen zu lassen. Sie weiß, wo er wohnt.

Der Kirchendiener ist ein grauhaariger Mann, er geht mit eingezogenen Schultern, er ist kleiner als Svea oder jedenfalls wirkt er so. Er freut sich, dass jemand die Krypta sehen will. Viele kommen ja nicht, sagt er, dabei sind die Fresken bedeutend. Sie sind einzigartig. Er meint nicht den Christus oder den Johannes, er meint die drei Könige aus der Krypta, auch er weiß genau Bescheid. Er öffnet die Metalltür, drückt mit dem Fuß Farbeimer und Farbrolle noch ein Stück zur Seite an die Wand, damit Svea den Weg frei hat, die Stufen sind schmal, man stolpert leicht. Auch Putzeimer, Besen, Wischmopp stehen dort, die reinste Abstellkammer, vor allem aber steht dort ein Heizkessel. Der Heizkessel füllt den Raum fast aus und er verstellt ein wenig die Sicht. Man kann um ihn herumgehen, steht dann allerdings sehr nah vor der Wand und sieht, wenn man den Kopf in den Nacken legt, kaum mehr als verzerrte Farbflächen direkt über sich. Oder man kann von der Treppe aus über den Kessel halbwegs hinwegsehen, immerhin so weit, bis er von unten her den Blick abschneidet. Wenn man mehr sehen will, hilft hier das Fernglas nicht weiter. Svea schaut trotzdem hindurch, um sich das Gefühl zu geben, den Heizkessel so weit wie möglich auszutricksen. Sie darf sich sogar mit den Händen auf den Schultern des Kirchendieners aufstützen, der sich dafür in Rücken und Schultern streckt. Wesentlich mehr sieht Svea dabei nicht, aber die Geste weiß sie zu schätzen.
Die Könige reisen zur Krippe, sie sind mehrfach zu sehen auf den Stationen ihres Wegs. Der Kirchendiener erzählt von der Bedeutung des Freskos, zeigt auf die Könige und ihre Kronen: wohlgemerkt nicht mehr die phrygischen Mützen der Magier, auf die Pferde zeigt er, deren Hufe hinter der Kante des Heizkessels verschwinden. Es sind Pferde, sagt er, keine Kamele. Er lacht. Wir sind hier bodenständig.
Er fragt, wo Svea herkommt. Aus Hamburg, schau an, ja, von so weither kommen sie manchmal, um unser Fresko zu sehen.
Er spricht davon, dass die Kirche kalt ist im Winter, dass hier endlich mal eine ordentliche Heizung rein muss, und das alte Ding da raus, aber sie lassen uns nicht, sagt er, sonst wird es zu warm hier drin, dann leiden die Farben. Und wir frieren im Winter, sagt er. Immer diese Auflagen. Alle paar Monate kommen sie und kontrollieren irgendwas, weil das Wandbild ein Welterbe ist, und wenn sie es so wollen, ist die Kirche zu und macht nicht wieder auf, bevor sie entscheiden, dass wir das Haus wieder nutzen dürfen. Ist es eigentlich unsere Kirche oder ihre!
Svea versteht den Kirchendiener, natürlich ist es seine Kirche, er möchte seinen Gottesdienst feiern, da braucht er es warm. Sie staunt beiläufig darüber, dass man diesen Raum ganz einfach so sehen kann: zweckmäßig und lebenspraktisch.

Svea weiß, dass es Gott nicht gibt. Es ist ihr egal, sie findet, dass es keinen großen Unterschied macht: Der Mann da neben mir liebt Gott, ich liebe das Bild, und wir beide suchen in Wirklichkeit etwas Unsichtbares. Sie schaut noch mal kurz durchs Fernglas, sieht noch einmal ganz nah die länglichen, kantigen Gesichter, die großen Augen, schlanke, zarte Gesichter von schönen schlanken Männern, sieht sehr genau die Unebenheiten der Wand, als könnte sie mit dem Finger darüberstreichen und die Oberfläche abtasten, und das würde sich genauso anfühlen wie vor tausend Jahren, ganz genau so. Sie stellt sich vor, wie das gemalt worden ist vor so langer Zeit, und es ist immer noch da, und damit sind auch die Menschen noch da, wenn man so will, und das ist das, was sie sucht: Das, was gleich ist, damals und jetzt. Sie möchte dasselbe sehen, was die Menschen damals gesehen haben, um sie darin wieder aufleben zu lassen, um sich zu versichern, dass es Bestand hat, dass die Schönheit nicht untergeht, und, sagt sie sich, das ist dann eben meine Ewigkeit. Es ist gar nicht mal so anders, nur ohne Gott.
Dem Kirchendiener sagt sie das nicht, sie fürchtet, er würde es nicht hören wollen, Tagträumereien, die er geringschätzt, genau wie sie seine Sorge um die kalten Füße im Winter geringschätzt. So ein Fresko haben sie hier und dann sorgen sie sich um kalte Füße. Irgendwie knuffig, dieser Kirchendiener.

Fürs Erste ist Svea zufrieden, sie will dem Mann die Zeit nicht stehlen. Sie wird nächste Woche wiederkommen, dann wird sie sogar im Gasthof übernachten, sie war vorhin schon dort und hat das Zimmer gebucht. Sie wird dann vielleicht eine Leiter bekommen, um besser über den Kessel schauen zu können. Sie wird genau hinschauen, vergleichen, skizzieren, notieren. Sie glaubt, dass sie Zeit hat.

Über das Dorf, in dem die Kirche steht, weiß Svea nichts.
Sie weiß nicht, wie der Kirchendiener heißt. Es stand auf dem Klingelschild, sie hat nicht darauf geachtet.
Sie weiß nicht, dass ein Zimmer im Gasthof nun wirklich nicht reserviert werden muss, es ist hier immer genug Platz.
Sie weiß nicht, dass gleich hinterm Gasthof in den neu hergerichteten Fachwerkbauten ein Lehrer mit einer Ärztin, ein Anwaltspaar und eine Architektin wohnen, die zur Arbeit in die Stadt fahren. Sie weiß nicht, dass die Kinder aus diesen Fachwerkhäusern gemeinsam zur Flaschnerstochter in die Tagespflege gehen, und sie weiß nicht, dass die Flaschnerstochter schwanger ist, und auch das weiß sie nicht, wie sich die Alten darüber freuen, denn wer wird in zwanzig Jahren noch hier sein: Das Mädel von der Architektin oder das Kind von der Flaschnerstochter?
Svea weiß nicht, dass Frau Halber auch jetzt gerade den Kopf aus dem Fenster streckt, die Unterarme auf das Kissen stützt, das dort immer liegt, den ganzen Sommer über, Tag und Nacht, und dass die Alte ihr nachschaut und denkt: Was ist denn das da unten für eine junge Frau, eine Hochsteckfrisur trägt sie wie ich früher, wie lang ist das nur her, und Svea weiß nicht, warum Frau Halber dabei gleichzeitig froh und traurig ist über die vergangene Zeit.
Sie weiß nicht, dass der Bürgermeister zurzeit auf Krücken geht, und sie weiß erst recht nicht, warum.
Sie weiß nicht, dass jeden Sonntag fast zwei Dutzend Menschen in die Kirche gehen, gar nicht so wenig für den kleinen Raum, und dass auch das Anwaltspaar mit dem Kind dabei ist, weil es sich so gehört, weil man es den Dorfbewohnern schuldet, auch wenn man den Hokuspokus nicht glaubt. Sie weiß nicht, dass der Pfarrer aus der Stadt herkommt, jeden Sonntag, aber das wird sie noch erfahren.
Sie weiß nicht, dass die Architektin mit dem Sohn des Kirchdieners schläft, der zehn Jahre jünger ist, aber alt genug, um zu begreifen, was ihm guttut. Auch der Kirchendiener weiß von dem lockeren Verhältnis nichts, was geht es ihn an.
Svea weiß nicht, dass der Kirchendiener am Abend im Bett noch eine Weile wach liegt und an sie denkt: Schaut sie doch tatsächlich durchs Fernglas das Wandbild an, zweieinhalb Meter vor ihren Augen! Sie weiß nicht, dass er sich an den Druck ihrer Hände auf seinen Schultern erinnert.
Sie weiß nicht, dass er darüber nachdenkt, ob er doch noch warten soll und ihr die Freude noch lassen, die paar Tage, und sie weiß nicht, dass er zu dem Schluss kommt: Jetzt erst recht. Wird nicht verschoben. Bevor sie mich noch rumkriegt.
Sie weiß nicht, dass der Farbeimer nicht immer in der Krypta steht, nicht wie das Putzzeug, sondern erst seit letztem Mittwoch. Sie weiß nicht, was der Kirchendiener zum Bürgermeister gesagt hat: Sollen sie kommen, mit ihren Auflagen in der Tasche. Die werden Augen machen. Und dann ist Ruhe, was weg ist, ist weg, für was nicht da ist, gibt’s auch keine Auflagen, und dann kommt zum Winter der neue Heizkessel rein. Und dann waren halt wir mal schneller.

Svea liegt nicht wach, sie geht ohnehin viel später schlafen. Sie mag es, nachts am Laptop zu arbeiten, wenn draußen alles dunkel und ruhig ist.
Als sie irgendwann doch das Licht ausmacht, steht der Kirchendiener schon fast wieder auf.

 

Moin @erdbeerschorsch (ich liebe den Namen, der klingt so herrlich Norddeutsch)

Was Svea nicht weiß
haha - meine Assoziation ist "macht Svea nicht heiß" - Der Titel macht absolut neugierig.

Und sie weiß, dass sie den Kirchendiener braucht, um sich dort aufschließen zu lassen. Sie weiß, wo er wohnt.
Interessanter Sprachrhythmus, den Du ja fast komplett durch hälst. Klingt wirklich interessant in meinen Ohren. Ich glaube, ich werde auch mal etwas in die Richtig versuchen, schönes Vorbild. Denn neben den immer noch vorhandenen Baustellen, habe ich definitiv noch keine Sprache gefunden, die mich ausmacht, die mir rundum gefällt. Man muss ja Ziele haben. Also danke fürs Animieren.
Zurück zum Text: Ich kann es nicht begründen, aber der letzte "ich weiß" ist mir zu kurz, ich höre da ein Aufbrechen des Rhythmus. Ich wollte es nur sagen ...

Er freut sich, dass jemand die Krypta sehen will. Viele kommen ja nicht, sagt er, dabei sind die Fresken bedeutend. Sie sind einzigartig. Er meint nicht den Christus oder den Johannes, er meint die drei Könige aus der Krypta, auch er weiß genau Bescheid. Er öffnet die Metalltür,
Auch hier Klasse durchgezogen. Normalerweise nerven mich diese Satzanfangswiederholungen, hier mag ich den Lesefluss sehr.

Svea schaut trotzdem hindurch, um sich das Gefühl zu geben, den Heizkessel so weit wie möglich auszutricksen.
Grins! Wie süß!

und das alte Ding da raus, aber sie lassen uns nicht, sagt er, sonst wird es zu warm hier drin, dann leiden die Farben. Und wir frieren im Winter, sagt er.
Na, ich bin eh schon erstaunt, das der Kessel da steht, vielleicht macht es Sinn für die Glaubhaftigkeit das Einbaujahr zu erwähnen? Und ja, immer seltsam, was dem Einzelnen von uns in verschiedenen Situationen wichtig ist. Spannendes Thema!

Ist es eigentlich unsere Kirche oder ihre!
Ja, die klassische Frage im Zusammenhang mit Denkmalschutz! Ich hätte mich tatsächlich über eine Auseinandersetzung gefreut :-)

Sie staunt beiläufig darüber, dass man diesen Raum ganz einfach so sehen kann: zweckmäßig und lebenspraktisch.
ja, alles eine Frage des Blickwinkels. Aber während ich von der Kirche, den Fresken und dem Dorf einiges erfahre, überlege ich die ganze Zeit, was die Dame dort will.

Das, was gleich ist, damals und jetzt. Sie möchte dasselbe sehen, was die Menschen damals gesehen haben, um sie darin wieder aufleben zu lassen, um sich zu versichern, dass es Bestand hat, dass die Schönheit nicht untergeht, und, sagt sie sich, das ist dann eben meine Ewigkeit. Es ist gar nicht mal so anders, nur ohne Gott.
Ja, das ist eine interessante Überlegung. Für mich hier auch das Challengethema und es lässt mich viele Gedanken im Kopf wälzen. Aber wenn ich ehrlich bin, frage ich mich immer noch, was Sie dort hinführt (Arbeit, Sammlerglück, doch das Denkmalschutzamt, aber das lese ich nicht raus, ...)

So ein Fresko haben sie hier und dann sorgen sie sich um kalte Füße. Irgendwie knuffig, dieser Kirchendiener.
Ja ja, so sind wir Menschen! So ganz passt in meinen Ohren das tolle Wort knuffig nicht zu dem was sie sich hier denkt. Vielleicht lese ich es aber auch anders als von Dir angedacht.

Sie wird genau hinschauen, vergleichen, skizzieren, notieren. Sie glaubt, dass sie Zeit hat.
Hier wäre ich wieder bei Denkmalschutz, wäre aber sehr spät und Auslegungssache. Der kleine Teaser lässt mich ja dann erahnen, worauf es hinausläuft.

Über das Dorf, in dem die Kirche steht, weiß Svea nichts.
Sie weiß nicht, wie der Kirchendiener heißt. Es stand auf dem Klingelschild, sie hat nicht darauf geachtet.
Sie weiß nicht, dass ein Zimmer im Gasthof nun wirklich nicht reserviert werden muss, es ist hier immer genug Platz.
Scöne Beobachtungen dabei, mag ich sehr.

Sie weiß nicht, dass er darüber nachdenkt, ob er doch noch warten soll und ihr die Freude noch lassen, die paar Tage, und sie weiß nicht, dass er zu dem Schluss kommt: Jetzt erst recht. Wird nicht verschoben. Bevor sie mich noch rumkriegt.
Das klingt jetzt doch nach Denkmalschutz, ich habe also irgendwo nicht aufmerksam genug gelesen. Der Gute ist dann aber auch nicht die hellste Kerze auf dem Kranz, denn unter einer Farbschicht kriegt man das Fresko ja jederzeit wieder raus.

Sollen sie kommen, mit ihren Auflagen in der Tasche. Die werden Augen machen. Und dann ist Ruhe, was weg ist, ist weg, für was nicht da ist, gibt’s auch keine Auflagen, und dann kommt zum Winter der neue Heizkessel rein. Und dann waren halt wir mal schneller.
Leider fällt die Geschichte (oder besser gesagt der Ort darin) gar nicht so sehr aus dem Rahmen. Immer wieder werden rechte Einzelner und die Rechte der Allgemeinheit nicht ausreichend miteinander abgestimmt, irgendwer macht einfach, Kraft seiner Wassersuppe sagt man hier. Du siehst, die Geschichte bringt mich zum denken, zum Verjknüpfen - das ist für mich der Sinn einer unterhaltsamen Geschichte. Neben schön zu lesen, will ich angeregt werden. Das klappt hier super!

Svea liegt nicht wach, sie geht ohnehin viel später schlafen. Sie mag es, nachts am Laptop zu arbeiten, wenn draußen alles dunkel und ruhig ist.
Als sie irgendwann doch das Licht ausmacht, steht der Kirchendiener schon fast wieder auf.
Tja? Keine Ahnung wo der Schluss hingeht? Ins nichts? Ne, ehrlich @erdbeerschorsch , ich kenn das Gefühl fertig werden zu wollen, aber das finde ich absolut noch nicht rund. Aber vielleicht liegt es nur an mir, ich schaue mal, was andere da so lesen.

Auf alle Fälle herzlichen Dank für eine aus meiner Sicht gelungene Geschichte. Nun habe ich mich wieder erfolgreich vorm Selberschreiben gedrückt, vielleicht wird meine Challenge einfach fast alle Geschichten zu kommentieren, bei so vielen fleißigen Schreibern ja durchaus eine Herausforderung.
Schönes Wochenende
greenwitch

 

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