Was ist neu

Wie der Vater...

Mitglied
Beitritt
20.07.2019
Beiträge
21
Zuletzt bearbeitet:

Wie der Vater...

Langsam legte Steve den Stift zur Seite und rieb sich die Schläfen.
Bierflasche und Uhr ließen ihn wissen, dass er seit geraumer Zeit im Bett liegen sollte, um am nächsten Morgen nicht völlig zerschossen auf Arbeit aufzuschlagen.
Sein Rücken behauptete ähnliches.
Genauso wie der gewachsene Stapel kariertes Papier vor ihm. Ehemals blau und schwarz beschriftet, hatte Steve es vollbracht, in den vergangenen vier Stunden ein derartiges Rotstift-Massaker anzurichten, dass der Haufen Blätter nun den Anschein erweckte, als würde er ausbluten.
Steve ließ den Papierstapel zum Sterben zurück und erhob sich vorsichtig von seinem Bürostuhl.
Verfickter, drehender, wirbelsäulenstützender Orthopädie-Kack, der außer Geld zu kosten, nicht viel konnte.
Mit der linken Hand noch immer die Stirn knetend, versuchte die rechte inzwischen das Rückgrat gerade zu biegen. Der Arzt riet, alle 30 Minuten aufzustehen. Wahrscheinlich war es nicht in dessen Sinne, sich im Halbstundentakt ein Bier zu holen, aber in freier Interpretation war Steve schon immer König.
In der absurd großen Küche angekommen, angelte er die Schachtel Pall Mall von der Theke. Wenn schon Bewegung, dann an der frischen Luft.
Auf der Terrasse erwartete ihn nicht nur der überquellende Aschenbecher.
»Du arbeitest zu viel, Steve!«
»Das sagst du mir in regelmäßigen Abständen. Ändert aber nix an der Tatsache, dass der Dreck erledigt werden muss.«
»Und du rauchst zu viel!«
»Musst du gerade sagen. Jetzt schieb ab!«
»Du weißt, dass ich mich nur um dich sorge, Steve!«
»Gute Nacht, Papa!«
Steve suchte für seine Kippe eines der letzten freien Plätzchen bei den anderen und ließ seinen Vater auf der Terrasse zurück.
Ich bin 36. Warum muss ich mir so einen Scheiß anhören?, fragte er sich nicht zum ersten Mal.
Sein Vater, selbst kettenrauchender Workaholic, besuchte ihn in letzter Zeit wieder häufiger.
Steve wäre es lieber, er würde es nicht tun. Wenn er jemanden sehen wollte, der ihm zeigte, was er alles verkackt hatte, würde er in den Spiegel schauen.
Was er dort sah, war im Grunde gar nicht so verkehrt.
Bis auf die Augenringe und die obligatorischen Abnutzungsfalten, hatte er sich ordentlich gehalten. Kaum graue Haare. Kaum Bauch. Ein paar Muskeln. Bereits leicht ausgeblichene Tätowierungen, die von wirklich lustigen Zeiten erzählten. Die etwas zu kantig geratene Nase. Auch ein Erbstück seines Vaters. Trotzdem. Optisch alles im Lot.
Dennoch.
Nach fünfzehn Minuten stoppte Steve das Gedanken-Karussell, bevor er reihern musste und legte sich ins Bett.

Am nächsten Morgen erwartete sein Vater ihn bereits in der Küche.
Steve, dem das Rotstift-Massaker, das Bier und der Rest vom Vorabend noch in im Hirn steckte, war gereizt.
»Wenigstens Kaffee kannst du doch machen, wenn du schon die ganze Zeit hier rumlungerst.«
Er hasste es, wenn seine Morgenroutine derart durcheinander geriet.

Die 40-minütige Fahrt zur Arbeit nahm er nach elf Jahren schon kaum mehr wahr.
An diesem Tag erweckte aber ein sehr kleines, außerdem sehr totes Kätzchen seine Aufmerksamkeit.
Es war, vermutlich aus kindlicher Unerfahrenheit, auf die Hauptstraße getapst und von einem der anderen Berufspendler sauber plattgemacht worden.
In irgendeinem, vielleicht ähnlichen Haus wie Steves, würde gerade ein sehr kleines, sehr lebendiges Mädchen sitzen und auf seine sehr kleine, sehr tote Katze warten. Die Eltern würden ihr erklären, dass es Miezi bestimmt gut gehe und sie sicher bald wieder komme und all den anderen Scheißdreck, den Erwachsene ihren Kindern eintrichtern, statt diese behutsam mit dem realen Elend bekannt zu machen, bevor das einfach unangemeldet hereinplatzt, wie der ungeladene Partygast, der alles wegsäuft, auf den Teppich kotzt und, ohne sich zu entschuldigen, wieder verschwindet. Oder auch nicht.
Steve lächelte. Trotz aller Tragik hatten diese Gedanken etwas Tröstendes:
Miezi hatte es zumindest hinter sich.

Während seiner Arbeit funktionierte Steve ausgezeichnet.
Sechs Stunden Unterricht. Dazwischen Besprechungen, Konferenzen, Formulare. Keine Zeit für nebensächliche emotionale Befindlichkeiten.
Das endete abrupt mit dem Läuten zur letzten Stunde und dem Blick auf sein Handy:
Nachricht von Mutter.
Das auch noch.
Mutter zu ignorieren hatte denselben Effekt, als würde man eine beginnende Kernschmelze leugnen. Klappt nicht und entwickelt sich rapide zu etwas Lästigem.
Rückruf unausweichlich:
»Wann kommst du denn heute vorbei?«, fragte sie in ihrem dezent vorwurfsvollen Unterton, den sie in den letzten 17 Jahren, seit sie allein lebte, bis ins Detail perfektioniert hatte.
»Warum? Was is heute?«, fragte Steve, obwohl er es bereits wusste. Er hatte es schon gewusst, als er gestern Abend vom Schreibtisch aufgestanden war. Also antwortete er nur:
»Achso. Ja, ich komm gegen fünf. Bis dann.«
Jedes Jahr die selbe Scheiße. Wann hörte das endlich auf?

Zwei Stunden später stand Steve neben seiner Mutter.
Einen Meter vor und circa zwei Meter unter ihnen lag sein Vater, wie er es, auf den Tag genau, schon seit 17 Jahren zu tun pflegte.
Wie Steve, war auch er ein Gewohnheitstier. Kettenraucher. Workaholic. Gewesen. Sauber plattgemacht vom Leben.
Steve lächelte. Er dachte an Miezi. Trotz aller Tragik hatte dieser Gedanke etwas Tröstendes.
Beide hatten es zumindest hinter sich.

 

Hallo @JGardener
Formal gesehen ist Deine Geschichte ordenlich geschrieben. Ich fand keine Stolpersteine oder langwierige Abschnitte. Sprachlich ist der Text ausgewogen und flott gestaltet. Ich vermute, Du hast schon Erfahrung mit dem Verfassen von Unterhaltungsliteratur.
Zum Inhalt: Natürlich stutze ich am Ende und wandere verwirrt zurück zu der Stelle, als der Vater auf der Veranda rumhängt. Dann wird mir klar, dass mit dem Kunstgriff der nachwirkende Einfluss auf den Sohnemann verdeutlicht werden soll. Na jut.
Jetzt aber zu dem, was ich als Problem empfinde. Es ist die inhaltliche Gleichtönigkeit. Hier wird das Leben eines Menschen mit einer Aufzählung deprimierender Ereignisse beschrieben. Und die Pointe sagt nur, dass es so weiter geht bis ins Grab. Das ist mir zu stumpf. Irgendwie kriegt der Protagonist den Arsch nicht hoch, um aus den Fußstapfen des Vaters zu hüpfen. Er versucht es gar nicht. Und das ist ein Protagonist, dem ich nicht folgen will. Es entsteht keine Spannung, keine Hoffnung, keine Überraschung.
Zum Beispiel wäre es doch viel interessanter, wenn er sein Defizit erkennt und versucht, auszubrechen. Ob er nun Erfolg hat oder scheitert spielt dabei keine Rolle. Es macht einfach keinen Spaß, zu lesen, wie jemand im Sumpf steckt und nichts dagegen unternimmt.
Ich habe mal die Schreib-Weisheit gelernt: Der Held muss irgend etwas wollen. Und daran klemmt es in der Geschichte.

Schönen Gruß
Kellerkind

 

Formal gesehen ist Deine Geschichte ordenlich geschrieben. Ich fand keine Stolpersteine oder langwierige Abschnitte. Sprachlich ist der Text ausgewogen und flott gestaltet. Ich vermute, Du hast schon Erfahrung mit dem Verfassen von Unterhaltungsliteratur.

Danke dafür. Tatsächlich sind das meine ersten "echten" prosaischen Stolperversuche. Mehr als autobiographischen (Humor-)Humbug habe ich bisher nicht hinbekommen.

Zum Inhalt: Natürlich stutze ich am Ende und wandere verwirrt zurück zu der Stelle, als der Vater auf der Veranda rumhängt. Dann wird mir klar, dass mit dem Kunstgriff der nachwirkende Einfluss auf den Sohnemann verdeutlicht werden soll. Na jut.

Schon n bisschen sehr Sixth Sense. Geb ich zu.

Jetzt aber zu dem, was ich als Problem empfinde. Es ist die inhaltliche Gleichtönigkeit. Hier wird das Leben eines Menschen mit einer Aufzählung deprimierender Ereignisse beschrieben. Und die Pointe sagt nur, dass es so weiter geht bis ins Grab. Das ist mir zu stumpf. Irgendwie kriegt der Protagonist den Arsch nicht hoch, um aus den Fußstapfen des Vaters zu hüpfen. Er versucht es gar nicht. Und das ist ein Protagonist, dem ich nicht folgen will. Es entsteht keine Spannung, keine Hoffnung, keine Überraschung.
Zum Beispiel wäre es doch viel interessanter, wenn er sein Defizit erkennt und versucht, auszubrechen. Ob er nun Erfolg hat oder scheitert spielt dabei keine Rolle. Es macht einfach keinen Spaß, zu lesen, wie jemand im Sumpf steckt und nichts dagegen unternimmt.
Ich habe mal die Schreib-Weisheit gelernt: Der Held muss irgend etwas wollen. Und daran klemmt es in der Geschichte.

Vielen Dank für dieses Feedback. Das ist genau mein Problem, das ich mit Fiktion habe. Könnte es nicht besser auf den Punkt bringen. Den Satz werde ich mir fett an die Wand pinnen. Gleich neben "unnötigen Mist streichen" und "vergiss den sentimental-pseudo-autobiografischen Quatsch".

Grüße,
JG

 

Hallo @JGardener
Wenn jemand mal die zehn Gebote des Guten Schreibens in eine Steintafel ritzen will, dann müssen die drei auf jeden Fall dabei sein. :)
Dein Stil gefällt mir übrigens trotzdem. Immerhin hat er mich bis zum Ende getragen.

Schönen Gruß!
Kellerkind.

 

Hallo @JGardener ,

bin hier gerade beim stöbern zufällig auf deine Geschichte gestoßen, und dachte mir ich lasse dir mal meine Gedanken dazu da.

An sich habe ich deine Geschichte gerne gelesen.

Steve ließ den Papierstapel zum Sterben zurück und erhob sich vorsichtig von seinem Bürostuhl.

Das gefällt mir

Verfickter, drehender, wirbelsäulenstützender Orthopädie-Kack, der außer Geld zu kosten, nicht viel konnte.

Das gefällt mir weniger. Wenn ich das richtig verstehe ist er Lehrer? Spricht ein 36 jähriger Lehrer so mit seinem Bürostuhl? :confused: Ein wenig zu vulgär für meinen Geschmack. :shy:

»Warum? Was is heute?«, fragte Steve, obwohl er es bereits wusste. Er hatte es schon gewusst, als er gestern Abend vom Schreibtisch aufgestanden war. Also antwortete er nur:
»Ja, ich komm gegen fünf. Bis dann.«

Diesen Teil finde ich etwas verwirrend. Dieses: "Warum, was is heute?" Fragt er es sich selbst oder schickt er es tatsächlich ab? So klingt es nämlich aufgrund der Anführungszeichen. Und dies wäre doch ein wenig Makaber..

Was mir an deiner Geschichte prinzipiell gut gefällt ist, dass du einen roten Faden hast der sich durch die Geschichte zieht. Workaholic. Platt gefahren. Die Verbindung zwischen der Katze, dem Vater und dem eigenen Leben hat mich amüsiert.
Ansonsten muss ich Kellerkind leider in so fern Recht geben, dass ich vom Ende ein wenig enttäuscht war. Ich habe auf eine Art "Erwachen" oder ähnliches gehofft. Oder eine überraschende Wendung. Irgendetwas, das mich aus dem im Laufe der Geschichte entstehenden "Trott" wieder herausholt. Dein Prot scheint alles einfach so hinzunehmen wie es ist. Schade eigentlich, das Drumherum hat eigentlich Potenzial. Vielleicht Fällt dir ja noch etwas ein? Der Grundstein für eine gute Geschichte ist eigentlich gelegt.

Aber dafür, dass du erwähnst diese Geschichte sei eine Art "Debüt" deinerseits, klingt das Ganze sehr geübt und flüssig. Weiter so :)

Liebe Grüße
Karamba

 

Hi @karamba ,

danke für dein Feedback. Ich überlege schon seit einer Weile, die Geschichte umzuändern, hatte aber bis dato noch keinen richtig passenden Gedankengang. Und ein Happy End funktioniert hier nicht wirklich. Tod wäre zu platt.

Zu deiner Anmerkung:

Spricht ein 36 jähriger Lehrer so mit seinem Bürostuhl? :confused: Ein wenig zu vulgär für meinen Geschmack. :shy:
Hier musste ich etwas schmunzeln. Lehrer sind Menschen, die auch fluchen können. Auch vulgär. ;)

Den Teil mit dem "Mutter-Gespräch" muss ich ändern. Ist wirklich verwirrend. Danke!

Aber dafür, dass du erwähnst diese Geschichte sei eine Art "Debüt" deinerseits, klingt das Ganze sehr geübt und flüssig. Weiter so

Vielen Dank! Das hört man gerne. Allein mir fehlt die Muse für "richtige" Kurzgeschichten. Aber ich bleib dran!

Grüße,
JG

 

Hallo @JGardener

du bist ja flott! :)

danke für dein Feedback.

- gerne!

Und ein Happy End funktioniert hier nicht wirklich. Tod wäre zu platt.

Ich dachte auch weniger an ein Happy End. Vielleicht einfach irgendeine Wendung die etwas andeutet und noch Raum für Interpretationen lässt. Oder dass der "Familienfluch" aus irgendeinem Grund gebrochen wird. Konkrete Ideen habe ich da auch keine, es fehlt nur 'das gewisse Etwas', das den Prot irgendwie spannender oder interessanter macht. Eine Intention.

Hier musste ich etwas schmunzeln. Lehrer sind Menschen, die auch fluchen können. Auch vulgär. ;)

Das steht natürlich außer Frage! :D Wie geschrieben ist dies vermutlich Geschmackssache. Für mich hat es zum sonst eher "passiven" Prot sprachlich einfach nicht gepasst. :)

Vielen Dank! Das hört man gerne. Allein mir fehlt die Muse für "richtige" Kurzgeschichten. Aber ich bleib dran!

Ich verstehe dich sehr gut, so geht es mir leider auch viel zu oft. Falls es dich tröstet - du bist nicht alleine! Aus diesem Grund hat es auch für mich (bislang) nicht für eine Veröffentlichung gereicht. Umso mehr Respekt für deinen Mut. Ich denke nur durch konstruktive Kritik und Anregungen entwickelt man sich weiter. Ich habe hier bereits viele bemerkenswerte Entwicklungen von Autoren miterleben dürfen, viele von ihnen sprechen heute schon nicht mehr gerne über ihre Anfänge.

LG, Karamba

 

Hallo @Kahasimir ,

als ich deinen Kommentar gelesen habe, war ich kurz etwas geplättet.
All diese Gedankengänge hatte ich beim Schreiben. Genau so.

Die Formulierung "auf Arbeit aufschlagen" widerspricht schon der Tätigkeit des Lehrens. Allerdings ist es auch "nur" eine Arbeit, die erledigt werden muss.

Das mit dem Mutter-Telefonat hab ich noch eingefügt.

Ich tendiere tatsächlich dazu, den Schluss so stehen zu lassen, da man den letzten Satz durchaus auch auf den Protagonisten anwenden könnte ("Beide"), quasi als Vorhersage.

Zukünftig hatte ich eigentlich vor, eher in die humoristische Ecke zu rutschen, lande aber jedes Mal bei abgrundtiefem Zynismus. Lässt ja tief blicken.

Vielen Dank nochmal!
JG

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom