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Wie lange dauert die Ewigkeit?
Für den süßesten Neffen der Welt! Na ja, inzwischen hat er Konkurenz!
Beim Ding-dong der Türschelle atmet Miriam erleichtert auf, eilt zur Haustür und öffnet sie sperrangelweit.
"Hallo Julia, wie schön, dass du da bist!" Eine regennasse Windböe weht Julia ins Haus, die Regentröpfchen pieksen Miriam wie Stecknadeln ins Gesicht.
"Entschuldige, ich bin spät dran", Julias schlanke Gestalt schlängelt sich ohne hochzublicken durch die enge Diele, im Vorbeigehen wirft sie ihre nasse, schwarze Lederjacke an einen Garderobenhaken, lässt die schlammverschmierten Boots achtlos stehen und ist schon unterwegs ins Wohnzimmer. Miriams Mundwickel zucken nur kurz und hastig stellt sie die dreckigen Schuhe auf einen Wischlappen.
'Läuft sie immer noch stundenlang bei Wind und Wetter durch den Wald? Ist sie immer noch eingeschnappt, weil ich sie vor zwei Wochen aufgefordert habe, ein Stückchen aus ihrem Schneckenhaus heraus zu kriechen? Wenigstens konnte ich sie fürs Babysitten hierher locken!' Früher konnten die beiden stundenlang über ihre Männer lästern, ihre Familienplanung für die nächsten drei Jahrzehnte diskutieren und sich über jede Kleinigkeit halbtot lachen, auch über sich selbst – bis Julias Mann plötzlich bei einem Autounfall ums Leben kam.
"Na, du süßer Wonneproppen!" Julia streicht sanft über die zarte Babyhaut. Der kleine Till strampelt auf dem dicken Wollteppich herum, winkt mit seiner Rassel unbeholfen dem vertrauten Gesicht zu, das sich über ihn beugt und quietscht vor Vergnügen.
"Ich muss gleich los - wo ist bloß wieder meine Handtasche - Thomas macht mal wieder Überstunden, ich muss ihn noch abholen", atemlos wirbelt Miriams kompakter Körper durch die ganze Wohnung und schnappt sich unterwegs ihre Handtasche. "Wir sind spätestens um Mitternacht wieder da - wo sind jetzt die verdammten Autoschlüssel - ich weiß, du hasst Handys, aber wir lassen es heute Abend an, die Nummer liegt neben dem Telefon, ich habe Till gerade noch mal gewickelt, das Fläschchen steht auf dem Küchentisch, du musst es nur für eine Minute in die Mikrowelle stellen –"
"Auf 600 Watt und gewickelt habe ich ihn auch schon oft genug. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen." Katzengleich erhebt Julia sich und geht einen Schritt auf ihre Freundin zu.
"Ja, ich weiß, ich bin eine überfürsorgliche Mutter." Miriam hält einen Moment vor dem Wohnzimmer an, um Luft zu holen. "Aber, weißt du, wir lassen Till zum ersten Mal alleine und es ist der erste Abend seit fast einem halben Jahr, an dem wir wieder gemeinsam ausgehen können! Ich bin dir so dankbar, Julia!", ihre Stimme ist wieder eine Oktave tiefer.
"Ach, Till ist ja sooooo ein liebes Kind, er schreit doch fast nie. Wie oft hast du deinen dicken Bauch prustend die vier Etagen zu mir rauf geschleppt, um mich zu trösten?" Ausnahmsweise einmal schauen Julias stahlblaue Augen auf, durch die dunklen Ringe wirkt ihre zartes Gesicht noch zerbrechlicher.
"Oh, ja, ich kam mir vor wie ein schwangeres Nilpferd beim Bergsteigen!". Hektisch wühlt Miriam jetzt in der Schublade des Dielenschrankes. "Gott sei Dank, da sind die Autoschlüssel! He, Julia, du lächelst ja!" Miriam hofft auf das erneute Auftauchen ihrer Vertrautheit, doch Julia wendet sich schnell ab, bevor Miriam ihren Blick einfangen kann.
"Ähm, ich schaue mal nach dem Kleinen."
'Warum lässt sie sich von mir nicht wenigstens ein bisschen trösten?', denkt Miriam seufzend. 'Anfangs war ich bei ihr, wenn sie sich in den Schlaf geweint hat. Doch seit ein paar Wochen verschließt sie sich immer mehr. Wie soll ich ihr nur helfen wieder in das Leben zurück zu finden? Na gut, jedenfalls will ich mich heute amüsieren.' Bei einem Blick in den Spiegel versucht sie ihre struppigen Locken ein wenig zu ordnen und den Geruch von Babypuder und Milch durch einen kräftigen Druck auf die Parfümflasche zu übertünchen.
"Tschüß und wenn er nicht einschlafen will, lege ihn in sein Bettchen und streichle ein bisschen seinen Rücken!" Miriam winkt ihrem Kind zu und schafft es tatsächlich, Julia mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange zu überraschen. Dann läuft sie atemlos zur Tür.
"Tschüß, viel Spaß ihr beiden!" Julia kitzelt den Säugling am Bauch und er kräht wieder vergnügt. "Wir beide werden schon klar kommen, nicht wahr?"
Das tun sie auch – eine halbe Stunde lang. Dann schafft er es, sich mit dem weichen, rosa Stoffhasen auf die Nase zu hauen und fängt sofort an zu schreien.
"Ach du armes, kleines Würmchen, du kannst dir doch gar nicht wehgetan haben, hast du dich erschreckt?" Julia nimmt ihn auf den Arm und wiegt ihn beruhigend, wie sie es schon so oft erfolgreich getan hat. Doch diesmal vergebens.
"Laaaleeeluuu..." hilft auch nicht.
Dieses älteste Alarmgeräusch aller Zeiten, das in jeder Frau sofort den Ur-Instinkt hervorruft, auf der Stelle zur Hilfe zu eilen – und diesen unerträglichen Krach abzustellen, – steigert sich nur noch mehr.
"Es ist noch ein bisschen früh für Dein Fläschchen, aber wir können es ja mal versuchen." Er windet sich trotzig mit dem unerschütterlichen Willen eines Säuglings auf ihrem Arm hin und her – und schreit weiter. Sie hebt das Fliegengewicht hoch und schnuppert an der Windel - es riecht angenehm nach Babypuder.
"Was ist denn nur los mit dir, sonst hast du doch immer so gute Laune? Bist du nur lieb, wenn Deine Mama da ist?" Julia ist langsam mit ihrem Latein am Ende, einen Moment denkt sie an die erlösende Handynummer, aber sie will der Freundin, die so oft für sie da gewesen ist, nicht den schönen Abend verderben.
Sie versucht, ihn mit seiner Lieblingsrassel abzulenken, doch das scheint er als Beleidigung anzusehen. Das kleine Köpfchen läuft dunkelrot an, die Fäustchen ballen sich entschlossen. Jede Zelle seines Körpers vibriert mit der unglaublichen Kraft eines ganz und gar nicht hilflosen Säuglings und schreit: "ICH WILL! ICH BRAUCHE! ICH MUSS! SOFORT! SONST GEHT DIE WELT UNTER!"
"Wenn du nicht sofort bekommst, was du willst, wirst du unausstehlich, nicht war? Warum lässt du dich von mir nicht wenigstens ein bisschen trösten?"
Schließlich erinnert sich Julia an Miriams letzten Tipp, legt den Schreihals in sein Bettchen, geht vor ihm in die Hocke und streicht liebevoll über seinen Rücken. Er mobilisiert seine letzten Energiereserven um seinen Kopf zu heben - bloß nicht einschlafen!
"Deine Mama kommt ja bald wieder! Das kannst du noch nicht verstehen, ein paar Stunden bedeuten für dich die Ewigkeit." Ihre Hand hält plötzlich inne.
"Und was mache ich?", flüstert sie.
'Denke ich nicht auch, nur ein bestimmter Mensch kann mich trösten?' Bei dem Gedanken zieht ihr Herz sich zusammen, möchte fliehen oder sich in Tränen auflösen. Doch diesmal zwingt sie sich, bewusst hinzuschauen.
'Vielleicht halte ich mich an dem Schmerz fest, sehe nichts anderes und mache es dadurch für mich nur noch schlimmer. Und auch für andere!' Miriams verzweifelter Blick taucht vor ihrem inneren Auge auf und sie seufzt. 'Für Babys bedeuten ein paar Stunden, die sie von ihrer Mutter getrennt sind, die Ewigkeit. Ist es für uns nicht auch so? Wieso bin ich mir so sicher, Hendrik nie wieder zu sehen? Vielleicht ist unsere Sichtweise an der Stelle genauso eingeschränkt wie die der Babys. Der Schmerz ist ja offensichtlich auch der Gleiche.'
Sie schaut aus dem Fenster und versinkt in der Unendlichkeit der funkelnden Sterne, die am grenzenlosen Firmament so eng beieinander stehen und in Wirklichkeit Lichtjahre voneinander entfernt sind. Ein Funke Hoffnung flüsterte ihr zu, vielleicht können sie sich doch einmal nahe kommen.
Nach einer Weile holt das Kribbeln in ihren Beinen sie wieder in eine andere Realität zurück. Till liegt in seinem Bett, die Händchen noch zu einer Faust geballt, und atmet gleichmäßig. Wann ist er eingeschlafen? Gerade hat er sich noch so unglaublich lebhaft gegen jeden Trost gewehrt. Sie setzt sich bequem auf Miriams Bett und schaut ihn dankbar an. Und genießt die Stille. Auf einmal fühlt sie sich wohlig allein – und eine winzig kleine Ecke ihres Herzens beginnt aufzutauen und sich auf das Lachen ihrer Freundin zu freuen.