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Willi, der kleine Käsebohrer
Es war passiert. Hatte ihm sein Vater nicht unendlich viele Male gesagt, er solle nie länger als ausgemacht in einem Käse bleiben? Hatte man ihn nicht unendlich viele Male gewarnt vor den Gefahren, die ein zu langer Aufenthalt in einem Käse nach sich ziehen kann.
Ja, Ja, Ja. Man hatte!
Aber niemand hatte den kleinen Willi vor den Auswirkungen gewarnt, die der Genuss des neuen Käses nach sich zieht. Klar. Zu erst sollten die erfahrenen Käsebohrer den neuen Käse testen, der da so dunkelrot im Regal lag. Aber Willi war neugierig auf den Geschmack dieses doch so anders aussehenden Käses. Und Willi hatte einen unbeaufsichtigten Augenblick genutzt und war seiner Gruppe entwischt. Seine Gruppe war mit einem Emmentaler beschäftigt.
Käsebohrer tun den ganzen Tag nichts anderes als Käse essen. Und das mit aller Liebe. Aber frisch muss er sein. Käsebohrer findet man nur in den Kühlräumen, wo der frisch gemachte Käse lagert. Käsebohrer machen die Löcher in den Käse. Und je grösser die Löcher in einem Käse, um so besser schmeckt er den kleinen Wesen. Gut, man findet Käsebohrer nicht, aber sie sind da. Nur sind sie so klein, das sie niemand sehen kann. Aber wahrscheinlich hat auch noch nie jemand nach ihnen gesucht. Doch der Beweis ist da. Woher kommen denn sonst die Löcher im Käse?
Willis Familie lebte in einer kleinen Sennerei im Allgäu. Hier lebten und labten sie. Immer darauf bedacht, schnell den frischen Käse zu erreichen, so viel wie nur möglich davon zu essen und ihn wieder zu verlassen, bevor er aus dem Lager geholt wurde. Hat ein Käsebohrer keinen Käse, so stirbt er. So hiess es. Doch hatte Willi noch nie einen gestorbenen Käsebohrer gesehen. Aber irgendwann war wieder einer weg. War wahrscheinlich zu lange in einem Käse geblieben und mit ihm aus dem Kühlraum befördert worden. Und auch der grösste Käse geht einmal zu ende. Und das bedeutet dann wohl auch das Ende des Käsebohrers. Denn niemals war einer wieder aufgetaucht.
Und nun hatte es Willi erwischt. Leise und unbemerkt hatte er sich davon gemacht und war zu dem grossen dunkelroten Käse gewandert. Ein Käse, der einen neuen, noch nie gerochenen Duft von sich gab. Je näher Willi dem riesigen Laib kam, desto beschwingter war er. Und dann erst der Geschmack! Willi wollte nie wieder aufhören zu essen. Dieses Aroma. Wohlig ass Willi sich durch den Käse. Hinterliess hier ein Loch und da ein Loch. Doch dieser Käse hatte eine neue Geschmacksrichtung bekommen. Er hatte drei Tage in Rotwein gelegen. Und dieser Rotwein tat seine Wirkung. Willi wurde zusehends müde. Und vor lauter Müdigkeit konnte Willi nicht weiter essen. Dafür träumte er von einem Land aus rotem Käse.
*
Was war das plötzlich für ein Krach? Und warum bebte die Erde, beziehungsweise der Käse? Und warum hatte Willi solch starke Kopfschmerzen? Wahrscheinlich hatte er zu lange nichts gegessen. Willi ass also weiter. Und achtete nicht weiter darauf, was um ihn herum geschah.
Und dann war es auch wieder ruhig. Der Käse lag da, wie immer. Ruhig und ohne irgendwelche Bewegungen. Und auch Willis Kopfschmerzen wurden mit jedem Bissen Käse weniger. So wie sich auch seine Laune zusehends verbesserte.
Aber Willi dachte immer noch, der Käse befände sich im Kühlraum bei den anderen. Nicht weit von seiner Familie entfernt. Doch dem war nicht so. Die Sennerin hatte den Käse in den Laden gebracht und dann in die Auslage gelegt. Hier sollte er nun liegen und die Kunden zum Kauf anreizen.
Nach und nach wurde der Laib Käse immer kleiner. Ein Teil wurde verkauft. Ein Teil in kleine Häppchen zum Probieren abgeschnitten. Und Willi ass nichts ahnend weiter. Dann wurde es plötzlich hell neben dem kleinen Käsebohrer. Die Verkäuferin hatte direkt an Willi vorbeigeschnitten. Seiner Seitenwand, an der er lehnte, beraubt, rutschte Willi aus dem Käse auf ein Holzbrett. Vor angst schlotternd, aber doch von niemandem bemerkt, wagte es Willi nicht, auch nur einen Teil seines Körpers zu bewegen.
„Darf es sonst noch etwas sein?“ erkundigte sich die Verkäuferin bei einer der zahlreichen Kundinnen.
„Ja, ein viertel vom Emmentaler, bitte.“
„Oh, da muss ich erst einen neuen Laib holen.“
Die Verkäuferin nahm das Holzbrett vom Verkaufstresen und begab sich in den Kühlraum. Als sie das Brett ablegte, um nach dem nächsten Emmentaler zu greifen, ergriff Willi seine Chance. Er verliess schleunigst sein unfreiwilliges Beförderungsmittel und tauchte im nächsten Käse unter.
Voller Freude wurde er von seiner Familie begrüsst und als wahrer Held gefeiert.
* * * * *
E N D E