- Beitritt
- 10.02.2000
- Beiträge
- 2.682
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Zurück in die Stille
»Da spring ich rein!«, ruft mein Vater und lenkt den Passat mit einem Ruck auf den Seitenstreifen. Wir kommen holpernd zum Stehen. Mutters Kopf schlägt an die Scheibe der Beifahrertür.
»Rudolf?« Sie reibt sich den Schädel. »Wo springst du rein?«
»Na, in den Kanal!«
Er steigt aus und rennt diagonal über die Landstraße auf die Brücke. Es hupt zwei Mal. Ein VW-Bus kommt von hinten und bremst ab. Jemand ruft ‚Arschloch!‘. Vater winkt diesem Jemand zu.
»Mein Gott«, sagt Mutter und seufzt. Sie öffnet die Tür und will aussteigen, aber direkt vor ihren Füßen ist die steile Böschung. Mindestens vier oder fünf Meter geht es hinunter. »Das glaube ich jetzt nicht …« Ihr Kopf dreht sich zu mir nach hinten. Ich lege meinen Asterix auf die Seite.
»Heinrich! Geh raus und hol deinen Vater zurück. Wir wollen doch um zwölf am Strand sein.«
»Ist gut, Mama.«
Ich rutsche auf die andere Seite. Ein Blick nach hinten. Alles frei.
»Beeil dich.«
»Ja, Mama«, sage ich und öffne die Tür. Es ist heiß. Um uns herum ist flaches Land, durchzogen von diesen Kanälen voller Moorwasser. Ich mag es nicht.
»Mach die Tür zu, Heinrich!«
»Mach ich, Mama.«
Ich schließe die Tür und sehe nach beiden Seiten, dann überquere ich die Straße. Mein Vater hat schon alle Kleider vor das Brückengeländer gelegt und ist gerade im Begriff, drüber zu klettern. Die orangenen Streifen seiner Badehose glänzen in der Sonne. Er sieht mich, winkt und springt. Ein Jauchzer und es platscht. Nach ein paar Sekunden beginnt er ein Seemannslied zu singen. Ich bin am Geländer angekommen und schaue nach unten. Er schwimmt auf eine Leiter zu, die an den Kanalwänden befestigt ist. Der Kanal ist gut und gern acht Meter breit und zur Brücke mit rostigen Metallwänden eingefasst. Mit Schwung klettert er hoch und setzt sich ins hohe Gras der Böschung.
»Papa! Du sollst sofort wieder zurückkommen, sagt Mama! Wir wollen doch um zwölf am Strand sein!«
»Jaja«, ist seine Antwort. Auf allen Vieren krabbelt er die Böschung hoch, kommt wieder auf die Brücke, stellt sich neben mich und will mit einem eleganten Seitsprung über das Geländer. Mit dem linken Fuß bleibt er hängen. »Scheiße!«, ruft er und lacht. Sein Fall ist kurios. Es platscht und nach dem Auftauchen besingt er wieder die alten Seemänner. Leiter und Böschung hoch. Dann steht er neben mir.
»Ist das nicht herrlich?«, fragt er.
»Das Wasser ist dreckig.« Er sieht mich an.
»Das Wasser ist nicht dreckig. Es ist Moorwasser. Das muss so sein. Der Kanal entwässert die ganzen Wiesen hier. Sonst könnte da niemand wohnen und seine Kühe grasen lassen.«
»Ich weiß, Papa. Haben wir in der Schule gelernt.«
Er nickt verständnisvoll. »Hab’s vergessen. Sind ja Sommerferien. Da reden wir nicht über Schule.«
»Rudolf!«
Mama ruft, aber sie ist nur schwach zu hören.
»Fenster zu, Türen zu«, meint Papa grinsend, »da haben wir jetzt einfach nix gehört, oder?«
»Doch«, widerspreche ich. »Hab ich gehört.«
»Verräter.«
Darauf weiß ich nichts zu sagen. Es ist aber nicht gut, sich Mama zu widersetzen. Das bedeutet Schweigen für alle bis mindestens heute Abend.
»Komm, Heinrich! Zieh dich aus. Spring nur einmal mit runter«, bettelt er und klopft auf meine Schulter. Ich schaue erneut nach unten. Ganz schön hoch, denke ich. »Das sind doch bestimmt sechs Meter oder so …«
»Schöne Arschbombe machen, kein Problem«, sagt er.
»Nee, keine Lust, Papa.«
»Feigling!«
Er klettert übers Geländer und springt. Eine Arschbombe. Das Moorwasser spritzt nur so auseinander. Dann taucht er wieder auf, erklimmt die Böschung und setzt sich ins kniehohe Gras.
»Feigling!«, ruft er.
Kein Feigling, denke ich und ziehe mich aus. Ich habe die schönere Badehose. Eindeutig. Adidas, schwarz mit weißen Streifen.
»Heinrich!« Wieder die Mahnung meiner Mutter. Wenn ich über das Geländer klettere, gibt es kein Zurück mehr. Das ist mir klar. Also tue ich es.
»Ja!«, ruft mein Vater, »das ist mein Sohn!«
Ich grinse und höre nur noch dumpf ein weiteres ‚Heinrich!‘ hinter mir. Reg dich nicht auf, Mama, will ich sagen. Ist doch nur Wasser. Dann springe ich. Steif wie ein Brett. Scheiße! Arschbombe vergessen … und tauche ein. Wie ein Schwert drücken sich die Füße samt Unterschenkel in den Morast. Schnell raus. Die Arme rudern. Ich bewege mich keinen Millimeter. In Sekundenschnelle ist der Puls oben. Rudern, rudern, die Füße rausziehen! Aber jede Bewegung saugt mich weiter hinein.
Ich weiß plötzlich, dass ich sterben werde. Wie eine Explosion ist dieser Gedanke in meinem Kopf und presst alles andere auf Seite, bläst es hinweg. Ich sterbe, sterbe, sterbe! Dass Angst so kalt sein kann. Hilfe!, rufe ich, aber das Wort ist nichts als eine Luftblase. Mein Herz wird ein Presslufthammer. Jeder Schlag tut weh. Ich weine. Im Wasser. Sterben … die Luft wird weniger. Eine Stahlklammer legt sich um mich und quetscht gnadenlos meine Lungen. Hilfe, blubbere ich. Und dann weiß ich nicht, was passiert.
Der Frieden kommt. Es ist Frühling, Sommer. Still und doch lebendig. Es ist warm, hell, nein, es ist weiß oder durchsichtig. Es hat mir die Angst genommen. Und die Zeit. Ich bin ewig dort, aber doch erst kurz. Ich kann die Füße wieder bewegen, den Kopf nach vorne neigen und sie sehen. Mit den Zehen wackeln. Warum bin ich nackt? Egal. Dreh dich um, Heinrich, denke ich. Als ich das tue, sehe ich mich. Hinter mir, nein, jetzt vor mir. Etwas wie Strom kriecht durch mich hindurch. Keine Ahnung, was das sein könnte. Es ist so mächtig. Kräftig. Ich werde dieser Strom. Dann wird mir klar, was ich bin. Frei. Absolute Freiheit und absoluter Frieden. Das ist, was mich umgibt und was ich bin. Ich möchte hier bleiben. Es soll meine Heimat werden. Schlafen wäre schön.
Ich brenne. Nein. Etwas brennt. Das Feuer kommt immer wieder, immer schneller …
»Heinrich! Sohnemann!«
Es klatscht und es brennt.
»Heinrich! Oh Gott …«
Papa, will ich sagen, aber es kommt mir hoch. Ich sehe Brackwasser aus meinem Mund herauslaufen. Jemand drückt mich auf die Seite und schlägt von hinten auf mich ein. Noch mehr Brühe kommt raus. Torfreste dazwischen, Undefinierbares. Dann übergebe ich mich endgültig und das Frühstück landet auf der Böschung. Hände unter meinen Achseln, die mich schütteln.
Papa, versuche ich es wieder, aber da ist was in meiner Brust. Es kriecht nach oben. Ich huste. Es hört sich an, als zöge jemand eine Kette durch ein Stahlrohr. Läuft da jetzt auch Wasser aus meiner Lunge? Ich verstehe das nicht. Mehr als husten kann ich nicht. Nach einigen weiteren Schüttlern und Rückenschlägen bin ich wohl leer.
»Scheiße«, sagt jemand.
»Papa? Was ist passiert?«
»Sag nix. Ich hol deine Klamotten. Dann nichts wie weg.«
Er lässt mich los und ich falle ins Gras. Die Sonne lächelt mich an und wärmt. Wie schön sie doch ist. Mir ist so kalt. Und diese Kälte kommt von innen. Wie kann das sein? Sie ist mir so fremd. Eine Kälte von innen?
Papa kommt zurück und hilft mir beim Anziehen. Dann schiebt er mich den Hang hoch und legt seinen Arm um meine Schulter.
»Meine Backe brennt wie Feuer«, stelle ich fest.
»Sie ist ja auch rot wie ein Schnitzel.«
Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.
»Wir sind zwei Besoffene, die aus der Kneipe kommen, oder?«, erklärt er.
»Wenn du meinst.«
Erstaunlich, dass ich das nicht spielen muss. Meine Beine sind so schwach und wackelig, dass mir das auch ohne Alkohol gelingt. Mama liest eine Zeitschrift. Schweigen bis heute Abend, das sehe ich ihrem Gesicht an. Soll mir recht sein, denn ich habe keine Lust, Fragen zu beantworten.
Es geht weiter. Der Motor läuft. Papa raucht. Mama liest. Und ich schaue aus dem Fenster. Zwei, drei kräftige Huster. Die Rückenlehne meiner Mutter ist nun mit Brackwasser gesprenkelt. Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, kriecht ein Stück Erinnerung hervor. Ich weiß, wo ich war. In einer anderen Welt. Die Kühe da draußen wissen nichts von ihr. Sie fressen. Und geben Milch. Vor mir sitzen meine Eltern. Und sie wissen ebenfalls nicht, wo ich war. Aber ich weiß, dass es diese Welt gibt. Und dort will ich wieder hin. Muss ich wieder hin. Zurück in die Stille. Niemals zuvor fühlte ich mich so frei und voller Frieden.