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Zurück in die Stille

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10.02.2000
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Zurück in die Stille

»Da spring ich rein!«, ruft mein Vater und lenkt den Passat mit einem Ruck auf den Seitenstreifen. Wir kommen holpernd zum Stehen. Mutters Kopf schlägt an die Scheibe der Beifahrertür.
»Rudolf?« Sie reibt sich den Schädel. »Wo springst du rein?«
»Na, in den Kanal!«
Er steigt aus und rennt diagonal über die Landstraße auf die Brücke. Es hupt zwei Mal. Ein VW-Bus kommt von hinten und bremst ab. Jemand ruft ‚Arschloch!‘. Vater winkt diesem Jemand zu.
»Mein Gott«, sagt Mutter und seufzt. Sie öffnet die Tür und will aussteigen, aber direkt vor ihren Füßen ist die steile Böschung. Mindestens vier oder fünf Meter geht es hinunter. »Das glaube ich jetzt nicht …« Ihr Kopf dreht sich zu mir nach hinten. Ich lege meinen Asterix auf die Seite.
»Heinrich! Geh raus und hol deinen Vater zurück. Wir wollen doch um zwölf am Strand sein.«
»Ist gut, Mama.«
Ich rutsche auf die andere Seite. Ein Blick nach hinten. Alles frei.
»Beeil dich.«
»Ja, Mama«, sage ich und öffne die Tür. Es ist heiß. Um uns herum ist flaches Land, durchzogen von diesen Kanälen voller Moorwasser. Ich mag es nicht.
»Mach die Tür zu, Heinrich!«
»Mach ich, Mama.«

Ich schließe die Tür und sehe nach beiden Seiten, dann überquere ich die Straße. Mein Vater hat schon alle Kleider vor das Brückengeländer gelegt und ist gerade im Begriff, drüber zu klettern. Die orangenen Streifen seiner Badehose glänzen in der Sonne. Er sieht mich, winkt und springt. Ein Jauchzer und es platscht. Nach ein paar Sekunden beginnt er ein Seemannslied zu singen. Ich bin am Geländer angekommen und schaue nach unten. Er schwimmt auf eine Leiter zu, die an den Kanalwänden befestigt ist. Der Kanal ist gut und gern acht Meter breit und zur Brücke mit rostigen Metallwänden eingefasst. Mit Schwung klettert er hoch und setzt sich ins hohe Gras der Böschung.
»Papa! Du sollst sofort wieder zurückkommen, sagt Mama! Wir wollen doch um zwölf am Strand sein!«
»Jaja«, ist seine Antwort. Auf allen Vieren krabbelt er die Böschung hoch, kommt wieder auf die Brücke, stellt sich neben mich und will mit einem eleganten Seitsprung über das Geländer. Mit dem linken Fuß bleibt er hängen. »Scheiße!«, ruft er und lacht. Sein Fall ist kurios. Es platscht und nach dem Auftauchen besingt er wieder die alten Seemänner. Leiter und Böschung hoch. Dann steht er neben mir.
»Ist das nicht herrlich?«, fragt er.
»Das Wasser ist dreckig.« Er sieht mich an.
»Das Wasser ist nicht dreckig. Es ist Moorwasser. Das muss so sein. Der Kanal entwässert die ganzen Wiesen hier. Sonst könnte da niemand wohnen und seine Kühe grasen lassen.«
»Ich weiß, Papa. Haben wir in der Schule gelernt.«
Er nickt verständnisvoll. »Hab’s vergessen. Sind ja Sommerferien. Da reden wir nicht über Schule.«
»Rudolf!«
Mama ruft, aber sie ist nur schwach zu hören.
»Fenster zu, Türen zu«, meint Papa grinsend, »da haben wir jetzt einfach nix gehört, oder?«
»Doch«, widerspreche ich. »Hab ich gehört.«
»Verräter.«
Darauf weiß ich nichts zu sagen. Es ist aber nicht gut, sich Mama zu widersetzen. Das bedeutet Schweigen für alle bis mindestens heute Abend.

»Komm, Heinrich! Zieh dich aus. Spring nur einmal mit runter«, bettelt er und klopft auf meine Schulter. Ich schaue erneut nach unten. Ganz schön hoch, denke ich. »Das sind doch bestimmt sechs Meter oder so …«
»Schöne Arschbombe machen, kein Problem«, sagt er.
»Nee, keine Lust, Papa.«
»Feigling!«
Er klettert übers Geländer und springt. Eine Arschbombe. Das Moorwasser spritzt nur so auseinander. Dann taucht er wieder auf, erklimmt die Böschung und setzt sich ins kniehohe Gras.
»Feigling!«, ruft er.
Kein Feigling, denke ich und ziehe mich aus. Ich habe die schönere Badehose. Eindeutig. Adidas, schwarz mit weißen Streifen.
»Heinrich!« Wieder die Mahnung meiner Mutter. Wenn ich über das Geländer klettere, gibt es kein Zurück mehr. Das ist mir klar. Also tue ich es.
»Ja!«, ruft mein Vater, »das ist mein Sohn!«
Ich grinse und höre nur noch dumpf ein weiteres ‚Heinrich!‘ hinter mir. Reg dich nicht auf, Mama, will ich sagen. Ist doch nur Wasser. Dann springe ich. Steif wie ein Brett. Scheiße! Arschbombe vergessen … und tauche ein. Wie ein Schwert drücken sich die Füße samt Unterschenkel in den Morast. Schnell raus. Die Arme rudern. Ich bewege mich keinen Millimeter. In Sekundenschnelle ist der Puls oben. Rudern, rudern, die Füße rausziehen! Aber jede Bewegung saugt mich weiter hinein.
Ich weiß plötzlich, dass ich sterben werde. Wie eine Explosion ist dieser Gedanke in meinem Kopf und presst alles andere auf Seite, bläst es hinweg. Ich sterbe, sterbe, sterbe! Dass Angst so kalt sein kann. Hilfe!, rufe ich, aber das Wort ist nichts als eine Luftblase. Mein Herz wird ein Presslufthammer. Jeder Schlag tut weh. Ich weine. Im Wasser. Sterben … die Luft wird weniger. Eine Stahlklammer legt sich um mich und quetscht gnadenlos meine Lungen. Hilfe, blubbere ich. Und dann weiß ich nicht, was passiert.

Der Frieden kommt. Es ist Frühling, Sommer. Still und doch lebendig. Es ist warm, hell, nein, es ist weiß oder durchsichtig. Es hat mir die Angst genommen. Und die Zeit. Ich bin ewig dort, aber doch erst kurz. Ich kann die Füße wieder bewegen, den Kopf nach vorne neigen und sie sehen. Mit den Zehen wackeln. Warum bin ich nackt? Egal. Dreh dich um, Heinrich, denke ich. Als ich das tue, sehe ich mich. Hinter mir, nein, jetzt vor mir. Etwas wie Strom kriecht durch mich hindurch. Keine Ahnung, was das sein könnte. Es ist so mächtig. Kräftig. Ich werde dieser Strom. Dann wird mir klar, was ich bin. Frei. Absolute Freiheit und absoluter Frieden. Das ist, was mich umgibt und was ich bin. Ich möchte hier bleiben. Es soll meine Heimat werden. Schlafen wäre schön.

Ich brenne. Nein. Etwas brennt. Das Feuer kommt immer wieder, immer schneller …
»Heinrich! Sohnemann!«
Es klatscht und es brennt.
»Heinrich! Oh Gott …«
Papa, will ich sagen, aber es kommt mir hoch. Ich sehe Brackwasser aus meinem Mund herauslaufen. Jemand drückt mich auf die Seite und schlägt von hinten auf mich ein. Noch mehr Brühe kommt raus. Torfreste dazwischen, Undefinierbares. Dann übergebe ich mich endgültig und das Frühstück landet auf der Böschung. Hände unter meinen Achseln, die mich schütteln.
Papa, versuche ich es wieder, aber da ist was in meiner Brust. Es kriecht nach oben. Ich huste. Es hört sich an, als zöge jemand eine Kette durch ein Stahlrohr. Läuft da jetzt auch Wasser aus meiner Lunge? Ich verstehe das nicht. Mehr als husten kann ich nicht. Nach einigen weiteren Schüttlern und Rückenschlägen bin ich wohl leer.
»Scheiße«, sagt jemand.
»Papa? Was ist passiert?«
»Sag nix. Ich hol deine Klamotten. Dann nichts wie weg.«
Er lässt mich los und ich falle ins Gras. Die Sonne lächelt mich an und wärmt. Wie schön sie doch ist. Mir ist so kalt. Und diese Kälte kommt von innen. Wie kann das sein? Sie ist mir so fremd. Eine Kälte von innen?
Papa kommt zurück und hilft mir beim Anziehen. Dann schiebt er mich den Hang hoch und legt seinen Arm um meine Schulter.
»Meine Backe brennt wie Feuer«, stelle ich fest.
»Sie ist ja auch rot wie ein Schnitzel.«
Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.
»Wir sind zwei Besoffene, die aus der Kneipe kommen, oder?«, erklärt er.
»Wenn du meinst.«
Erstaunlich, dass ich das nicht spielen muss. Meine Beine sind so schwach und wackelig, dass mir das auch ohne Alkohol gelingt. Mama liest eine Zeitschrift. Schweigen bis heute Abend, das sehe ich ihrem Gesicht an. Soll mir recht sein, denn ich habe keine Lust, Fragen zu beantworten.

Es geht weiter. Der Motor läuft. Papa raucht. Mama liest. Und ich schaue aus dem Fenster. Zwei, drei kräftige Huster. Die Rückenlehne meiner Mutter ist nun mit Brackwasser gesprenkelt. Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, kriecht ein Stück Erinnerung hervor. Ich weiß, wo ich war. In einer anderen Welt. Die Kühe da draußen wissen nichts von ihr. Sie fressen. Und geben Milch. Vor mir sitzen meine Eltern. Und sie wissen ebenfalls nicht, wo ich war. Aber ich weiß, dass es diese Welt gibt. Und dort will ich wieder hin. Muss ich wieder hin. Zurück in die Stille. Niemals zuvor fühlte ich mich so frei und voller Frieden.

 

Guten Morgen, @Morphin,

du bist wohl gar nicht auszubremsen, was? :thumbsup:
Das muss ein sehr befriedigender Zustand sein, wenn man vor Kreativität nur so überquillt.

Aber zu deiner Geschichte.
Zusammenfassung in einem Satz: Sie hat mich stark beeindruckt.
Dass du mit routinierter Sprache überzeugst, müsste ich nicht extra erwähnen. Es wird schnell klar, man hat es mit dem Text eines erfahrenen Autors zu tun.

Die Geschichte scheint mit einem Späßchen zu beginnen. Und während ich mich auf die angespannte Beziehung zwischen Vater und Mutter konzentriere und neugierig bin, ob Vater und Sohn es schaffen, sich von Mutters Kommando „freizuschwimmen“,

Es ist aber nicht gut, sich Mama zu widersetzen. Das bedeutet Schweigen für alle bis mindestens heute Abend.

kippt die Situation, der Sohn gerät in Lebensgefahr. Das hatte ich absolut nicht erwartet.
Wie ein Schwert drücken sich meine Füße samt Unterschenkel in den Morast. Schnell raus. Die Arme rudern. Ich bewege mich keinen Millimeter. In Sekundenschnelle ist mein Puls oben. Rudern, rudern, die Füße rausziehen! Aber jede Bewegung meiner Füße saugt mich weiter hinein.

Nach der Panik und der Todesangst ( sorry, die Stelle wollte ich nicht auch noch kopieren, auch wenn sie es verdient hätte) die erneute Wende:
Der Frieden kommt. Es ist Frühling, Sommer. Still und doch lebendig. Es ist warm, hell, nein , es ist weiß oder durchsichtig.

Schon nach wenigen Worten war mir klar, dass du hier eine Nahtoderfahrung beschreibst. Der gesamte Absatz super formuliert, glaubwürdig und einfühlsam, denke ich. Die Erlebnisse von Betroffenen an dieser Schwelle sind ja durchweg positiv besetzt. Sie schildern nicht nur den tiefen Frieden, sondern sprechen wohl auch von Erkenntnissen auf einer höheren Bewusstseinsebene, für die es in unserer Welt keine Worte geben soll. Mir ist gerade ganz unheimlich zumute. :)
(zwischen dem nein und dem Komma hat sich ein Leerzeichen eingeschlichen)

Aber ich weiß, dass es diese Welt gibt. Und dort will ich wieder hin. Muss ich wieder hin. Zurück in die Stille. Niemals zuvor, fühlte ich mich so frei und so voller Frieden.
Du setzt noch einen drauf. Das Erlebnis unter Wasser mündet in Todessehnsucht. Keine Ahnung, ob solche Wünsche resultieren können. In dem Falle nehme ich es dem Prota aber ab.
(Kann das mit Heinrichs Pubertät zu tun haben?)

Das soll es schon von mir gewesen sein, wollte dir nur schnell ein paar erste Gedanken dalassen und natürlich ein dickes Kompliment.

Ein sonniges Wochenende und liebe Grüße,

peregrina

 

Guten Morgen @peregrina,

in diesem Falle musste ich nicht so kreativ sein, sondern mich nur erinnern und aufschreiben. Diese Corona-Pause hat alles außerhalb der Tür lahmgelegt und das innerhalb treibt seine Stilblüten. Im Prinzip träume ich sehr viel, auch über meine Angst vor Wasser, stehe auf und schreibe. Ein sparsames Leben.

Der Abschnitt mit dieser totalen Wirkung durch absoluten Frieden und Freiheit hat mich bis heute nicht losgelassen. Und das Zurückwollen in diese andere Welt kann man durchaus mit der Pubertät in Einklang bringen, die damals begann.

Besten Dank fürs frühe Lesen und Kommentieren. Jetzt erst mal einen Kaffee. Und dir ebenfalls ein angenehmes Wochenende.

Griasle
Morphin

 

Hallo @Morphin,

dein Text hat mir gefallen und ich finde ihn wirklich schön. Dein Stil ist sympathisch, nicht aufgesetzt, aber doch an Stellen sehr stark und dabei klischeefrei, das macht immer Spaß zu lesen, vor allem wirkt es so, als wäre dieser Text ganz schnell und einfach entstanden und ist dabei so gut.
Vor allem toll finde ich, wie du den Vater und die Beziehung von Heinrich zu seiner Mutter nur durch die wörtliche Rede beschreibst, ohne viel erklären zu müssen. Schon nach dem ersten Absatz glaubt man die Figuren einigermaßen zu kennen, ohne, dass sie direkt charakterisiert werden. Toll!
Weil dieser Text eine Erinnerung von Dir ist, ist natürlich der Aufbau oder Spannungsbogen unkonventionell, trotzdem ist das Ende stark und der Beginn wird vom Stil und der Beziehung zwischen den Figuren getragen. Funktioniert!
Habe lange überlegt ob ich irgendeinen Kritikpunkt zum Text habe, aber mir ist nichts eingefallen. Dein Text ist schön und macht Spaß!

Viele Grüße und schönes Wochenende!
Max

 

Hallo @Max88,

vor allem wirkt es so, als wäre dieser Text ganz schnell und einfach entstanden
In der Tat. Gestern Vormittag angefangen und abends fertig. Liegt eben daran, dass es a) Erinnerung ist und b) nicht so lang. Eine kurze Kurzgeschichte. Die Präsenz dieses kurzen Augenblicks, der vor 45 Jahren passierte, ist heute noch recht deutlich. Aber mehr als Echo. Vor allem in Träumen. Jedoch denke ich schon, dass die Wirkungen und Auswirkungen Einfluss auf mein Leben hatten, auf Entscheidungen, bei denen Ängste mehr Gewicht hatten als Ratio. Oder Leichtsinn mehr als Abwägen. Wohl nicht messbar. Eines war aber ganz deutlich: Wenn Menschen mir später erzählten, sie wären mal in einer anderen Welt gewesen, habe ich das respektiert und nicht als lächerlich abgetan.

Ich danke fürs Lesen und deine Worte.
Ebenfalls ein schönes Wochenende.

Morphin

 

Moin, @Rob F,

ja, mal was anderes. Und exakt so passiert, wie aufgeschrieben. Mum hat nix gemerkt und wir haben es ihr auch nie gesagt. Und "spinnst du" hätte sie nie in den Mund genommen. Viel zu gut erzogen. Mein Papa hat halt nur "Arschbomben" gemacht. Ich war eben so "blöd", keine zu machen. Und so bin ich press in den Morast mit ausgestreckten Beinen. Mein Dad hat mich nie vor irgendwas gewarnt. Er war der Meinung, dass nur Schmerz und Pein gute Lehrer sein können. Diese Szene aus meinem Leben wollte ich schon lange mal aufschreiben. Einfach eine kleine Geschichte zwischendurch. Die Brückengeländer - damals zumindest - hatten einen breiten Handlauf, überstehend. An dem Überstand blieb er hängen. So, noch die Sachen geändert. :)

Danke fürs Lesen und Kommentieren und eine sonnige Woche nach Köln.

Griasle
Morphin

 

Hallo @Morphin,

Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Schöne Thematik, Alltag, Familie. Ein erschütterndes Erlebnis. Ich hab die Geschichte in einem Rutsch durchgelesen, war nah bei den Protagonisten und konnte mir alles gut im Kopfkino vorstellen. Ich hab mitgefiebert, mitgefühlt, Nähe zu den Protas aufgebaut. Da ist kein Wort zu viel oder zu wenig. Sehr schön!

Er sieht mich, winkt und springt. Ein Jauchzer und es platscht. Nach ein paar Sekunden beginnt er ein Seemannslied zu singen.

Eine wundervolle Stelle!

Und sie wissen ebenfalls nicht, wo ich war. Aber ich weiß, dass es diese Welt gibt. Und dort will ich wieder hin. Muss ich wieder hin. Zurück in die Stille. Niemals zuvor fühlte ich mich so frei und voller Frieden.

Ich finde das sehr berührend. Und zugleich krass. Hat mich sehr bewegt.

Vielen Dank für die tolle Geschichte und einen schönen Tag,
Silvita

 

Hey Morphin,

"Einfach eine kleine Geschichte zwischendurch."
Ich hab' sie gerne gelesen. Bisschen mehr Drama hätte ihr vielleicht gutgetan, auch ist mir die Mutter zu blass und passiv und was das Erlebnis dann für Auswirkungen zeigt, fände ich auch spannend. Ist halt immer ein bisschen das Problem bei Texten, die auf Erinnerungen basieren - ist halt so und so passiert, da ist es sicher schwierig, das noch weiter literarisch aufzuarbeiten und oder auszuschmücken. Nicht missverstehen, ich Schlucke das schon alles so, ohne dass mir da jetzt was im Halse stecken bleibt. Du hast das auf eine bestimmte Art intendiert, das passt schon auch so.
Gut vorstellen könnte ich mir den Text auch eingebettet in einer längeren Geschichte - als Rückblick oder so -, die das Thema näher beleuchtet oder beweist, dass das Erlebte dann Folgen hatte, gerade weil du weiter oben schreibst: "Jedoch denke ich schon, dass die Wirkungen und Auswirkungen Einfluss auf mein Leben hatten, auf Entscheidungen, bei denen Ängste mehr Gewicht hatten als Ratio. Oder Leichtsinn mehr als Abwägen." Fände ich interessant, würde ich gerne lesen :).

Textkram:

Mein Vater winkt diesem Jemand zu.
»Mein Gott«, sagt meine Mutter und seufzt.
Mal exemplarisch - die eine oder andere Passage zitiere ich vielleicht nachfolgend noch -, mir ist das stellenweise zu possessivartikellastig. Da könntest du noch rangehen, meine ich.

Ich lege meinen Asterix auf die Seite.
Kleinscheiß, ich weiß, aber nach dem Bremsmanöver gehe ich nicht davon aus, dass der Junior noch im Asterix vertieft sein wird - klingt für mich nämlich ein wenig so.

Alles frei.
»Beeil dich.«
»Ja, Mama«, sage ich und öffne die Tür. Es ist heiß. Um uns herum ist alles flach und durchzogen von diesen Kanälen voller Moorwasser. Es ist hässlich.
Auch nur Kleinkam, aber der Doppler könnte weg, und das Anhängsel würde ich auch rausnehmen, brauchst du nicht, finde ich, lieber noch die Beschreibung ausbauen.

Ein Blick nach hinten. Alles frei.
...
Ich schließe die Tür und sehe nach beiden Seiten, dann überquere ich die Straße.
Vermutlich möchtest du aufzeigen, wie gut gedrillt der Junior ist, zeigt ja auch 'ne Eigenschaft des Prots, klar, bräuchte ich dennoch nicht, wirkt ehr doppelt gemoppelt auf mich, so nach: Kapiert, Leser? Ich würde mit dem Folgesatz in den nächsten Abschnitt starten, ist ja jetzt auch nicht der schönste und wichtigste Einleitungssatz im Text ;).

Ein Jauchzer und es platscht. Nach ein paar Sekunden beginnt er ein Seemannslied zu singen. Ich bin am Geländer angekommen und schaue nach unten.
Finde ich schwierig mit solchen Zeitangaben, bleibe da immer wieder mal hängen, frage mich meist, ob das schlüssig ist. Wo steht, geht denn der Jüngling jetzt, wie weit ist er entfernt? Nach dem Sprung und Platschen vergehen mehrere Sekunden, dann beginnt das Seemannslied (wieso beginnt er das Seemannslied zu singen und singt es nicht einfach?), dann steht er erst am Geländer und schaut. Warum nicht einfach derart: Ein Jauchzer und es platscht. Dann singt er ein Seemannslied. Ich schaue nach unten.

Er schwimmt auf eine Leiter zu, die an den Kanalwänden befestigt ist. Der Kanal ist gut und gern acht Meter breit und zur Brücke mit rostigen Metallwänden eingefasst. Mit Schwung klettert er die Leiter hoch und setzt sich ins hohe Gras der Böschung.
»Papa! Du sollst sofort wieder zurückkommen, sagt Mama! Wir wollen doch um zwölf am Strand sein!«
»Jaja«, ist seine Antwort. Auf allen Vieren krabbelt er die Böschung hoch, kommt wieder auf die Brücke, stellt sich neben mich und will mit einem eleganten Seitsprung über das Geländer.
Vermeidbare Doppler. Zudem habe ich wieder so ein Miniproblemchen mit der zeitlichen Abfolge: Mit Schwung, also schnell, klettert er hoch, setzt sich dann ja-ja-sagend ins Gras, um schwubs!, gleich darauf auf allen Vieren hochzukraxeln. Keine Ahnung, ob du verstehst, worauf ich hinauswill :).

Sein Fall nach unten ist kurios. Es platscht und nach dem Auftauchen besingt er wieder die alten Seemänner. Leiter und Böschung hoch. Dann steht er wieder neben mir.
Du weißt schon.

»Ist das nicht herrlich?«, fragt er. Aber nicht mich. Irgendjemanden, der weit entfernt am Horizont steht.
»Das Wasser ist dreckig[!, werfe ich ein. Er sieht mich an.
»Das Wasser ist nicht dreckig. Es ist Moorwasser. Das muss so sein. Der Kanal entwässert die ganzen Wiesen hier. Sonst könnte da niemand wohnen und seine Kühe grasen lassen.«
Bin ja eher Fan klassischer Inquitformeln, du setzt die immer wieder mal anders zusammen, aber das ist Geschmackssache. Bisschen Kürzen könnte man hier und da, meine ich, in der letzten wörtlichen Rede ist mir da auch ein wenig too much Infodump.

»Fenster zu, Türen zu«, meint Papa grinsend, »da haben wir jetzt einfach nix gehört, oder?«
»Doch«, widerspreche ich. »Hab ich gehört.«
Noch mal was zu den erklärenden Inquitformeln. Streichst du die hier weg, verliere ich doch null Info, oder?

»Komm, Heinrich! Zieh dich aus. Spring nur einmal mit runter«, fordert mein Vater mich auf und klopft auf meine Schulter.
Auch hier - jetzt höre ich aber auf damit, versprochen: Zeigst du das nicht schon ausreichend? Den Erklärbär brauche ich doch gar nicht als Leser.

Ich schaue erneut nach unten. Ganz schön hoch, denke ich. »Das sind doch bestimmt sechs Meter oder so …«, gebe ich zu bedenken.
Du weißt schon.

Er klettert übers Geländer und springt. Eine Arschbombe. Das Moorwasser spritzt nur so auseinander. Dann taucht er wieder auf, klettert auf die Böschung und setzt sich ins kniehohe Gras.
...
Wenn ich über das Geländer klettere, gibt es kein Zurück mehr. Das ist mir klar. Also klettere ich drüber.
...

»Feigling!«, ruft er.
Kein Feigling, denke ich und ziehe mich aus. Ich habe die schönere Badehose.
Du zeigst doch schon den Widerspruch zur Provokation, indem du den Knaben springen lässt, bräuchte das also nicht.

Die Stimme meiner Mutter zerreißt fast die Autoscheiben.
Scheint mir etwas drüber - passt iwie auch nicht zur restlichen Charakterisierung.

»Ja!«, ruft mein Vater, »das ist mein Sohn!«
...
Wie ein Schwert drücken sich meine Füße samt Unterschenkel in den Morast. Schnell raus. Die Arme rudern. Ich bewege mich keinen Millimeter. In Sekundenschnelle ist mein Puls oben. Rudern, rudern, die Füße rausziehen! Aber jede Bewegung meiner Füße saugt mich weiter hinein.
... Wie eine Explosion ist dieser Gedanke in meinem Kopf und presst alles andere auf Seite, bläst es hinweg. ... Mein Herz wird ein Presslufthammer. ... Eine Stahlklammer legt sich um mich und quetscht gnadenlos meine Lungen.
Vermeidbar, finde ich, durch einfache Artikel oder Rotstift.
Ich kann wieder meine [die] Füße bewegen, meinen [den] Kopf nach vorne neigen und sie sehen.
Letztes Beispiel dazu.


Soll mal reichen jetzt, Morphin, ist eh alles nur Kleinkram, vieles Geschmackssache, aber vielleicht hast du ja Lust bekommen, den Text nochmals abzuklopfen, hast ihn ja im Rekordtempo niedergeschrieben.
Trotz der Anmerkungen soll jetzt nicht der Eindruck entstehen, es gebe jetzt mehr Gemecker denn Lob von mir. Ich hab's ganz oben schon erwähnt: Hab' die Geschichte gerne gelesen!

Vielen Dank fürs Hochladen

hell

 

Mahlzeit @hell,

so einiges geändert, an- um- und abgebaut. Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Der längere Text existiert durchaus, ist aber noch nicht reif zum Lesen. Als "kurze Geschichte" vielleicht wirklich zu wenig Text für ein intensives Erlebnis mit Todesangst und "andere Welt". Gibt da so eine Ausschreibung, die sich "Andere Welten" nennt. Und ich habe mich an diesem Morgen kurzentschlossen an die Episode gesetzt und dann abgeschickt. Ob sie genommen wird, keine Ahnung. Tatsächlich ist es mir auch nicht so wichtig, OB sie genommen wird, denn Wettbewerbe sind wie Schall und Rauch. Das war wirklich eine Spontanentscheidung, aufstehen, Kaffee schlürfen, tippen, fertig. Hab deine Vorschläge weitestgehend eingearbeitet.

Griasle
Morphin

 

Lieber @Morphin,

ich lese ja fleißig mit und bin beeindruckt von der Menge und Qualität deiner Texte. Die Kriegstexte lassen mich schockiert zurück, da bleibt einfach pures Entsetzen darüber, was sich Menschen gegenseitig antun.
In diesem Text empfinde ich auch eine Art Brutalität. Wie der Vater mit seiner Frau und seinem Sohn umgeht, macht mich richtig wütend.

»Da spring ich rein!«, ruft mein Vater und lenkt den Passat mit einem Ruck auf den Seitenstreifen. Wir kommen holpernd zum Stehen. Mutters Kopf schlägt an die Scheibe der Beifahrertür.
Toller Einstieg. Da wird einem Impuls gefolgt ohne Rücksicht auf Verluste. Mir kommt es so vor, als ob die Frau auch letztlich kein anderes Machtmittel hat, außer ihrem Schweigen.
Ein VW-Bus kommt von hinten und bremst ab. Jemand ruft ‚Arschloch!‘. Vater winkt diesem Jemand zu.
Sag ich doch.

Der Sohn hängt dazwischen, wird zermahlen zwischen seinen Eltern. Diese Szene am Wasser zeigt in wenigen Sätzen ein ganzes komplexes Beziehungsdrama zwischen den drei Personen, da finde ich das Potential einer Kurzgeschichte genial ausgeschöpft. Und dann kommt, völlig überraschend, die Nahtoderfahrung. Der Junge steckt fest, als er versucht, dem Vater zu folgen und stirbt beinahe. Toll und drastisch geschilderte Situation. Irgendwie wirkt das so, als ob sich da ein schrecklicher Ausweg bietet, aus seinem Dilemma, aber es geht eben noch darüber hinaus, er erlebt, dass der Tod seinen Schrecken verliert, im Gegenteil, es bleibt Sehnsucht. Immerhin ist der Vater zur Stelle, aber die Art, wie er das vertuscht, zeigt halt wieder so etwas Infantiles. So bleibt der Junge mit seinem Erleben allein, ist verändert, ohne dass es jemand bemerkt.

Du machst ja keinen Hehl daraus, dass es sich um wahre Erlebnisse handelt und ich hoffe, du empfindest meinen Kommentar nicht als unangenehm sezierend. Offensichtlich hast du ja schon einiges erlebt und weißt klug daraus auszuwählen. Mir hat diese Geschichte sehr gut gefallen.

Liebe Grüße von Chutney

 

Salü @Chutney,

besten Dank fürs Lesen, Kommentieren und deine Gedanken dazu. Tja, wenn man überlegt, wie lange das schon her ist ... Ich mag deine Antenne für den Vater. Das Infantile. Um dieses Dilemma werden sich noch viele Texte drehen müssen. Ich habe den Eindruck, wenn ich meinen Vater oder die Väter meiner Kumpels mit den Vätern heute vergleiche, dass sich etwas verändert hat, weg vom Infantilen (natürlich habe ich da keine Zahlen, keine Empirie). Zumindest im Bekanntenkreis ist das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern zum einen ernsthafter, zum anderen mehr auf Augenhöhe. Interessanterweise sind die meisten meiner Schulkollegen später gescheitert, auf die eine oder andere Weise.

Noch einen schönen Abend und wenig Regen wünscht
Morphin

 

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