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Zwang
Ich überwinde den Widerstand, diesen Druck in meinem Schädel und drücke den Aufnahmeknopf. Dann spreche ich die Sätze auf Band, wie der Therapeut es mir geraten hat. Es sind Sätze, die ich kenne und verstehe, und sie sind Nichts. Das ist meine Diagnose.
Die Straße ist nur von Kunstlicht erhellt und es lässt sich nichts entdecken, was den Druck in meinem Schädel bezwecken könnte. In meiner Hosentasche umklammere ich das Diktiergerät. Mein Finger liegt auf der Abspieltaste wie auf dem Abzug einer Waffe, die ich im nächsten Moment gegen mich selbst richte.
Langsam kriecht die Kälte in meine Füße, als ich einen ausgebeulten Müllsack am Straßenrand entdecke. Ich spüre sofort den Druck und drücke. Meine Füße tuen weiter ihre Schritte, vorbei an dem Müllsack, verschworen gegen meine Zweifel, während das Diktiergerät spricht.
„Ich bin krank. Mein Geist ist krank. Deshalb sehe ich Krankes in der Welt. Doch die Welt ist nicht krank. In dem Haus am Karlsplatz ist kein Mord geschehen. Ich rufe nicht mehr die Polizei. In Papierkörben sind keine Leichenteile. Ich durchstöbere sie nicht. In dem Erdloch sind keine Kinder gefangen. Deshalb werde ich dort nicht nachsehen. Mein Geist ist krank. Das ist eine Diagnose.“
In meiner Nase liegt der Geruch von Plastik, so nah halte ich das Diktiergerät an mein Gesicht. Die Straße biegt sich nach links, weg von dem Müllsack. Als ich keinen Gedanken mehr an die junge zerstückelte Frau verschwende, stelle ich das Diktiergerät ab. Ich verstaue es in meiner Hosentasche und lege meinen Zeigefinger auf die Abspieltaste. Bereit mir in den Schädel zu schießen.
Meine Schritte werden kürzer und mein Kopf droht zu platzen, als meine Gedanken plötzlich in die Kanalisation gesogen werden. Nur einige Schritte vor mir, befindet sich ein geöffneter Abwasserschacht und zieht mich herab in das feuchte Dunkel. Der Gullideckel liegt neben dem offenen Schacht auf der Straße. Ist es die Heilung meiner Krankheit weiter zu gehen, oder unterlassene Hilfeleistung? Ich blicke hinab in den dunklen Schacht, kann jedoch nichts erkennen. Der Geruch von stinkendem Abwasser sticht in meine Nase. Jemand muss dort unten sein und in der Dunkelheit ist es ihm wahrscheinlich unmöglich den Rückweg zu finden.
Die rutschigen Sprossen steige ich solange hinab, bis ich nur noch der Schatten von einem Schatten bin. In meiner Hosentasche der Abspielknopf, mein Schleudersitz aus diesem Loch. Meine Schuhe füllen sich mit stinkendem Wasser, als ich im Kanal stehe. Von der Straßenlaterne scheint gerade genug Licht in den Schacht herab, dass ich glaube ein weißes Papiertaschentuch erkennen zu können.
Jetzt bin ich mir sicher. Jemand muss hier unten sein und er braucht meine Hilfe. Ich rufe in den Schacht, dann folge ich meinem Echo. Nach einer Weile teilt sich der Weg. Ich glaube ein leises Wimmern hören zu können und folge einem der Gänge. Als sich der Weg wieder teilt, folge ich meiner Intuition. Der Druck in meinem Schädel dient mir als Kompass. Meine Beine sind bereits taub von der Kälte und werden langsam schwach. Ich stütze mich für einen Moment an eine Wand.
Plötzlich fällt mir auf, dass die Wand an der Stelle wo meine Hand sich stützt, nasser ist als gewöhnlich. Jemand muss sie vor mir angefasst haben, deshalb eile ich weiter, ins Unbekannte, und ignoriere meine Schmerzen.
Als sich der Weg wieder teilt, packt mich Panik und ich drücke in einem Reflex die Taste in meiner Hosentasche. Der Druck in meinem Kopf wird für einen Moment erträglicher und ich kehre um, versuche mich im Nichts zu orientieren. Meine Stimme hallt von den feuchten Wänden, erst nur die Kopie von Band.
Dann, als ich einen wuchtigen Knall aus der Ferne höre, ein Geräusch, das ein Gullideckel beim Aufsetzen verursachen könnte, hallen meine Hilferufe durch die Gänge. Ich renne los, biege einige Male ab und bleibe wieder stehen. Nachdem mein Atem sich beruhigt und mein Herzschlag nicht mehr in meinen Ohren pocht, vernehme ich eine schwache Stimme. Ich lausche, doch sie ist zu leise, um etwas zu verstehen. Als ich bemerke, dass ich nichts mehr in meiner linken Hand halte, weiß ich, dass ich das Diktiergerät habe fallen lassen. Die Stimme ist meine eigene, zu leise um etwas zu verstehen.
Am Boden glaube ich eine Geldbörse aus schwarzem Leder zu entdecken. Und plötzlich fällt mir wieder ein, dass hier unten jemand ist, der meine Hilfe braucht. Ich verschwende keine Zeit damit die Geldbörse aufzuheben und folge meiner Intuition. Dem Druck in meinem Kopf, meinem Kompass.