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Zwei Gläser einer Brille
Ich höre den Schlüssel im Schloss, seufze. Meine Seele liegt noch überall in der Wohnung verstreut und ich mache mich daran, die Fetzen aufzusammeln und notdürftig aneinander zu kleben, bevor sie durch die Schallwellen dröhnenden Computer-Geballers aufgewirbelt und womöglich zum Fenster hinaus geweht werden, wo sie dann unauffindbar sind.
Ich werfe einen Blick aus meiner Zimmertür hinaus. Tom sieht fertig aus. Er starrt, die Hände auf die alte Kommode gestützt, die bei uns auf dem Flur steht, sein Spiegelbild an, das ihn voll selbstzweifelnder Gewissheit aus dem Spiegel über der Kommode heraus ansieht. „Warum immer ich?“ Der Grammatik nach eine Frage, nach der Intonierung eine Feststellung. Er richtet sich auf, geht in sein Zimmer. Tür zu. Computer-Geballer.
„Lass uns spazieren gehen“, sage ich zu meiner Seele und nehme die Leine von der Garderobe. Zu Anfang muss ich sie hinter mir herziehen, sie will zurück, ins Bett, schlafen. Doch dann erreichen wir den Waldrand. Leichter weißer Nebel steigt vom nassen Asphalt auf wie Dampf aus einer Thermoskanne. Ich binde meine Seele los und sie beginnt sich zögernd an den Bäumen zu reiben, die raue Rinde zu fühlen, am Gras zu riechen und zu kichern, wenn es sie an der Nase kitzelt. Wir erreichen eine kleine Lichtung und ich setze mich auf einen feuchten Stein. In der Ferne das Knattern eines Mopeds, das sich durch den dichter werdenden Nebel kämpft und nur leise, fast sanft an mein Ohr dringt. Dann ist es still.
Ich beobachte meine Seele, wie sie herum tollt, an Blumen schnuppert, ein Kaninchen jagt und denke über Tom nach. „Warum immer ich?“, hat er gesagt. Ein komischer Satz von jemandem, der sich ständig von sich selbst ablenken muss. ‚Ich‘ ist, in Toms Fall, gleich dem Bild der anderen. „Warum immer das Bild der anderen?“, sage ich vor mich hin und muss schmunzeln, dann seufzen. Ich rufe meine Seele zu mir und eilig kommt sie gelaufen. Wir schmiegen uns zusammen auf den feuchten Stein. Ich versuche, im Wald sitzend, in ihrer Welt spazieren zu gehen. Doch wir sind wie zwei Gläser derselben Brille mit unterschiedlichen Stärken. Alles ist verschwommen, wenn ich versuche, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Ich schätze sie hat eine Hornhautverkrümmung.
Ich seufze - wieder, „Wir müssen gehen.“ und lege ihr die Leine an. Sie trottet brav neben mir her, nach Hause, wehrt sich nicht. Es ist schon dunkel geworden und der Nebel noch dichter. Seite an Seite treten wir aus dem Wald heraus und blicken auf die Lichter der kleinen Stadt herunter. Der Nebel lässt alles friedlich erscheinen. Ich bin merkwürdig ergriffen von dem Anblick und halte für einen kurzen Augenblick die Leine nur lose in der Hand. Meine Seele reißt sich los und flüchtet in den Wald zurück, die Leine hinter sich herziehend. Ich rufe ihr nach. Doch der Nebel scheint die Laute zurück in meinen Mund zu schieben. Ich mache mir Sorgen. Wird sie zurückfinden? Doch hier gibt es nichts, das ich tun kann.
Ich gehe nach Hause. Ich stehe da, die Hände auf die alte Kommode gestützt und starre mein Spiegelbild an, das aus einem Parallel-Universum zurück sieht. In mein Zimmer, Tür zu, schlafen.
Ich träume von einem Sehtest und der Augenarzt berichtet mir mit ernster Miene die Ergebnisse. Ihr linkes Auge muss raus. Glasauge.
Ich erwache, weil sich meine Tür öffnet. Ich rechne mitTom, will sauer werden, aber es fehlt an Kraft. Gut so. Denn es ist meine Seele, die schuldbewusst dreinblickend in der Tür steht. Sie ist völlig durchnässt, zittert. Sie sieht zerzaust aus, die Leine hat sie verloren. Sie springt zu mir ins Bett, unter meine Decke. Die gelben Lichter der Straßenlaternen haben sie durch den Nebel nach Hause geführt.