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Papa, der Held

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05.05.2004
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Papa, der Held

„Mach Winke-Winke, Bobby!“
Diese Aufforderung war überflüssig gewesen, dachte Dick. Sein Sohn winkte ihm jedes Mal, wenn sie sich trennten, war es auch für noch so kurze Zeit. Und er tat es nicht, weil ihn jemand dazu aufforderte, oder weil brave Buben das eben so taten. Er tat es, weil er es so meinte. Er winkte auf die ungelenke, maßlos übertriebene Art, wie es nur kleine Kinder tun.
Sein Gesicht schien dabei aus nichts als Lächeln zu bestehen. Vor kurzem noch war es eine Art Spiel gewesen, ein Ritual, einfach jedem zu winken, wenn man von ihm fort ging, sei es die Kassiererin im Supermarkt oder ein zufälliger Passant, der an der Bushaltestelle zurückblieb. Aber nun, da Bobby fast vier Jahre alt war, hatte er selektives Winken als ein Mittel erkannt, Liebe auszudrücken.
Dick winkte vom Auto aus zurück, denn auch er war mit diesem Prinzip vertraut. Dann startete er den Wagen und fuhr los. Im Rückspiegel sah er noch, wie Tanja den Kleinen ins Haus führte. Tanja war eine seiner wenigen Freunde, und ihr kleiner Sohn war einer von Bobbys vielen Freunden. Dick liebte seinen Sohn, aber er war froh, ihn bei dieser Kindergeburtstagsparty abgeben zu können und einmal wieder einen Nachmittag für sich alleine zu haben.
Bobby hatte als Geschenk eine Spiderman-Actionfigur ausgesucht, wobei der Grund wohl in erster Linie darin lag, dass er sie selbst gerne gehabt hätte. Und sie jemandem zu schenken, der regelmäßig mit ihm spielte, war das nächstbeste. Bobby mochte Spiderman, weil der ein Held war, weil er stark war und alle Schurken vermöbeln konnte.
Die Zuneigung seines Sohnes war das Einzige, das Dick mit Spiderman teilte. Von ihm würde es wohl nie eine Action-Figur geben. Er war geradezu die Antithese eines Helden. Er war vom ersten Tag seines Lebens – auf der Station für Frühgeburten – ein Schwächling gewesen. Und ein Winzling. Auch jetzt, beim Autofahren, wurde er daran erinnert. Er musste ein Kissen auf seinen Sitz legen, um richtig aus der Windschutzscheibe sehen zu können; das war sogar in seinem Führerschein vermerkt, eine Dokument gewordene Demütigung. Eine Menge Leute fand das sehr lustig. Dick allerdings nicht.
Schon als Kind in der Schule war er ständig dem Spott irgendwelcher sitzen gebliebener Idioten ausgesetzt gewesen, die ihre eigene Größe nicht anders definieren konnten, als dadurch, dass sie einen anderen zur Sau machten. Er brauchte überhaupt nichts tun, um sich dieser Ehre würdig zu erweisen, er brauchte gar nicht lächerlich, dumm oder seltsamer sein, als alle anderen. Es reichte, dass keine Gefahr bestand, von ihm für eine Beleidigung verprügelt zu werden. Sogar die meisten Mädchen hätten ihn mit einem Fingerschnippen K.O. hauen können. Er war einfach ein ideales Opfer für Häme, und das machte einen Grund für Häme überflüssig.
Er reagierte darauf mit strategischem Rückzug, so schien es ihm zumindest. Er machte sich noch kleiner, unscheinbarer, uninteressanter als er war. Er ging allen potentiellen Konfrontationen, und bald allen Kontakten aus dem Weg. Er ging den Weg des geringsten Widerstands, aber dieser Weg führte ihn an allem nur vorbei. Aus seinem Rückzug wurde eine kopflose Flucht. Und so war es auch noch heute.
Dabei wäre er gerne ein Held für seinen Sohn, er würde gerne Action für ihn machen. Aber Dick war nun mal keine Sportskanone, er war kein Clown, und schon gar kein Held. Er sorgte für Bobby wie die Bienen für ihre Königin. Er verbot ihm nie etwas, ohne ihm zu erklären, warum es nicht anders ging. Wenn möglich, entschied er Dinge, die Bobby direkt betrafen, nicht über dessen Kopf hinweg, sondern behandelte ihn wie einen gleichberechtigten Kameraden. Vielleicht war er eher sein Freund als sein Vater. Sein Sohn hatte keinen Grund, sich über ihn zu beklagen, aber immer wieder fürchtete sich Dick davor, Bobby würde einmal zu dem Schluss kommen, dass sein Vater eigentlich eine Null war.
Auf jeden Fall war er besser als seine Mutter. Dieser Gedanke tröstete ihn immer wieder.
Als er Jane kennen gelernt hatte, hatte er es gar nicht fassen können, dass sich diese hübsche, intelligente Frau ausgerechnet für ihn interessieren sollte. Manchmal fragte er sich, ob sie damals einfach, vielleicht sogar ohne es zu wollen, jemanden gesucht hatte, dem sie überlegen war. Dick hatte damals an nichts Derartiges gedacht, er hatte überhaupt nicht gedacht. Er hatte sich nur gefreut, dass er diese tolle Frau bekommen hatte. Und in dieser Euphorie hatte er über alle ihre Fehler hinweggesehen, ihre Art, manchmal völlig grundlos aus der Haut zu fahren, ihr gelegentliches, aber heftiges Misstrauen.
Bald hatten sie Bobby bekommen, und kurze Zeit war ihre Ehe beinahe harmonisch gewesen. Aber dann hatten die kleinen Anomalien ihres Zusammenlebens begonnen, zu reißenden Stromschnellen im Fluss seines alltäglichen Lebens zu wachsen. Sie war nicht mehr einfach aus der Haut gefahren, sie wütete wie eine Irre, immer öfter, immer heftiger. Und ihr Misstrauen hatte sich zu Paranoia gewandelt. Sie hatte angefangen, Dick herumzustoßen, im wahren Sinne des Wortes. Wirkliche Panik aber hatte ihn zum ersten Mal erfasst, als Sie in einem Wutanfall gegen Bobbys Kinderwagen getreten und den kleinen damit in hohem Bogen hinausgeschleudert hatte. Sie hatte es nicht absichtlich gemacht, auf ihre eigene, verrückte Art hatte sie Bobby immer geliebt. Aber es war in diesem Moment nichts mehr in ihrer Seele gewesen, dass sie davor zurückhalten hätte können. Es war ein Wunder gewesen, dass ihrem Sohn damals nichts passiert war, aber seit dem war Dick klar, dass sie beide noch oft Glück brauchen würden. Und Sie würden es nicht immer haben.
Trotzdem konnte sich Dick nicht aufraffen, irgendetwas gegen seine Frau zu unternehmen, oder sie ganz einfach zu verlassen. Eines Tages hatte Bobby seiner Kindergartentante erzählt, dass es bei ihm zu Hause manchmal ziemlich wild zuging. Das hatte über einige Umwege schließlich dazu geführt, dass eine Beamte der Fürsorge bei ihnen anklopfte, um sich ein Bild über Bobby Eltern zu machen. Jane hatte darauf reagiert, indem sie ihr ein blaues Auge verpasste.
Etwas Besseres hätte Dick nicht passieren können, denn nun begann sich die Polizei für Jane zu interessieren, und Dick konnte sich schließlich zu einer Aussage durchringen, die seine Frau als gefährliche Wahnsinnige dargestellt hatte. Bobby war unter staatliche Obhut gekommen, und Jane hatte getobt, hatte natürlich ihm die Schuld gegeben. Als er eines Tages heimgekommen war, hatte sie mit einem Fleischklopfer auf ihn eingeschlagen. Sie hatte ihm eine Schulter und den linken Arm an drei Stellen gebrochen, ehe er wieder auf die Straße hatte flüchten können.
Noch am selben Abend war Jane verhaftet worden. Nach dieser Episode hatte das Gericht Dick als ebensolches Opfer wie Bobby betrachtet, und ihm das alleinige Sorgerecht übertragen. Jane war wegen schwerer Körperverletzung angeklagt worden, und nachdem der Ankläger nicht vergessen hatte zu erwähnen, dass man sie auch wegen Mordversuchs hätte anklagen können, war sie zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Ihre Abwesenheit hatte Dick genutzt, um sich endlich scheiden zu lassen.
Dick fröstelte. Die Heizung in seinem Wagen funktionierte nicht, und zu dieser Jahreszeit, in der es bereits früh dämmerte, war das nicht sehr angenehm. Er schaltete die Scheinwerfer ein, als er die einsame Straße zum Haus seiner Eltern hochfuhr. Sie waren in Urlaub geflogen, nach Jamaika, oder in die Dominikanische Republik, auf jeden Fall irgendwohin, wovon er noch nicht einmal einen Prospekt gesehen hatte. Er sollte auf das Haus aufpassen, Blumen gießen, Postkasten ausräumen und derartiges; Einbrecher verscheuchen zum Beispiel. Ha, gerade er!
Na ja, ganz absurd war die Vorstellung, jemand könnte dort einbrechen, nicht gerade. Das Haus lag auf halber Höhe auf einem kleinen Berg – oder einem großen Hügel, je nachdem – und war vom nächsten Nachbarn weit entfernt, auf jeden Fall außer Hörweite. So betrachtet konnte man es abends allein in dem großen Haus durchaus mit der Angst –
Verdammt! Schon wieder diese idiotischen Bauarbeiter! Neben der Straße verlegten schon seit einer Woche ein Trupp Arbeiter irgendwelche Rohre oder Leitungen im Boden, und immer wieder parkten sie ihren Bagger so, dass seine Schaufel in die Fahrbahn hineinragte. Zum Glück war die Straße hier übersichtlich genug, um ihn zu erkennen und notfalls auszuweichen. Aber wäre Dick nicht hinauf sondern hinunter gefahren, hätte er ihn – gedankenverloren wie er war – erst ziemlich spät bemerkt. Es ärgerte ihn jedes Mal. Irgendwann musste er sich wirklich deswegen beschweren. Obwohl – was sollten sie anderes machen? Neben der Straße war ja wirklich wenig Platz. Natürlich beschwerte er sich nie.
Er parkte den Wagen vor dem Haus und ging hinein. Er fühlte sich ein wenig nervös, vielleicht hätte er sich keine Gedanken über die einsame Lage des Hauses machen sollen, das machte ihn noch ganz verrückt. Er beschloss, sich eine Kanne Kräutertee zu machen und die Nachrichten im Fernsehen anzuschauen. Er stellte die Kanne auf den Herd und hörte dem Nachrichtensprecher nur mit einem Ohr zu. Trotzdem reichte das, um ihn als Ganzen zu beunruhigen. Der Sprecher hatte irgendetwas von einem Gefängnisausbruch gesagt. Hatte er erwähnt, wo? Hatte er gesagt, wer? Hatte er gesagt, ob es ein Frauengefängnis war?
Dick setzte sich und zappte die Kanäle durch, auf der Suche nach weiterer Information. Aber eigentlich brauchte er keine Information mehr. Er wusste es. Angst kroch über seine Haut wie Ameisen. Längst hatte er zu einem toten Kanal gezappt, und aus dem Fernseher kam nur noch Flimmern, das Gewimmel der Ameisen. Und Stille. Und die Stille schärfte alle seine Sinne. Und nun wusste er, was ihn gleich beim Heimkommen verunsichert hatte. Der schwache, kaum merkliche Geruch von schlechtem Parfüm. Von Janes Parfüm. Nur Jane würde so verrückt sein, sogar im Gefängnis ihr Parfüm zu benutzen. Und dann hörte er langsame, schlurfende Schritte, die Art wie sie immer gegangen war. Und der Gedanke fräste sich durch sein Gehirn, dass sie nur deshalb vor Jahren seinen Arm zertrümmert hatte, weil sie seinen Kopf verfehlt hatte. Es war durchaus ihre Absicht gewesen, große klaffende Löcher in seinen Schädel zu schlagen.
Steh auf! Lauf weg! Raus hier! Jetzt! Aber er konnte nicht wegrennen. Er konnte nicht aufstehen. Er konnte sich nicht einmal bewegen. Panik schlang sich immer enger um seinen Hals, als er bemerkte, dass er nun die Wurzel des Wortes „starr vor Schreck“ kennen lernte, auf eine Art, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Und dann bohrten sich Worte wie eiskalte Stricknadeln in seine Ohren. „Hallo, Dick!“ sagte Jane.
Alles, was er anfangs sah, war ihre Hand, die etwas hielt, was er noch nie außerhalb von Fernsehbildern gesehen hatte: einen Elektroschocker. Dann lief Strom durch seinen Körper und schlängelte sich um seine Nerven. Heißer Schmerz floss aus seinem Rumpf bis in die Spitzen seiner Arme und Beine. Alle seine Muskeln verkrampften sich, und er bäumte sich so heftig auf, dass er aus dem Sessel aufsprang, um sofort zu merken, dass kein Teil seines Körpers vor hatte, seinen Befehlen zu folgen. Dick knallte ohne Gegenwehr auf den Fußboden.
Woher zum Henker hatte sie einen Elektroschocker? Sie war zu lange im Gefängnis gewesen. Sie hatte zu viel Zeit mit Verbrechern verbracht. Das hatte sie nur auf verrückte Ideen gebracht. Auf noch verrücktere Ideen. Dick wollte sich zu einer schützenden Haltung zusammenrollen, aber das einzige, was sein Körper momentan wollte, war da liegen und zittern. In ihm jagten die Gefühle von Taubheit, Kribbeln und Schmerz hintereinander her. Seine vergeblichen Versuche, seine Gliedmaßen wieder unter seine Kontrolle zu bringen, brachten nur sinnlose, abgehackte Zuckungen hervor. Und dann riss er, nur zum Teil aus Absicht, seinen Kopf herum und sah zu ersten Mal seit langer Zeit seiner Exfrau ins Gesicht. Sie saß in dem Sessel, aus dem sie ihn vertrieben hatte und sah beinahe gelangweilt aus.
„Jedes Mal, wenn ich dich sehe, siehst du noch erbärmlicher aus.“ Sie klang tatsächlich enttäuscht. „Und du benimmst dich noch erbärmlicher. Du sitzt einfach da, und wartest, bis ich etwas tue.“
Dick hatte nicht vor, zu warten. Uralte Instinkte rüttelten an seinem Geist und schrieen ihn an. Renn weg! Und wenn nicht das, nimm endlich deine Keule und schlag ihr den Schädel ein! Bring sie um, bevor sie dich umbringt! Aber er konnte nichts von alledem. Er lag da, wie ein Käfer auf dem Rücken. Und eine Stimme von irgendwo in seinem Kopf vermutete, er würde etwas Derartiges sowieso nicht tun.
„Wo hast du Bobby gelassen?“ Jane klang, als führte sie ein nüchternes, sachliches Gespräch in der Eheberatung und wäre ehrlich bemüht, ihre Probleme zu lösen. „Ich wollte doch nur Bobby holen, aber du machst es wieder unnötig kompliziert.“ Was sie sagte, schien Dick von weit her zu kommen, gar nicht an ihn gerichtet, so unangemessen wirkte ihr Tonfall. Seine Gedanken schwirrten im ganzen Zimmer umher, gefolgt von seinen chaotischen Blicken, versuchten sich an irgendetwas zu klammern, das ihm helfen könnte. Aber selbst wenn man ihm diese Hilfe direkt in die Hand gedrückt hätte, er hätte nichts damit anfangen können.
„Ich hab dich was gefragt, du Trottel!“ Ohne Vorwarnung war Jane aufgesprungen und hatte Dicks Kopf an den Haaren gepackt. Schon früher hatte er ihre unvorhersehbaren Ausbrüche am meisten gefürchtet. „Würdest du bitte aufhören, mich zu ignorieren?“ Wie um klarzustellen, dass er das nicht weiter konnte, schlug sie sein Gesicht gegen den Boden. Diesmal bohrten sich zwei heiße Stricknadeln durch seine Nasenlöcher. Sie hatte ihm die Nase gebrochen. Der plötzliche Schmerz setzte in ihm die Energie frei, sich auf den Rücken zu rollen. Gerne hätte er auch noch seine Hände gehoben, um sein Gesicht damit zu bedecken, aber die wollten nichts davon wissen. Er spürte, wie ihm Blut aus der Nase in seinen Mund lief.
Jane schritt im Zimmer auf und ab und würdigte ihn keines Blickes.
„Scheiße noch mal! Du treibst mich echt zum Wahnsinn. Nicht eine Scheiß-Frage kannst du mir beantworten. Man kann nicht normal mit dir reden. Du gehst einfach nicht auf mich ein. Kein Mensch geht auf mich ein. Ich will doch nur, dass die Leute, auf mich eingehen. Dass sie mir zuhören, und verdammt noch mal tun, was ich sage. Aber sie tun’s nicht. Keiner tut’s. Und du schon gar nicht. Und dann kommt jedes verdammte Mal so ein Scheiß dabei raus.“
Plötzlich blieb sie stehen, senkte ihren Blick zu Boden und seufzte lang und tief.
„Der einzige Grund, warum ich hergekommen bin, ist doch mein kleiner Junge. Er ist das Einzige, woran ich im letzten Jahr gedacht habe. Ich bin nicht hier, um mich an dir zu rächen, oder so was. Du interessierst mich überhaupt nicht mehr, das ist schon lang vorbei. Eigentlich hast du mich nie interessiert. Aber ich muss meinen kleinen Bobby haben, er ist das Einzige, das mich noch glücklich machen kann.“
Plötzlich fuhr sie sich durch die Haare und sah Dick wieder an. Ihre Stimme wurde weinerlich. „Ich brauche ihn, verstehst du nicht? Ich brauche ihn, sonst macht mich einfach alles fertig.“
Wenn Dick eines klar war, dann, dass er Jane auf keinen Fall Bobby aushändigen durfte. Ganz langsam kehrte das Gefühl wieder in seinen Körper zurück und seine Bewegungen wurden immer koordinierter. Aber er war immer noch weit davon entfernt, sich gegen Jane wehren zu können. Er war sich nicht einmal sicher, ob er jemals diesen Zustand erreichen würde. Also beschloss er, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Aber er braucht dich nicht. Und er liebt dich nicht. Du bist seine Mutter, und er wird dich nie hassen, aber in seinem Leben ist einfach kein Platz mehr für dich. Er ist glücklich, so wie alles um ihn herum läuft, und wenn du ihn liebst, dann musst du es so lassen.“
Im nächsten Moment dachte Dick, das wäre eher Unüberlegtheit als Mut gewesen.
„Was soll denn das heißen, verdammt?“ brüllte Jane nach einer Schrecksekunde, „Glaubst du vielleicht, dass er dich liebt? Dass er dich braucht?“ Mit zwei großen Schritten war sie bei ihm und beugte sich weit zu ihm hinunter. „Wer sollte denn einen kleinen, langweiligen, unfähigen Scheißer wie dich brauchen? Keine Sau könnte dich für irgendetwas brauchen. Du bist nichts und du kannst nichts. Schau dich doch an, du liegst da am Boden, als hätte dich ein Hund in die Ecke gekackt. Was glaubst du eigentlich, dass du mir sagst, was mein Sohn will?“
Mit den letzten Worten schlug sie ihm mit der Faust auf seine gebrochene Nase. Die zerschmetterten Knorpel rieben aneinander und scharrten seine verletzten Nerven entlang. Der Schmerz schleuderte alle Luft aus seiner Lunge hinaus. Einen Moment lang rotierte ein schwarzer Ring um sein Gesichtsfeld und lockte ihn, sich vor Schmerz und Entsetzen in Bewusstlosigkeit fallen zu lassen. Er hörte kaum, was sie sagte.
„Selbstverständlich liebt er mich. Nur mich! Und wenn nicht, wer ich’s ihm schon beibringen. Und jetzt sag mir endlich, wo du ihn hingebracht hast! Wo ist mein Sohn, du kleiner Arsch!“
In diesem Moment kam ein pfeifendes Geräusch vom Herd. Das Teewasser kochte. Jane schaute einen Moment in die Küche, und Dick ahnte, was nun in ihrem Kopf vorging.
„Okay, es geht auch anders. Entweder du machst jetzt das Maul auf, oder ich nehme das Wasser und schütte es dir in dein dämliches Gesicht. Hast du kapiert? Wo ist er! Wo ist er! Sag mir, wo Bobby ist! Sag es, verdammt! Sag es mir! Wo?!“
Jane war jetzt total außer Kontrolle. Sie schrie mit geschlossenen Augen und spuckte Speicheltropfen aus ihrem Mund. Sie war vollkommen wahnsinnig geworden. Sie hätten sie nicht ins Gefängnis stecken sollen, sondern ins Irrenhaus. Dick hatte keinen Zweifel mehr, dass sie wirklich tun würde, was sie sagte. Die Vorstellung, wie sich im kochenden Wasser seine Haut vom Gesicht schälte, schnürte sich um sein Herz. Das Grauen kratzte von innen an seinem Kopf und wollte hinausbrechen. Oh Gott, sie würde das tun, und er musste es verhindern, egal, um welchen Preis.
„Er ist bei Tanja“, schrie er. „Du kannst dich sicher an Tanja erinnern. Du weißt sogar, wo sie wohnt.“
Jane war plötzlich völlig ruhig.
„Natürlich weiß ich, wo Tanja wohnt. Ich bin nicht so hirnlos wie du.“ Sie stierte ihn an, mit stillem Triumph in den Augen. „War ja klar, dass du mir das sagen würdest. Du bist einfach nicht fähig, dich gegen mich zu wehren, oder irgendjemand anderen. Du bist ein erbärmlicher Feigling.“
Sie hatte recht. Zum ersten Mal hatte Dick die Chance gehabt, für seinen Sohn zu kämpfen, ein Held für ihn zu sein. Und er hatte nichts getan. Er hatte Bobby verraten und ihn einer gefährlichen Geisteskranken ausgeliefert. Alles, was Jane heute über ihn gesagt hatte, war die Wahrheit.
„Komm schon, steh auf!“ sagte Jane und zerrte Dick hoch. Er war fast wieder in der Lage, aufrecht zu stehen. „Nur für den Fall, dass du doch gelogen hast. Du kommst mit.“
Sie nahm ihn mit beiden Armen um die Hüften und dirigierte ihn zur Tür hinaus. Dick stolperte kraft- und willenlos neben ihr her. Er konnte nicht denken. Er ließ alles geschehen.
Sie schmiss ihn auf den Beifahrersitz wie ein Stück Handgepäck. Der Wagen war breit genug und Dick klein genug, dass er sich auf der Sitzfläche zusammenkauern konnte und eher darauf lag, als darauf saß. Sein Kopf ragte kaum über die Unterseite des Fensters hinaus. Er nahm kaum war, wie Jane einstieg, das Auto startete und losfuhr. Während sein Körper die Lähmung langsam abschüttelte, hatte diese Niederlage seinen Geist gelähmt. Nur zögerlich verdichtete sich das Gewimmel in seinem Kopf wieder zu konkreten Gedanken.
Jane durfte Bobby nicht in die Finger kriegen, auf keinen Fall. Wenn das geschah, würde Dick seinen Sohn irgendwann als Kinderleiche im Straßengraben wiederfinden. Da war sich Dick sicher. Nein, jemand anderes würde ihn finden, denn Dick würde dann nicht mehr leben. Dafür würde Jane schon noch sorgen. Er musste etwas tun. Er musste sich endlich gegen Jane auflehnen. Zum ersten Mal wünschte er seiner Frau den Tod, den Tod durch seine Hand. Aber sein Körper war immer noch unbrauchbar für eine Auseinandersetzung, und außerdem hatte Jane immer noch irgendwo den Elektroschocker. Vielleicht sollte er wenigstens versuchen, ihr die Sache auszureden. Aber das war sinnlos. Sie hatte noch nie auf ihn gehört. Sogar früher hatte sie seine Ansichten und Meinungen, sogar seine Bitten ignoriert. Als hätte sie es absichtlich gemacht, hatte sie immer das Gegenteil von dem getan, was er gesagt hatte.
Dick blieb der Mund offen. Genau.
Vielleicht hatte er eine Chance. Vielleicht konnte das wirklich klappen. Es erforderte genaues Timing. Zum Glück kannte er die Straße. Gleich musste die Kurve kommen. Noch zwei. Noch eine. Jetzt.
„Jane, Schau auf die Straße!“ Janes Kopf fuhr herum, auf Dick zu, von der Straße weg.
„Was?“
„Schau auf die Straße, um Gottes Willen!“ Dick bemühte sich, möglichst entsetzt zu schauen, und momentan fiel ihm das sehr leicht.
„Was soll das?“ Jane blinzelte kurz nach vorne, aber es war zu kurz und bereits zu dämmrig. „Was hast du vor?“ Sie wirkte irritiert von der plötzlichen, ungewohnten Impulsivität ihres Exmannes. Offenbar war sie sich sicher, dass er etwas plante, dass er sie von sich ablenken wollte.
„Hältst du mich für vertrottelt?“ Sie brüllte ihn mehr verwirrt als verärgert an. „Glaubst du, ich falle auf diesen uralten Trick rein?“
„Nein, das ist kein Trick. Schau auf die Straße, bitte!“
Jane konnte es nicht fassen. War er total durchgedreht? Das einzige, was dieses Theater bewirken würde, war, dass sie eben nicht auf die Straße, sondern auf ihn schaute. Das musste selbst so einem Idioten wie ihm klar sein.
Plötzlich fühlte sich Jane, als wäre sie mit Eiswasser übergossen worden. Stimmt. Es war Dick klar, dass sie nicht auf die Straße achten würde.
Sie riss ihren Kopf herum und schaute aus der Windschutzscheibe, gerade noch rechtzeitig, um die tonnenschwere Baggerschaufel in Augenhöhe vor sich auftauchen zu sehen. Rechtzeitig, um zu erkennen, dass ihr Mann sie gerade getötet hatte.
Die Baggerschaufel drosch mit 60 Stundenkilometern gegen das Auto und zerknüllte das Wagendach wie Alufolie. Mühelos zertrümmerte sie die Windschutzscheibe zu tausend kleinen Splittern, um sich sofort danach Janes Schädel in gleicher Weise anzunehmen. Ihr Gehirn hatte noch Zeit, einen Schrei zu befehlen, aber als dieser Befehl ihre Stimmbänder erreichte, waren sie bereits in Fetzen gerissen, gemeinsam mit anderen Dingen, die sie weit dringender gebraucht hätte, um auch nur eine weitere Sekunde zu leben.
Dick war gegen das Armaturenbrett geknallt und so weit in den Fußraum gerutscht, wie es ging. Sein ganzer Brustkorb schmerzte, er musste sich eine Rippe gebrochen haben, zumindest geprellt. Wenigstens wurde er in dieser Position nur zum Teil von dem Blut benetzt, das aus Janes Körper strömte.
Der Wagen war abgebremst und aus der Bahn geworfen worden und stieß nun gegen einen der Bäume am Straßenrand. Dick warf sich mit großer Wucht und ebensolcher Panik gegen die verklemmte Beifahrertür, stürzte kopfüber hinaus, als sie endlich aufging, und kroch auf allen Vieren vom Auto weg, nur weg von diesem Ort des Grauens. Aber schnell stoppten ihn die Schmerzen in seiner Brust. Wohl doch gebrochen. Nur langsam hüllte ihn der beruhigende Gedanke ein, dass keine Gefahr mehr ausging von einer Frau, deren Kopf sich so weit von ihrem Rumpf entfernt hatte. Er legte sich mit der Wange in die nasse Erde und schloss die Augen.
Das war es nun. Jane war endgültig Vergangenheit. Und er, Dick, hatte sie besiegt. Er war am Ende doch stärker gewesen als sie. Und er hatte seinen Sohn gerettet. Wenn er es recht bedachte, war es durchaus mutig gewesen, ein Auto, in dem er selbst saß – ohne angegurtet zu sein – gegen einen Bagger zu steuern. Vielleicht war das sogar heldenhaft gewesen. Bobby könnte Derartiges gefallen. „Mein Papa ist ein Held“, würde er vielleicht sagen. „Er hat mir das Leben gerettet. Erzähl noch mal, wie du ein Held warst, Papa! Erzähl noch mal, wie du mich gerettet hast! Erzähl noch mal, wie du Mami enthauptet hast!“
Wohl kaum.
Bobby hatte Jane nicht geliebt, aber sie war nun mal seine Mutter gewesen, und er dürfte die Feinheiten seiner Familiengeschichte wohl schwer in allen Details verstanden haben. Er sollte das niemals erfahren. Keiner sollte das jemals erfahren. „Ich weiß auch nicht“, könnte er der Polizei vielleicht sagen. „Keine Ahnung, wie sie den Bagger übersehen konnte. Vielleicht wollte sie uns auch beide umbringen. Sie muss total wahnsinnig geworden sein.“
Alles in Ordnung, liebe Polizei, Dick war einfach ein Waschlappen, der Glück hatte. Und Bobby brauchte jetzt einen ruhigen, langweiligen aber liebevollen Vater, keinen mütterenthauptenden Helden. Alles in Ordnung, kleiner Bobby, alles wieder so wie es immer war.

 
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Hallo Woodwose

Gratulation zu diesem Einstieg auf Kg.de

Wirklich eine tolle Geschichte ist dir da gelungen. Guter Stil und starke Handlung. Ich konnte zwar relativ früh erraten, was passieren würde, trotzdem hast du die Spannung gut aufgebaut und mich mitfiebern lassen. Ausserdem tut es der Geschichte keinen Abbruch das "was" zu erraten, in diesem Falle kommt es auf das "wie" an.

Ein würdiger Beitrag für die Spannungs Rubrik und eine Empfehlung wert. :thumbsup:

Ein kleinerer Schwachpunkt ist mir doch aufgefallen:

Bobby ist noch nicht mal vier jahre alt, aber die beschreibungen, was zwischen seiner Geburt und der gegenwart passiert ist scheinen einen viel größeren Zeitraum zu umfassen: "Bald hatten sie Bobby bekommen, und ein paar Jahre war ihre Ehe beinahe harmonisch gewesen." und "Der einzige Grund, warum ich hergekommen bin, ist doch mein kleiner Junge. Er ist das Einzige, woran ich in den letzten Jahren gedacht habe."

 
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Hallo Porcupine!

Danke für die Gratulation! :bounce: Und ich fürchtete schon, die 14 Leute, die die Geschichte gelesen hatten, ohne sie zu kommentieren, währen dabei eingeschlafen, oder so was. :sleep:
Ein wenig muss ich das Lob über die starke Handlung aber mit Stephen King teilen. Die Ausgangssituation ist inspiriert von seinem Buch "Das Schreiben und das Lesen", wo er anregt, sich eine Story auszudenken, in der nicht der Mann die Frau mißhandelt, sondern umgekehrt. Ich hoffe, das gilt jetzt nicht als Plagiat, aber ich denke, ich habe aus dieser Grundidee durchaus etwas eigenständiges geschaffen.

Zu der angesprochenen Ungereimtheit: Ist mir selbst bisher noch nicht aufgefallen. Eigentlich hatte ich die Chronologie vorher geplant, aber während des Schreibens hat die Geschichte eine Eigendynamik erhalten, die das ganze unlogisch machte, und nun wirkt der Zeitraum zwischen Gegenwart und Bobbys Geburt länger, als geplant war. Werd ich noch ändern.

Woodwose

 

Hallo Jo!

Freut mich, dass die Geshcichte dir gefallen hat.
Zu deinen Kritikpunkten:

Dick krümmte sich am Boden, so gut er das konnte. Sein Körper tat, was er wollte. Und er wollte nur daliegen und zittern.

Er wollte sich sicher nicht krümmen, dass kommt von allein.
Und sein Körper tat NICHT MEHR was er wollte.....
wahrscheinlich ein Flüchtigkeitsfehler, gell?

Was ich mit diesem Teil eigentlich sagen wollte: Dick wollte sich zu einer Haltung zusammenkrümmen, in der seine Arme und Beine seinen Bauch schützen. Das macht man in dieser Situation normalerweise instinktiv, aber bei Dick klappt es nicht, weil er wie gelähmt ist.
Der zweite und dritte Satz sollte bedeuten: Dicks Körper tat, was er (der Körper selbst, und nicht Dicks Willen!) wollte. Das heißt, Dicks Körper tat nicht mehr, was ihm das Gehirn befahl, sondern was der Körper selbst tun wollte, und der wollte eben momentan gar nichts tun, außer zittern.
Aber nach nochmaligem Lesen gebe ich zu, dass das nicht richtig rüberkommt und zu kompliziert formuliert ist. Es ist nicht klar, wer "er" ist.

Alles, was er zuerst sah, war ihre Hand, die etwas hielt, ...
hier gehört 'Alles' nicht hin.
Damit meinte ich, dass er zuerst nur ihre Hand sah, und sonst nichts von ihr.
Aber du hast recht, auch das ist nicht ganz richtig formuliert.

besser wäre dann: Sie verbrachten ihren Urlaub auf Jamaika....
Hier verstehe ich nicht ganz, was dich stört. Allerdings glaube ich, dass "in Urlaub" in meinem Satz korrekter wäre.

Die Schilderung von janes Tod ist in der Tat etwas übertrieben, aber das war Absicht. Ich wollte damit besonders betonen, dass Dicks "Sieg" eindeutig, unwiderruflich und damit "triumphal" ist, dass ihm nach jahrelangem Leben als Verlierer ein gewaltiger Befreiungsschlag gelingt. :ak47:

Woodwose

 

Hallo Woodwose,
schade, dass deine Geschichte so wenig Beachtung gefunden hat, obwohl sie doch empfohlen worden ist! Ich habe mich ziemlich schnell die Vorgabe von King erinnert, aber das stört nicht, wie schon gesagt kam es auf die Umsetzung an. Du hast die Handlung durchgängig sehr überzeugend mit den Gedanken und Gefühlen deines Prots gemischt, dadurch fiebert man mit ihm mit. Und seine Erkenntnis am Ende gefällt mir auch sehr gut! Allerdings fand ich den Anfang zu lang, die Charakterisierung der Frau hättest du gut erst dann einfügen können, nachdem sie zum ersten Mal auftaucht. Dadurch könnte die Spannung noch mehr gesteigert werden. Für meinen Geschmack hättest du dir einiges an Brutalität sparen können, dadurch wirken die Charaktere auch zu extrem schwarz-weiß und ein bisschen zu platt und unglaubwürdig. Ich hoffe, du verstehst, was ich meine.

Es sind noch ein paar sprachliche Unebenheiten vorhanden, z. B. "dirigierte ihn bei der Tür hinaus", wohl eher "zur Tür hinaus".
"Die Baggerschaufel drosch mit 60 Stundenkilometern gegen das Auto ", wohl eher umgekehrt.
Dann hast du verwirrende Perrspektivwechsel drin: "Plötzlich fühlte sich Jane, als wäre sie mit Eiswasser übergossen worden. Stimmt. Es war Dick klar, dass sie nicht auf die Straße achten würde. " Janes Gedanken und Gefühle sind unnötig, ihre Mimik und Gestik reichen völlig. Schildere jede Szene (oder die ganze Geschichte) lieber nur aus der Sicht eines Prots.
viel Erfolg noch
tamara

 

Hallo Tamara
danke fürs aus der Versenkung holen der Geschichte

schade, dass deine Geschichte so wenig Beachtung gefunden hat
Hm, so was ähnliches steht jetzt schon unter drei von meinen (bisher) vier Geschichten. Vielleicht sollte ich einfach mit dem Schreiben aufhören, so bald meine Storys eine Seite lang sind?
Janes Gedanken und Gefühle sind unnötig, ihre Mimik und Gestik reichen völlig
Da war ich mir beim Schreiben schon nicht sicher, ob ich diesen Perspektivenwechsel machen soll. Jetzt bin ich mir sicher.

 

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