Was ist neu

Herzlich willkommen bei den Wortkriegern!

Du hast eine Autoren- und Lesergemeinschaft gefunden, die sich in einigen Aspekten von anderen Literaturseiten unterscheidet. Seit 1999 bieten wir Autoren eine Plattform, auf der sie ehrlich und deutlich kritisiert werden, mit dem Ergebnis, dass aus dieser Seite (bis 2013 übrigens unter dem Namen Kurzgeschichten.de) Nachwuchsschriftsteller hervorgegangen sind, die sich in der neuen deutschen Literaturszene - zu der wir uns natürlich ebenfalls zählen - einen Namen machen konnten.

Lass dich auf unsere manchmal etwas ruppig wirkende Art ein; du wirst feststellen, dass du hier als Autor viel dazulernen, als ernsthafter Kritiker viel weitergeben und als Leser hohe Textqualität erwarten kannst.

Geisterbahn

Bevor ich sie sehe, kann ich sie bereits riechen. Es ist diese muffige, abgestandene und zugleich vertraute Duftmischung aus Staub, Farblack und irgendetwas Undefinierbarem, das nach Tod riecht, jedoch ohne den verstörenden Geruch der Verwesung. Ich folge meiner Nase und schliesslich sehe ich sie vor mir stehen in ihrer ganzen verwitterten Pracht. Die gelben und roten Glühbirnen umrahmen das dunkle Bildertableau, das sich über zwei Stockwerke erstreckt. Alle sind sie wieder hier versammelt, aufgemalt auf das alte Gemäuer, die Schreckensgestalten meiner Kindheit: Das Skelett mit dem blauen Umhang, das mich hämisch angrinst, während sich seine Hand über den erleuchteten Balkon streckt, als wolle sie einen der kleinen roten Wagen packen, die dort, für einen Moment der Dunkelheit entkommen, auf die nächste finstere Schwingtür zusteuern. Darunter der tobende Riese, der gerade dabei ist, mit seinen Armen eine Säule einzureissen, welche das uralte Gebäude zu stützen scheint. Neben ihm die dreiköpfige Hydra, aus deren spitzen Fangzähnen phosphoreszierendes Gift trieft. Und schliesslich auch der Geköpfte, der seinen grinsenden Schädel wie eine Trophäe unter dem rechten Arm trägt. Neben ihm, direkt vor der ersten Schwingtür, durch welche die wagemutigen Kinder und verliebten Pärchen in die Dunkelheit befördert werden, hängt noch immer das alte Verbotsschild, welches ich bereits in meiner Kindheit mit leichtem Amüsement ausgiebig studiert hatte: «Verboten ist das Rauchen, das Aufstehen und Aussteigen während der Fahrt sowie das Beschädigen der Erscheinungen!»

Nun steht sie also wieder da, in einer etwas abgelegenen Ecke des Kirmesplatzes. Jahrelang war sie verschollen, der heissgeliebte Schrecken meiner Kindheit. An die hundert Jahre alt soll sie bereits sein und angeblich einstmals auf dem Wiener Prater die Menschen zur gruseligen Fahrt eingeladen haben. «Original Wiener Prater Doppelstock-Geisterbahn» nennt sie sich grossspurig. Auf meiner ersten Fahrt in diesen Höllenschlund aus Sperrholz und Pappmaschee habe ich als Siebenjähriger zugleich meine Angst überwunden und die Freude am wohldosierten Schrecken entdeckt. Seither habe ich mich des Öfteren von der alten Dame ins Reich des Todes entführen lassen. Die einzelnen Figuren und die Orte ihres Auftauchens kannte ich mittlerweile auswendig. Es war beinahe wie der jährliche Besuch bei einem entfernten Verwandten. Man freut sich den anderen zu sehen, danach ist man froh, sich für die nächsten Monate wieder aus den Augen zu verlieren. Doch genau wie ein Onkel plötzlich wegzieht oder verstirbt, so war auch die alte Geisterbahn mit einem Mal vom Kirmesplatz meiner Stadt verschwunden. Und je länger sie fortblieb, desto mehr habe ich sie vermisst. Ihre hochtechnisierten Nachfolgerinnen mochten zwar mit blutigen Effekten aufzutrumpfen, doch niemals konnten sie die nostalgische, morbide Atmosphäre der alten Prater-Geisterbahn zum Leben erwecken.

Nun ist die Totgeglaubte aus den Jahren des Vergessens zurückgekehrt und lädt erneut zur Fahrt. Woher sie kommt und wer sie erneut zum Leben erweckt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch das spielt in diesem Moment keine Rolle. Sie ist wieder da, das reicht. Als ich mich genüsslich dem Kassenhäuschen nähere, um mir nach Jahren der Abstinenz erneut eine Fahrt ins Reich der Phantome zu gönnen, fängt mein Herz mit einem Mal an zu pochen wie das Rattern des Kettenlifts der in der Nachbarschaft aufgebauten Achterbahn. Du wirst dich doch nicht etwa vor einer Fahrt mit der alten Geisterbahn fürchten? Doch was, wenn nicht mehr alles beim Alten ist, wenn die Spukgestalten meiner Kindheit, durch andere, weitaus schrecklichere Monstrositäten ersetzt worden sind? Was, wenn sich meine geliebte Geisterbahn von meiner Erinnerung entfremdet und ein mir völlig unbekanntes, neues Eigenleben angenommen hat? Wer sind überhaupt die neuen Besitzer dieser Bahn und was haben sie ihr angetan? Die Gestalt im Kassenhäuschen jedenfalls weckt keine Erinnerung. Mit desinteressiertem Blick schiebt sie mir den Plastik-Chip unter dem Glas durch, der mich zur «einmaligen, nicht rückerstattbaren Fahrt» auf der Geisterbahn berechtigt. Niemand hier scheint auf mich gewartet zu haben.

Mit unerwartet zittrigen Beinen besteige ich den blutroten Geisterbahnwagen mit dem aufgemalten Totenkopf und werde von einem weiteren, gelangweilt dreinblickenden Angestellten in Richtung der ersten Schwingtür geschoben. Da wuchtet der Wagen auch bereits die Türflügel auf und ich fahre ein in den dunklen Schacht in ängstlicher Erwartung der ersten Erscheinung. Ist es die Hexe, der Drache oder gar der tobende Riesenaffe, der mich hinter der ersten Biegung erwarten würde? Meine Erinnerung lässt mich im Stich. Mit leisem Kreischen biegt das Gefährt um die enge Kurve, und donnert direkt auf eine Gestalt zu, welche sich im plötzlich aufscheinenden Licht materialisiert hat. Vor mir steht weder ein Skelett, noch ein Vampir oder irgendeine andere der üblichen Verdächtigen. Mit Schrecken blicke ich in die seltsam vertrauten Gesichtszüge, die mir jeden Morgen mehr oder weniger frisch aus dem Badezimmerspiegel entgegen lächeln. Doch was ich sehe ist nicht mein Spiegelbild, keine um hundertachtzig Grad gedrehte Version meiner Selbst. Das hier ist nicht der alten Spiegeltrick, der in so mancher Geisterbahn zu finden ist, sondern ein reales Abbild meiner selbst. Die Gestalt hebt zuckend ihre Arme, als wolle sie mich mit einer unbeholfenen Geste des Trostes in den Arm nehmen, doch da erlischt das verborgene Licht und der Wagen rumpelt weiter durch die Dunkelheit.

Entsetzt drehe ich mich im Wagen um und starre in die Finsternis hinter mir, jeden Moment damit rechnend, dass mich zwei Arme – meine eigenen? – von hinten packen. Nur beiläufig nehme ich die Gestalten wahr, die im plötzlich aufblitzenden Licht neben mir auftauchen und wieder verschwinden. Der Werwolf mit seinen gefletschten Zähnen, das Skelett mit den fahl leuchtenden Augen, welches sich unter dem ohrenbetäubenden Geheul einer alten Weltkriegs-Sirene aus seinem Sarg erhebt. Allesamt sind sie alte Vertraute aus meiner Kindheit, die mir schon lange keinen Schrecken mehr einjagen würden. Doch selbst als der Wagen durch eine weitere Schwingtüre prescht und mich für einen Moment ins Tageslicht des Geisterbahn-Balkons entlässt blicke ich immer noch mit schreckensgeweiteten Augen hinter mich. Wird er kommen? Werde ich kommen und mich selbst holen? In die Dunkelheit des Tunnels zerren, wo ich für immer mein Gefangener bleibe.

Wieder klappt eine Schwingtür auf und ich entschwinde in den letzten Abschnitt der Höllenfahrt. Der Weg im Nachdunkel führt nun abwärts. Wollfäden streifen unsichtbar über meinen Kopf, eine Riesenschlange lässt zischend ihr aufgerissenes Maul in Richtung meines Gefährts schiessen und schliesslich winkt mir der Sensenmann persönlich ein letztes Mal hämisch zu, bevor der Wagen die letzte Tür passierend wieder in die Station einfährt.

Der Angestellte in der Station wirkt mit einem Mal nicht mehr desinteressiert, sondern erkundigt sich mit besorgter Miene nach meinem Zustand. Ich stottere eine unverständliche Erklärung, während ich mit zitternden Beinen versuche den Wagen und die Bahn einigermassen unauffällig zu verlassen. Das Knochengerüst im blauen Umhang grinst mich ein letztes Mal hämisch an, während ich mit stolpernden Schritten vom Kirmesplatz forteile. Doch eines weiss ich mit Sicherheit. Wohin ich auch fliehe, der unsagbare Schrecken dieser Fahrt wird mir aus jedem Spiegel entgegenblicken, in den ich in Zukunft schauen werde. Und dagegen werde ich nichts tun können, denn das Beschädigen der Erscheinungen ist verboten!

Neue Texte

Zusammenfassung der Ereignisse (jimmysalaryman)

Hätte mich jemand gefragt, ob ich eine Geschichte um jemanden lesen möchte, der durch die Stadt fährt und sich Gedanken macht – über sich, seine Vergangenheit, Umstände, Konsequenzen – hätte ich vermutlich gesagt: Sorry, bin grad dabei, mir Tabasco in die Augen zu spritzen.

Dann kommt ein Text wie dieser, und ist so viel mehr als ein Thema, ein Prota / Erzähler oder eine Reihe von Ereignissen. Ich finde es durchaus schwer, jetzt dieses ‚Mehr‘ zu greifen (und das ist auch ein Kompliment) – eine Erzählstimme, die augenzwinkernd von Dingen erzählt, die eigentlich nicht lustig sind. Ein ungeheurer Flow, Sog, der einen aber nicht schwindeln lässt wie bei extrem schrägen Texten, sondern mitstrudeln – Eindrücke, Assoziationen und Erinnerungen des Erzählers entwickeln sich langsam, rauschen nicht davon, ich kann während des Lesens genau hinschauen, intensiv mitfühlen und nachvollziehen.

Der Erzähler durchbricht die vierte Wand, dabei empfinde ich es weniger als abstrakte Metafiktion, sondern als Ansprache auf Augenhöhe (nicht mal wie üblich von einer Bühne ins Publikum herab). Der Schalk macht Spaß, aber andererseits liegt unter allem etwas Dunkleres, vielleicht Schmerzvolleres – es ist großes Kino, dass es mehr ein dringender Eindruck bleibt, als – was Jimmy ja auch hervorragend beherrscht – konkrete, heftige Szenen, an denen man diesen Eindruck festmachen könnte.

Mir jedenfalls geht es oft so, dass ich Schmerz und Trauer (gesetzt, dass diese hier auch ein wenig mitschwingen) umso stärker mitfühle, desto undramatischer ein Erzähler von ihnen berichtet. Vielleicht sogar so, dass man denkt, der Erzähler wäre sich selbst über das Ausmaß einer Tragik nicht umfassend bewusst, habe diese verdrängt oder (ggfs. wie hier) auch schon zum Teil verarbeitet, allein durch die vergangene Zeit hinter sich gelassen.
Dieses post-industrial Setting ist auch klasse, sehr passend im Sinne eines Abandoned. Einer optimistisch erwarteten Zukunft, die dann nie eintrat.

Ein Text, der gleichzeitig leicht und gewichtig ist, und – hey, last but not least! – unheimlich Spaß beim Lesen gemacht hat. Sehe das auf einer Ebene mit Taras Prokhasko und Yuri Vynnychuk, schwer zu finden sowas. Ein ganzer Roman davon? Auch sehr gerne, bitte.

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