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Sonntag morgen
Leise schleichen ihre Schritte durch meinen Traum und ich wache auf. Im Halbschlaf höre ich, wie sie die Badezimmertür schließt. Es wäre nicht nötig, aber sie möchte, dass ich von dem Rauschen des Wassers nicht geweckt werde. Meine Hand geht zum Wecker. Auch wenn ich weiß, dass er mir sagen wird, dass es sieben Uhr morgens ist. Jeden Morgen greife ich zum Wecker und schlafe dann schnell wieder ein. Christa mag es gar nicht, wenn sie denken muß, sie habe mich aufgeweckt. Und seit Jahren schon schlafe ich tatsächlich wieder tief und fest, wenn sie aus dem Badezimmer kommt und das Frühstück zubereitet. Um acht Uhr kommt sie dann ans Bett und streicht mir zärtlich über mein Gesicht. Ich ergreife ihre Hand, küsse sie und streiche mit meiner anderen Hand über ihr Gesicht. Jeden Morgen entdecken wir uns auf diese Weise neu, wir finden auch immer wieder Unbekanntes. Die Haltung ihres Kopfes, die Wärme und Feuchtigkeit ihrer Haut sagt mir nach so vielen Jahren sehr genau, wie es ihr geht und wie sie sich fühlt. Auch Christa hat gelernt, mit den Fingern zu lesen und zu erkennen. Und so kennen wir beide unsere Stimmungen, bevor wir auch nur ein Wort gewechselt haben.
"Die Sonne scheint, der Himmel ist ganz blau ohne ein Wölkchen. Ich habe uns den Frühstückstisch auf dem Balkon gedeckt." Und während Christa in die Küche geht, um den Kaffee frisch aufzubrühen, ziehe ich mich an. Auch wenn jeder Handgriff Routine ist und wir genau wissen, wie viel Zeit jeder für dieses oder jenes benötigt, ist doch jeder Tag neu. Es ist jetzt schon angenehm warm im Schlafzimmer, das mir manchmal zu kühl ist, weil es nach Norden liegt. Im Zimmer liegt noch ein Hauch von Christas Parfüm, das wunderbar zu diesem Sommertag passt. Ich freue mich auf diesen Tag und so gehe ich geradezu energiegeladen zum Balkon. Mein Stuhl steht bereit, auf der linke Seite wie immer, während Christa am Kopfende sitzt, so dass sie den freien Blick auf unser Tal und die Berge hat. Auch Christa setzt sich, aber bevor sie den Kaffee einschenkt, sind wir zwei Minuten still. Vögel sind um diese Zeit im Sommer kaum zu hören. Einige Wanderer sind schon unterwegs und versuchen das Echo. Autos gibt es in unserem Tal nicht und auch sonst hört man wenig von der Hektik der Menschen. Aber in der Ferne vernehme ich Donnergrollen. Ich wende mich Christa zu und lege meine Hand auf ihre, die wie immer auf dem Tisch liegt: "Ein Gewitter zieht über den Kogel herauf". Nach einer Weile antwortet sie: "Ja, langsam zieht es wie ein dunkle Wand hoch und Wetterleuchten ist jetzt auch zu sehen." "Wir werden es erfahren, ob es zu uns kommt", schließe ich das Gespräch ab und Christa schenkt den Kaffee ein, während ich mein Brötchen aufschneide. Und während wir gemütlich frühstücken, denke ich über dreißig Jahre zurück.
Wir sind in die gleiche Schule gegangen. Ich sollte nach dem Tod meiner Eltern in ein Blindenheim und da haben wir beschlossen, aus den vorgezeichneten Wegen auszubrechen und zu heiraten, obwohl wir uns kaum näher kannten. Unsere Hochzeitsreise haben wir hier verbracht. Das Tal hat uns so gut gefallen, dass wir zu meiner kleinen Erbschaft alles Geld gesammelt haben, was wir bekommen konnten und uns dieses Haus gekauft haben. Wir sind genügsam und kommen mit unseren Einnahmen recht gut über die Monate und Jahre.
Vor 34 Jahren sind wir eingezogen und damals tobte ein schweres Gewitter über dem Tal. Der Strom fiel aus und Christa jammerte: "Man kann die Hand nicht vor den Augen sehen." Dann merkte sie, was sie gesagt hatte und ich fühlte, dass sie erschrocken war. Ich strich über ihre Wangen und legte ihre Hand auf mein Gesicht. Unsere Hände wanderten dann langsam weiter und wir lernten beide, unser Gegenüber ohne Augen zu sehen. "Siehst du, wir können uns mit den Händen nicht nur unterhalten, sondern uns auch sehen", sagte ich Christa am nächsten Morgen. Und wir haben diese Möglichkeit, mit den Händen umfassend zu kommunizieren, im Laufe der Jahre immer weiter ausgebaut. Das Sprichwort, ein altes Ehepaar könne sich ohne Worte verstehen, trifft auf uns bestimmt zu. Selbst im kleinen Supermarkt im Dorf brauchen wir nicht zu sprechen. Wir halten uns an den Händen und führen uns zu den Regalen, wo die Dinge stehen, die wir gerne haben möchten. Herr Bluntschli, der Inhaber des Marktes, macht immer wieder den gleichen Scherz, "Wer führt hier eigentlich wen" und wir können jede Woche wieder neu herzlich darüber lachen, denn auch wir wissen es nicht. Als wir zu erstenmal im Laden gewesen waren und durch die noch unbekannten Regale zum Tresen gekommen waren, stellte Herr Bluntschli auch seine Frage. Er hatte wohl bemerkt, dass wir ein wenig unsicher und auf uns angewiesen waren. Christa hat an diesem Tag aber nicht gelacht, weil Herr Bluntschli uns nicht direkt angeschaut hatte und sie seine Lippen nicht sehen konnte. Aber jetzt weiss ich ja Bescheid und Christa wartet auf meinen Händedruck. Auch das ist so sehr Routine geworden, dass wir ohne Verzögerung gemeinsam zu lachen beginnen.
"Ich glaube, wir werden es uns gemütlich machen und ich werde ein wenig vorlesen", sagt Christa in die Stille hinein und fasst nach meiner Hand. Wenn sie laut spricht, ist sie sich selber unsicher und an meinem Gesichtsausdruck erkennt sie bestimmt, dass mir ihr Vorschlag nicht so gut gefällt. "Du würdest lieber Pilze sammeln", schreibt sie in meine Hand. Ich nicke und meine Finger antworten: "Wo ist das Gewitter". "Es bewegt sich kaum, lass uns noch eine Stunden warten". "Gut", antworten meine Hände und dann erinnern sie Christa an die Nacht damals vor vielen Jahren und ohne weitere Worte sind wir uns einig, jetzt diese Nacht wieder lebendig werden zu lassen.