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Die Schneekugel

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05.01.2015
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Die Schneekugel

Der freundliche Ned, Akt I​

»Schneekugeln! Baumkugeln! Lichterketten in allen Farben, Formen und Größen! Kaufen Sie unnötige Mengen Plunder bei mir und drücken Sie Ihre Individualität mit Gegenständen aus, die andere für Sie hergestellt haben!«
Ned bellte jeden Morgen denselben Werbespruch in leicht abgewandelter Form über den Marktplatz, wenn er seinen Stand eröffnete. Seit beinahe 20 Jahren stand er Tag für Tag bei seinen Waren und machte durch sein lautes Rufen auf sich aufmerksam. Er sah sich selbst als Hahn für die Händler. Die meisten Ladenbesitzer und Standinhaber öffneten ihre Pforten mit seinem ersten Schrei und schlossen, wenn sie sahen, dass Ned seinen Kram zusammenräumte.
»Guten Morgen, Ned!«, rief die Bäckerin Judy, als sie mit Kreide die Tagesangebote auf eine Schiefertafel schrieb. Er lupfte seine warme Wollmütze und nickte der Dame zu, die zu gern von ihren eigenen Erzeugnissen naschte und daher eher in die Breite als in die Höhe gewachsen war.
»Auf ein neues, aye?«, dröhnte die kräftige Stimme von Blacksmith-Smitty, der seine Schmiedefeuer entfachte und sich das Gesicht mit einem Stück Kohle einschwärzte, wie es im Handbuch für Schmiedekunst stand.
»Auf einen gesunden Wettbewerb!«, gellte die helle Stimme von Olliver Parker. Die lange Latte war der neuste Händler auf dem Marktplatz und hatte noch nicht ganz verstanden, dass sich die Stand- und Ladenbesitzer am Ende des Tages nicht in der Taverne trafen, um zu ermitteln, wer den größten Umsatz gemacht hatte. Seine Lederwaren gingen weg wie Judys warme Brötchen und zu Ladenschluss hörte man ihn immer »Ich habe den Tag gewonnen!« rufen.
Ned liebte es in Snowbrooks. Die Menschen waren freundlich, fröhlich und fanden immer einen Grund, um irgendetwas zu feiern. Wenn es keinen Anlass für eine Fete gab, feierte man eben das Zwischendrin-Fest und erfreute sich daran, dass man sich einen Tag Pause gönnen durfte.
In den letzten Wochen feierten die Menschen den Winter. Zuerst veranstalteten sie über mehrere Tage hinweg eine Begrüßungsparty und fuhren den Schnee auf einem riesigen Bollerwagen durchs Stadttor, jetzt schmückten sie ihre Häuser mit bunten Girlanden, Kugeln und Lichtern. Sie brauchten ständig Festschmuck und Ned war die beste Wahl dafür. Wenn man etwas Bestimmtes suchte, erzählte man ihm davon und er entwarf die Pläne für den gewünschten Gegenstand, den er vom Glasbläser Burke oder Blacksmith-Smitty umsetzen ließ. War das gewünschte Objekt schnell herstell- oder lieferbar, schickte Ned den Kunden auf einen Kaffee zu Judy und bat ihn, in wenigen Minuten noch einmal zu fragen.
Da der Bürgermeister die Festwochen zur Familienzeit erklärt hatte, war es nicht verwunderlich, dass die Einwohner von Snowbrooks nur als gesammelte Einheit ihre Einkäufe tätigten. Hand in Hand in Hand in Hand marschierte Familie um Familie auf den Markt, grinste debil und sang die Lieder mit, die die großen Lautsprecher über den Marktplatz krakeelten. In der Mitte des runden Platzes stand ein riesiger Tannenbaum, den Ned und die anderen Händler für die Festtage mit Waren aus seinem Sortiment geschmückt hatten; Burke hatte einen Glasstern hergestellt und Judy spendete ein großes Lebkuchenhaus, in dem sich die Kinder verstecken konnten.
Es war festlich! Es war gemütlich! Es war einfach perfekt!
Ned summte das Lied „Heute kommt der Typ mit der billigen und zum fürchten aussehenden Maske und verdrischt dich mit einem Tannenzweig, weil du letzten Monat den Müll nicht rausgebracht hast“ mit und sortierte die neuen Waren in der Auslage ein. Heute hatte er für seine Kundschaft etwas ganz besonderes auf Lager! Durch eine Wette war es ihm gelungen, sich genau 365 Schneekugeln aus der größten Manufaktur von Snowbrooks zu sichern, die ihre Waren sonst nur an Musical Dumpster und Upper Downhaven auslieferte. Eine echte Schneekugel war das A und O für jeden begeisterten Sammler mit zu viel verfügbarem Einkommen. Jede einzelne Kugel war ein Unikat und stellte eine andere Szene dar, die von einem friedlichen Beisammensein bis hin zur epischen Schlacht reichte.
»Wahnsinn«, sagte sein erster Kunde, während Ned die Kugeln auf Hochglanz polierte.
»Nicht wahr?«, erwiderte Ned und schmunzelte. Er schien es mit einem jungen Mann zu tun zu haben, dessen Stimme den Stimmbruch noch nicht ganz hinter sich gelassen hatte. »Diese Kugeln sind eine echte Rarität. Wenn du eine davon möchtest, wirst du heute zuschlagen müssen, denn ich kann dir versprechen, dass sie morgen nicht mehr ...« Ned nahm seinen Blick von den Kugeln, um den potenziellen Käufer anzusehen. »Da ... sein ... werden.«
Ihm grinste ein junger Mann entgegen, der aussah wie die dreckige Bürste vom Schornsteinfeger Hubert. Er war klein, hatte ungekämmtes, schwarzes Haar und schlang einen völlig verschmutzten und löchrigen Mantel um sich, als wäre es sein einziger Besitz. Trotz des frechen Grinsens sah der Junge traurig aus; tiefe Augenringe erzählten Geschichten von schlaflosen Nächten und Sorgen, die der Händler in seiner Position nicht einmal erahnen konnte. An dem gab es sicher nichts verdienen.
»Kann ich helfen?«, fragte er trotzdem. Das gehörte sich als Händler einfach so.
Ich schaue nur, dachte Ned. »Ich schaue nur«, sagte der Junge und betrachtete die Schneekugeln. Es war nicht untypisch für obdachlose Kinder, dass sie von den bunten Lichtern und der fröhlichen Musik auf den Marktplatz gelockt wurden und hier herumlungerten, um von einer Welt zu träumen, die sie nicht kannten. Ned hatte auch überhaupt kein Problem damit - aber musste der Bengel wirklich direkt vor seinem Stand herumstehen? Natürlich, er war von den Kugeln fasziniert, aber was sollten die anderen Kunden denken? Immerhin füllte sich der Marktplatz nach und nach.
»Die ist schön«, sagte der Junge und tippte mit seinen dreckigen Fingern auf die Schneekugel, die ein Mädchen in einem weißen Kleid beim Tanz zwischen einigen Nadelbäumen zeigte. »Die hätte ich gern.«
Das kann ich mir vorstellen, dachte Ned. »Die kostet zweihundert Crowns.«, antwortete er trocken.
Der Junge sah ihn entsetzt an. »Zweihu ...« Er schnappte mehrmals ungläubig nach Luft. »Das ist ein Scherz, oder? Weißt du, wie lange ich für 200 Crowns in Innton wohnen kann? Einen Monat! Warm! Mit Essen!«
Ned fiel es schwer, den nächsten Satz höflich zu formulieren. »Das weiß ich natürlich, junger Mann. Aber diese Schneekugeln sind für Menschen mit einem gehobenem Anspruch.« Sie sind für reiche Leute und nicht für abgebrannte Straßenkinder, die sie sowieso eine Ecke weiter verlieren.
Der Bengel dachte nach und seufzte schwer. »Und die Kugeln dahinten? Die funkeln so schön. Ich möchte eine.«
Ned zog die Mundwinkel in die Länge und sah den Straßenbewohner an. Er konnte die Enttäuschung in seinen Augen sehen, aber auch die Hoffnung, dass sein selbstgewähltes Trostpflaster erschwinglich sei. Das war es aber nicht, da war sich Ned sicher. Eine einzelne Baumkugel kostete zehn Crowns, da sie aus seltenem Glas geblasen und von Hand angemalt wurden. Dieser Markt war kein Ort für Straßenkinder.
Er rang lange mit sich selbst. »Zwei Crowns pro Stück«, sagte Ned. Jeder hat mindestens zwei Crowns.
Die Miene des Jungen klarte auf, als ob Regenwolken der Sonne wichen. »Ich habe zwei Crowns!«, sagte er vergnügt und wühlte in seiner Tasche herum.
Ned lächelte. »Möchtest du eine rote oder eine blaue?«
»Blau!«, sagte der Junge und fing an, Münzen auf dem Tisch aufzureihen. Er zählte dabei laut mit.
»Sollst du haben.« Ned drehte sich um und nahm eine Kugel vom Baum, an dem er sie ausstellte. Der Junge zählte und zählte, also gab er ihm Zeit, indem er die Ware in eine braune Tüte verpackte.
»190. 195. 200!« Der Bengel strahlte ihn an und zeigte auf die Münzreihe. Ned strich das Geld ein und überreichte seinem Kunden die Tüte.
»Viel Spaß damit«, sagte Ned und verstaute das Geld in seiner Hosentasche. Judy warf ihm einen warmen Blick zu, sie schien die ganze Szene beobachtet zu haben.
»Einen schönen, SCHÖNEN Tag, Herr!«, gellte der Junge fröhlich, wickelte seine Kugel aus und begutachtete das Produkt, als hätte ihm gerade jemand einen Diamanten geschenkt.
Ned nickte ihm zu und sah ihm nach, als er mit der Kugel in der Hand zwischen den anderen Besuchern verschwand und sich so darin vertiefte, dass er beinahe gegen einen alten Mann stieß. Der freundliche Ned lächelte und fühlte sich gut. Nicht nur, dass er einen Straßenjungen glücklich gemacht hatte, nein, er hatte seinen Stand frei geräumt und war bereit, seine Schneekugeln an den Mann zu bringen. Alle 363! Einen Moment mal.

Bürgermeister Sharp, Akt II​

Bürgermeister Sheldon Sharp stand vor dem bogenförmigen Fenster seines Büros und blickte auf den Marktplatz hinab. Er hatte eine Ratssitzung einberufen, um die neuste Krise in Snowbrooks zu diskutieren. Am sichelförmigen Hartholztisch saßen Lionel Godfrey, der Vorstand der Händlergewerkschaft, ein fülliger Mann, der sich ständig das Gesicht mit einem Taschentuch abtupfte und alle zwei Worte Luft holen musste, Mario La Criminal, der Kopf der absolut vertrauenswürdigen und keineswegs zwielichtigen Handelsgesellschaft, der all seine Kopfhaare gegen einen imposanten Bart getauscht hatte, und Percival Smitts, der Obergeneralkommandantgeneral der Stadtwache, ein Hüne von einem Mann, der zwei mechanische Unterarme besaß, da die tatsächlichen Exemplare in einer Schlacht gegen die Morphlinge abhanden gekommen waren.
»Warum sind ... wir hier?«, japste Godfrey und tupfte sich die Stirn ab. Er war seit der letzten Sitzung noch fetter geworden und Sheldon war geneigt, ihm einen zweiten Stuhl anzubieten.
»Ihr habt von einer Krise gesprochen!«, rief Smitts und knirschte mit den Zähnen. Sein langes Kinn bewegte sich dabei von links nach rechts.
»Wir verkaufen nur Nudelgerichte und haben bestimmt nichts damit zu tun!«, protestierte Mario und zupfte an seinem Kragen herum.
Sheldon antwortete ihnen nicht. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stolzierte er zu seinem Schreibtisch hinüber und schaltete das Marconiphon mit einem Knopfdruck an. Sofort schalmeite dröhnende Musik aus dem Gerät, die von einer männlichen Moderatorenstimme unterbrochen wurde.
»Wir unterbrechen unsere Dokumentation über Berichte von Interesse, die genau im richtigen Moment anfangen, um einen Bericht von Interesse zu senden. Die Diebesserie in Snowbrooks reißt nicht ab. Auf dem Marktplatz unserer schönen Stadt wurden am heutigen Morgen zwei Schneekugeln entwendet. Der Sachschaden, der momentan nur geschätzt werden kann, soll sich angeblich im sechsstelligen Bereich einpendeln. Mit dem neusten Überfall der noch unbekannten Diebe beläuft sich die Anzahl der Geschädigten auf eins. Wir können uns nur fragen, wann die Regulation endlich etwas unternimmt!«
»Oh Gott.« Godfrey war fassungslos. Mit offen stehendem Mund tupfte er sich die Stirn ab. Sheldon legte sich einen Zeigefinger auf den Mund und deutete auf das Gerät.
»Die ersten Stimmen vermuten, dass eine organisierte Diebesbande hinter den in ihrer Grausamkeit nicht zu beschreibenden Übeltaten steckt!«
Eine weibliche Stimme fuhr fort. »Und jetzt zu anderen Neuigkeiten des Tages: Die Bedrohung durch die Morphlinge wächst. Regulationstruppen berichten von marodierenden Banden, die sich in den Wäldern um Snowbrooks niedergelassen haben.«
»Pah!«, fiel der Moderator seiner Kollegin ins Wort. »Als würde sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit solchen Lappalien befassen.«
Sheldon schaltete das Gerät aus und sah die Herrschaften am Tisch gegenüber ernst an. »Ihr habt es gehört, Gentlemen«, sagte er ruhig und faltete die Hände wieder hinter seinem Rücken. »Die Bedrohung wächst. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir diese Situation nicht mehr unter Kontrolle bekommen.« Er drehte sich zu seinem Fenster um und blickte nachdenklich auf den Marktplatz. Ich habe all das aufgebaut, dachte er, als er dem geschäftigen Treiben zusah. Mach dir keine Sorgen, Snowbrooks. Solange mein Herz schlägt, werde ich nicht zulassen, dass dieser Stadt ein Leid geschieht. »Sie können sich verstecken, wo und solange sie wollen, es spielt keine Rolle! Wir werden jeden Stein umdrehen und in jede Ritze lugen, bis wir sie gefunden haben und stolz verkünden können, dass Snowbrooks sicher ist!«
»Was wollen wir unternehmen, SIRE?«, schniefte Smitts motiviert und laut. Sheldon hörte, wie sich der Kopf der Stadtwache schwungvoll aus seinem Stuhl erhob. Vermutlich salutierte der treue Mann wieder.
Der Bürgermeister fuhr herum wie ein Zauberkünstler. Sein Gehrock wirbelte wie das Röckchen einer Tänzerin und er richtete einen Zeigefinger nach vorne.
»Die Schneekugeldiebe werden nicht gewinnen! Smitts! Ich möchte, dass alle Stadttore dicht gemacht werden. Niemand, nicht einmal eine Maus, kommt ohne Kontrolle rein oder raus. Sobald Euch etwas auffällt, erstattet Ihr mir Meldung! Godfrey! Ich möchte, dass dieser arme Händler umgehend aus der Stadtkasse entschädigt wird. Ihr seid der Vorstand. Zu mir könnt Ihr ehrlich sein. Wie hoch ist der entstandene Schaden?«
»400 Crowns ... Bürgermeister Sharp«, antwortete der runde Mann und schob ein paar Holzperlen an einem Abakus herum, den er immer unter seinem Hut versteckte.
»Meine Güte.« Sheldon zog scharf Luft ein. »Zahlt den Mann aus. Sichert ihm jede Hilfe zu, die er benötigt!«
»Habt Ihr für mich auch einen Auftrag?«, fragte Mario.
»Ja«, sagte Sheldon und nickte. »Sagt Euren absolut vertrauenswürdigen Mitarbeitern, die garantiert nicht zwielichtig sind, dass sie die Augen offenhalten sollen. Sobald sie etwas sehen, ist ihnen gestattet, dass patentierte Nudellasso einzusetzen, um diese kriminellen Subjekte zu neutralisieren! Wenn es sein muss, sogar für immer!«
Mario grinste keck und tippte gegen einen seiner ausgeprägten Tränensäcke. »Ich verstehe, Mister Sharp. Sicherlich könnt Ihr mir im Gegenzug versichern, dass der gute Smitts bei unseren nächsten Transport ein Auge zu drückt?«
Da musste Sheldon nicht lange überlegen! »Natürlich, La Criminal. Wenn Ihr mir dabei helft, dass organisierte Verbrechen in meiner Stadt zu bekämpfen, ist gegen eine riesige Mehllieferung zur Nudelproduktion überhaupt nichts einzuwenden!«

„Stupid Name“ Dixon, Akt III​

Dixon verließ das Nudelrestaurant „Nur lange Nudeln, keine krummen Dinger“ mit einer Serviette, auf der sein Auftrag stand. Seine kalten Augen, die so blau wie ein alter Eisberg waren, überflogen die Zeilen, die Muskeln in seinem kantigen Gesicht arbeiteten, als er den Text leise vorlas.
»Der Bürgermeister wünscht die Entsorgung einiger ungewollter Entitäten, die seine Stadt heimsuchen. Sie rauben, klauben und setzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Das ist unsere Aufgabe. Vom Betroffenen haben wir erfahren, dass es sich bei dem Dieb um einen recht kleinen Straßenjungen handeln soll. Wir finden, dass diese Information den oder die Täter mehr als deutlich entlarvt und kommen damit zum keineswegs übereilten Entschluss, dass es sich dabei nur um unsere alten Erzfeinde handeln kann: Die Schneekugelzwerge. Mache ihn oder sie ausfindig und entsorge die Bedrohung, bevor sie uns über die Köpfe wächst! Wir raten dir in diesem Fall zur Diskretion und wünschen viel Erfolg.«
Dixon biss die Zähne fest zusammen. Die Schneekugelzwerge, dachte er. Ich hoffte, wir würden nie wieder etwas von ihnen hören, nachdem wir sie in den Untergrund gedrängt hatten. Dabei hätte ich wissen müssen, dass sie sich irgendwann zusammenrotten und versuchen, die Stadt im Sturm zu nehmen!
Er war sich nicht sicher, ob er diesen Fall diskret behandeln konnte. Dixon hasste die Schneekugelzwerge mehr als seinen alten Lehrmeister, der den ganzen Tag weiße Kleider trug und als Eremit in einer Hütte im Gebirge des Allaroundmountains lebte, die man nur über eine unnötig lange Treppe erreichen konnte. Immer wieder rissen ihn Albträume aus dem Schlaf, er wachte schweißgebadet auf und hörte das Schreien seiner Eltern durch den Raum hallen, welches von dem Geräusch von brechenden Glas und dem Gelächter der kleinen Teufel begleitet wurde. Der größte, anzunehmende Schneekugelunfall hatte ihn nicht nur seine Eltern gekostet, nein, sie beendete auch seine Jugend und vergrub sie unter Kunstschnee, der an diesem Tag auf die Stadt herabfiel, wie ein Wintereinbruch im Sommer. Und das nur, weil diese Mistkerle sich weigerten, dass Band für eine Inspektion abzuschalten. An diesem Tag machte er sich auf die Suche nach einem Lehrmeister, um die Kunst des stillen und diskreten Tötens zu lernen.
»Diskretion«, murmelte er zu sich selbst, sah auf seinen automatischen Karabiner mit Trommelmagazin, das er in der linken Hand hielt und ging noch einmal ins Geschäft.
Als er den Laden wieder verließ, ragten bunte Blumen aus dem Lauf des Gewehrs, dass er senkrecht vor sich hintrug.
»Ich bringe einen Blumenstrauß zu meiner Liebsten!«, sagte er mit seiner kühlen und monotonen Stimme, als zwei Stadtwächter an ihm vorbei liefen. Die Männer nickten und zogen die Mundwinkel rauf.
»Hol sie dir, Tiger!«, riefen sie ihm nach.
O, ich hole sie mir, dachte Dixon, als er sich in das rege Treiben auf dem Marktplatz mischte. Seine Augen huschten von Mensch zu Mensch. Wie ein kreisender Adler, der über eine weite Steppe hinweg segelte, versuchte er, ein Ziel ausfindig zu machen. Ich werde die Verantwortlichen finden und sie für all das Leid, dass sie verursacht haben, zur Rechenschaft ziehen. Ich vollstrecke das Urteil, das sie über sich selbst gesprochen haben. Vielleicht finde ich endlich meinen inneren Frieden, wenn dieser Auftrag erledigt ist. Es wird Zeit, dass ich dieses Leben hinter mir lasse.
Sein scharfer Blick fiel auf einen jungen Mann, der seine Hand im gehen in die Handtasche einer singenden Mutter vergrub. Die dreckigen Klamotten, die zerzausten Haare und die Schneekugel, die aus seiner linken Manteltasche ragte, ließen Dixon stutzen. Ob dieser Kerl etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte? Er beobachtete, wie der Junge einige Crownscheine aus der Tasche fischte, in seiner Hose verschwinden ließ und zwischen zwei älteren Herren hindurch schlüpfte. Nein, dachte Dixon. Nur ein Taschendieb bei der Arbeit.
Er sah sich weiter um. Zwischen all den fröhlichen Familien, glücklichen Müttern und spielenden Kindern fand er keine Hinweise auf eine Bedrohung durch Schneekugelzwerge, nur der Taschendieb lief ihm immer wieder über den Weg, als ob er sich mit Absicht in sein Blickfeld drängte. Der Junge war fleißig und schien sich an diesem Tag ein ordentliches Vermögen zusammen zu rauben und zu klauben. Dixon hielt inne und kramte die Serviette mit seinem Auftrag aus der Tasche.
»Sie rauben, klauben und setzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken«, wiederholte er, sah dem Jungen nach und schaute genauer hin. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Jetzt habe ich dich, du kleiner Mistkerl!«

Jonathan, Akt IV​

Jonathan wurde das Gefühl nicht los, dass man ihm folgte. Zuerst ging er vom üblichen Unbehagen aus, dass ihm überkam, wenn er sich in einer Menschenmenge herumtrieb, doch inzwischen befand er sich auf den Weg zu einem Restaurant, um etwas zu Abend zu essen und in seinem Magen kribbelte es immer noch.
Es war gut möglich, dass ihm der ein oder andere Bürger auf die Schliche gekommen war, da er den heutigen Tag für eine ausgiebige Tascheninspektion von Fremden genutzt hatte, aber üblicherweise hielt man ihn dann sofort am Arm fest, zog ihm eine ab und schimpfte unverständlichen Kram. Johnny hatte genau das Bauchgefühl, dass er kurz vor so einem Übergriff empfand.
Skeptisch blickte er über seine Schulter und rief »Hallo?«, als irgendjemand nach ihm zu rufen schien und er die Schrittgeräusche mehrerer Personen hörte. Das war nicht unbedingt die beste Entscheidung, doch er wollte seinen Verfolgern unmissverständlich klarmachen, dass er sich ihrer Präsenz bewusst war. In den bunt erleuchteten Straßen von Snowbrooks tat sich natürlich nichts. Ein schlechter Jäger wäre jetzt aus seinem Versteck gekrochen, hätte »Okay, du hast mich!« gerufen und sich verzogen, also hatte es Jonathan mit einigermaßen kompetenten Exemplaren zu tun.
Er schlenderte weiter durch die farbige Kulisse. Eigentlich gefiel ihm die Stadt, die zum größten Teil aus Einfamilienhäusern auf großen Grundstücken bestand, doch er sah, was zu viel Platz aus Menschen der oberen Mittelschicht machte. Die Gärten der Bewohner wurden zum Kampf um den begehrten Titel „Individuellste Behausung“ zweckentfremdet. In den Hinter- und Vorderhöfen der Teilnehmer stapelte sich nutzloser Dreck; Gartenzwerge, bunt angemalte Windmühlen und Steinskulpturen irgendwelcher Leute, vor die man sich stellen und schlau aussehen konnte. Alles war mit Lampen, bunten Kugeln, Glocken und Girlanden eingewickelt, als ob man die Dekorationen mit fröhlichen Fesseln von der Flucht abhalten müsse. In manchen Fällen trieben sich die Eigentümer in ihren Gärten herum und lauerten auf einen armen Idioten, der dumm genug war, die dreidimensionale Höhlenmalerei zu lange anzustarren. Johnny sah einen Mann, der sich mit Tarnkleidung in einer Hecke versteckt hatte und ein anderer hing als Spinne verkleidet im selbst gebastelten Netz in der Krone seines Apfelbaumes. Er rief ihm ein als Hustenanfall getarntes »Guck mal hier rein!« entgegen, doch auf so was wollte Jonathan nicht noch einmal reinfallen. Er hatte eine Woche zuvor in einen der Gärten gelugt und wurde stundenlang von einem mitteilungsbedürftigen Typen belagert, der ihm in einem Bienenkostüm eine uninteressante Geschichte nach der anderen über den ganzen Mist erzählte, den er auf dem Schrottplatz - der fälschlicherweise als Garten bezeichnet wurde - einlagerte.
Klar war es erfrischend, dass kein Haus wie das andere aussah, auf der anderen Seite wurden all die Farben, Formen und akustischen Sensationen schnell eine Nummer zu groß für Jonathans einfachen Verstand. Aus jedem Garten trümmerte ein anderes Lied, manchmal spielte die Platte zu schnell, mal zu langsam und gelegentlich wurde der Text von einem Ausdruckstänzer aufgeführt. Alles war bunt, laut und zum verrückt werden. Johnny fühlte sich, als hätte er zu viele von den falschen Pilzen genascht.
Zwischen all dieser Einzigartigkeit stand ein Restaurant, dass Jonathan schon ein paar mal mit den köstlichen Düften lockte, die aus den offen stehenden Türen drangen. Heute gab er klein bei und steuerte auf den Eingang zu.
»Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Lokal für ... Euresgleichen ... die richtige Wahl ist«, näselte ein schnöseliger Mann mit Spitzbart, der am Empfang stand und seine Nase soweit in die Luft streckte, dass man meinen konnte, er wäre in den Kronleuchter verliebt.
»Meinesgleichen?«, fragte Johnny. »Macht dich das bisschen Schmutz nervös? Ich komme aus dem Bergwerk, wo ich für meinen reichen Vater arbeite. Jetzt habe ich Hunger und möchte etwas essen.«
»Unsere Preise sind ...«
»... für Menschen mit gehobenem Anspruch, ich weiß, ich weiß.« Jonathan seufzte, griff in seine Tasche und präsentierte dem Mann die Schneekugel, die er am Morgen von einem Standbesitzer geklaut hatte. »Da. Haben Penner so was?«
Mister Schnösel betrachtete die Schneekugel. Für einen Augenblick meinte Johnny, dass er in seinen Augen Überraschung sehen konnte, doch sein Gesicht blieb emotionslos. »Ich habe mich in diesem Fall wohl geirrt, Mister ...?«
»Tirrel. Maxwell Tirrel«, log Johnny, der sich für jede Stadt ein oder mehrere Decknamen zurecht legte.
»Mister Tirrel.« Der Mann am Empfang nickte. »Nun, Ihr habt Glück. Wir haben einen freien Tisch, den ich Euch anbieten kann. Herzlich willkommen im besten Nudelladen von Snowbrooks, „Nur lange Nudeln, keine krummen Dinger“!«

„Stupid Name“ Dixon, Akt V​

Dixon staunte nicht schlecht, als die Zielperson das Lokal betrat. Ein Spion, dachte er. Sie schicken ihre Leute in unseren Laden, um zu sehen, ob wir bereits gegen sie vorgehen!
Er konnte den Haupteingang nicht nehmen, soviel war klar. Der Spion hatte sich mehrfach nach ihm umgedreht und sogar gerufen, also wusste er, dass Dixon ihm folgte. Glücklicherweise besaß der Auftragsmörder einen Schlüssel für den Hintereingang und eilte auf diesen zu. Ich muss den Boss warnen, dass wir eine Ratte in den eigenen vier Wänden haben.
»Boss!«, rief Dixon, als er die Tür aufwarf. Einige Köche sahen ihn verdattert an.
»Also, ganz ihm ernst, Dixon. Du kommst diese Woche zum vierten oder fünften mal durch den Hintereingang geprescht und schreist nach dem Boss, obwohl du genau weißt, dass er in der Etage über uns sitzt!«, schimpfte Chefkoch Cliché, der eine riesige Kochmütze aufhatte und mit dem Akzent aus Le Village sprach, bei dem man stark näselte und Vokale zusätzlich betonte.
Dixon blieb für einige Sekunden in der Position stehen, die er eingenommen hatte, als er durch die Tür geschossen war. »Oh«, sagte er schließlich. »Ist die Position dieses mal wenigstens dramatisch genug für so einen Auftritt?«
Chefkoch Cliché musterte den Auftragsmörder gründlich, wiegte den Kopf unsicher hin und her und machte eine abwinkende Geste. »Eh.«
Ich habe dich erneut enttäuscht, Meister!, dachte Dixon, als er durch die Küche eilte und die Treppen in das zweite Stockwerk hinauf stieg. Er konnte bildlich vor sich sehen, wie der alte Mann vor seiner bunten Pappwand stand, durch seinen penibel gepflegten Bart fuhr, die buschigen Brauen senkte und über ihn lachte.
An der Tür des Bosses hing ein Schild, auf dem Hier drin finden keine zwielichtigen Gespräche statt, aber bitte klopfen Sie erst an, bevor Sie eintreten. Wenn Sie zu meiner Bande ... Bande war durchgestrichen. Arbeiterschaft gehören, setzen Sie sich bitte einen bereit gestellten Fedora und eine Sonnenbrille auf.
Dixon setzte sich einen Fedora und eine Sonnenbrille auf, die man aus einer kleinen Auslage nehmen konnte, und klopfte an die Tür.
»Wer ist da?«, rief Mario. »Hier drin geht absolut nichts illegales vor sich, also wenn Sie zur Stadtwache gehören, können Sie gleich wieder gehen.«
»Ich bin es, Boss!«, antwortete Dixon. »Es gibt wichtige Informationen!«
»Ah, „Stupid Name“ Dixon. „Ox Eye“ Joe, mach ihm auf!«
„Ox Eye“ Joes Name kam nicht von ungefähr. Der kleine, schweigsame Mann, der immer blaue Anzüge trug, hatte ein Ochsenaugenimplantat, da er als Kind ein Auge beim damals beliebten, inzwischen verbotenem „Wie nah traust du dich"-Spiel verlor, bei dem man seinen Kopf so nah wie möglich auf einen rostigen Nagel zubewegte. In den Landfills gab es viele Einäugige um die 30.
Er öffnete Dixon die Tür und nickte ihn hinein.
Mario saß an seinem Schreibtisch, schniefte als wäre er erkältet und trommelte mit den Fingern auf den Tisch herum. Im ganzen Raum waren mannshohe Pulverhaufen verteilt und der sonst schwarze Bart des Bosses sah aus, als wäre er in den letzten zwölf Stunden um ein Jahrhundert gealtert. Zwischen den Haufen standen ratternde Waschmaschinen mit Zahnradgetriebe, in denen Münzen und Scheine durch geschleudert wurden und an kleineren Schreibtischen saßen maskierte Männer und Frauen in weißen Pullovern mit schwarzen Streifen, die Geldscheine in große Säcke packten, auf denen das landesweit gängige Crownzeichen aufgestickt war.
»Was gibt es?«, fragte der Boss.
»Wir haben eine Ratte im Lokal«, antwortete Dixon und nahm sein Gewehr in beide Hände.
»Schon wieder? Letzte Woche war doch erst jemand da, der sich darum kümmern sollte. Dixon, ich möchte, dass du den Kammerjäger umbringst!«
»Nein, Boss. Ich meine einen Spion. Das Rattenproblem wurde meines Wissens nach behoben.«
»Ich verstehe. Dann möchte ich, dass du die Ratte umbringst.«
»Meinen Sie jetzt den Spion oder soll ich tatsächlich nach einer Ratte suchen?«
Mario überlegte. »Erst den Spion. Danach suchen wir die Ratte. Wenn hier wieder so ein Viech ist, bringen wir erst sie und dann den Kammerjäger um.«
Dixon nickte und machte auf seiner Hacke kehrt.
Mit dem Gewehr im Anschlag trat er die Tür zum Lokal auf, sah sich um, fixierte sein Ziel und richtete seine Waffe in den Raum.

Jonathan, Akt VI​

»Vorsicht! Er hat einen Blumenstrauß!«, schrie ein Gast und warf sich unter den Tisch. Die Menschen im Lokal schrien wie am Spieß und suchten Deckung. Eine Frau warf ihren Tisch um und verkroch sich dahinter, ein älterer Mann sprang in Flick Flacks durch den Raum, bevor er mit einem anderthalben Salto und zweieinhalb Schrauben aus einem offen stehenden Fenster sprang. Drei Damen, die am selben Tisch saßen, kreischten und notierten etwas auf kleinen Kärtchen, gaben dem Flüchtling die Bestnote und entkamen, indem sie mit nach vorne gestreckten Beinen durch die Wand sprangen. Ein Mann hob seine Hand, wartete auf den Kellner und beglich seine Rechnung, bevor er in Panik ausbrach, ein Bild von der Wand riss und mit dem Gemälde unterm Arm aus dem Gebäude türmte.
Blam! Blam! Blam! Das Gewehr feuerte dreimal in kurzen Abständen und Johnny hörte die Kugeln knapp an seinem Kopf vorbei zischen.
»Aaaargh!«, rief jemand, als auch Jonathan von seinem Platz hechtete und Deckung suchte.
Der Mann, der hinter ihm gesessen hatte, rutschte vom Stuhl und fiel zu Boden. Er war sehr klein und trug eine Brille mit einer falschen Nase, die ihm vom Gesicht rutschte, als er auf dem Boden aufschlug. Auf seiner Glatze war eine Schneekugel festgebunden, er hatte rote Pausbacken und einen langen, weißen Bart.
»Habe ich dich, du verdammter Mistkerl!«, rief der Schütze und stürmte durch den Raum. »Ich bin dir gefolgt, seit du diesem Taschendieb hinterher geschlichen bist und versucht hast, seine Schneekugel zu rauben oder zu klauben!«
Plötzlich stürmte eine Meute dieser kleinen Männlein durch den Haupteingang und wackelten auf den Schützen zu. »Aaaaah!«, rief ihr Anführer, der eine rote Zipfelmütze trug. »Heute bekommt die Familie La Criminal unsere Rache zu spüren!«
Jonathan, der noch eine Gabel im Mund hatte, machte eine langes, irritiertes Gesicht. Die kleinen Männer kletterten auf dem Schützen herum und trommelten gegen seine Brust. Der Mann rief »Vater! Mutter! Heute ist der Tag der Abrechnung!«, ging zu Boden und rang mit den Zwergen. Aus der Küche brachen nun zusätzliche Männer in bunten Anzügen und gingen auf die Kleinen los; die ersten Tische standen bereits in Flammen, die verbleibenden Gäste und die Belegschaft stürmten fluchtartig aus dem Lokal.
Das ist eigentlich keine schlechte Idee, entschloss Jonathan, stand auf und umtänzelte die Kämpfenden. Er naschte hier und da von den Tellern, ging hinter die Theke und räumte die offen stehende Kasse leer, bevor er ebenfalls das Lokal verließ. In diesem Durcheinander achtete niemand auf ihn und es wäre dumm gewesen, das schöne Geld vor Ort zu lassen.
Als er die Straße entlang schlenderte und seine Schneekugel betrachtete, ertönten hinter ihm die Sirenen der Stadtwache und der Feuerwehr. Das gesamte Lokal stand in Flammen, es gab einen Knall und das Dach des Gebäudes flog wie ein Sektkorken in die Nacht.
»Ist da draussen jemand?«, rief ein Hausbesitzer aus dem Fenster, als Trümmer wie Kometen in seinem Hof niedergingen. »Mir war, als hätte ich etwas gehört!«
»Beruhige dich, Schatz«, beschwichtigte seine Frau aus dem Hintergrund. »Das bildest du dir nur ein!«
»Nein, nein, Rosalind. Da drüben, neben dem brennenden Restaurant, aus dem bunte Feuerwerkskörper fliegen, steht ein verdächtig aussehender Junge! Du da! Bengel!«
Jonathan blickte zu dem Mann, der im weißen Nachthemd und mit Zipfelmütze aus seinem Fenster schaute. Er neigte seinen Kopf und zeigte auf sich. »Ich?«, fragte er.
»Ja, du! Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?« Ein Teil des brennenden Daches schlug in die Hauswand ein und bohrte sich wenige Zentimeter neben dem Herren in die Mauer. Glut pulsierte feurig rot und die Hitze brachte die Eiszapfen an der Dachrinne zum schmelzen. »Musst du um diese Zeit durch den Schnee stapfen? Weißt du eigentlich, wie laut das ist?«
»Tut mir leid«, brüllte Johnny und bildete einen Tunnel vor seinem Mund. Neben ihm brachen brennende Zwerge aus dem in sich zusammenfallenden Restaurant und wurden von zwei Dutzend durcheinander rufenden Stadtwachen überwältigt, die sie mit Hochdruckwassergewehren beschossen. Einer der kleinen Männer wirbelte direkt über die Straße hinweg, landete in einem Schneehaufen und versank darin, da die Resthitze seines Körpers auf Schnee dieselbe Wirkung hatte, wie eine brennende Zigarette auf Papier.
»Das sollte es mal besser!«, rief ihm der ältere Herr entgegen und sah zu seiner Frau, die sich irgendwo hinter ihm aufzuhalten schien. »Kannst du es fassen, Rosalind? Da treibt sich zu dieser ungöttlichen Stunde einer dieser Halbstarken da draußen herum und sammelt Schnecken zum Abendbrot!«
»Ich sammel überhaupt keine Schnecken zum Abendbrot!«, protestierte Johnny. Als das glühende Trümmerteil aus der Hauswand brach, ein ganzes Stück Mauer mitriss und auf eine Gartenzwergfamilie krachte, erkannte der junge Dieb wie albern diese ganze Situation wurde. Nee. Hier klinke ich mich aus. Diesen Schwachsinn mach ich nicht mit, dachte er entschlossen, hob die Hände als würde er sich ergeben und ließ den wetternden Mann, die durchdrehende Stadtwache, die Zwerge und die wenig vertrauenserweckend aussehenden Leute hinter sich. Das konnten diese Wahnsinnigen mit jedem anderen machen, aber Johnny wollte kein Teil dieser verrückten Gesellschaft werden.
Das Leben als Straßenjunge war ungleich einfacher als dieser Blödsinn.

 

Hallo NWZed,

bei der Geschichte bin ich ein bisschen hin und her gerissen.

Ich fange mal mit dem positiven an:

Sprachlich ist das sehr sauber, mir ist so gut wie gar nichts aufgefallen, bis auf das hier:

»Einen schönen, SCHÖNEN Tag, Herr!«, gellte der Junge fröhlich, wickelte seine Kugel aus und begutachtete das Produkt, als hätte ihm gerade jemand einen Diamant geschenkt.
Diamanten

Die ganze Geschichte liest sich sehr flüssig, man merkt beim Lesen gar nicht, wie lang der Text eigentlich ist.

Und im Vergleich zu deiner Geschichte "Die Nordwölfe", von der das hier ja eine Fortsetzung ist, fand ich, dass man der Handlung besser folgen kann - trotz der vielen Figuren und Namen, die auftauchen, gab es für mich keine Stelle, wo ich verwirrt war oder hängen geblieben wäre.

Außerdem habe ich eine gute Vorstellung von den Figuren bekommen und einige werden schnell sympathisch.

Jetzt zu den eher kritischen Punkten:

Der Humor hat für mich nicht überall funktioniert. Manche Stellen mochte ich gern - insbesondere die erste Szene mit dem Markt wirkt sehr lebendig und die witzigen Stellen haben für mich gezündet. Später wird es dann teilweise sehr albern, mit den Mafiaklischees und so. Ich musste zwar schon lachen, als sich herausstellt, dass es die Schneekugelzwerge wirklich gibt, aber ... es ist halt insgesamt nicht ganz rund, es wirkt nicht wie aus einem Guss. Es entwickelt sich im Laufe des Textes von einem "leiseren" Humor, der von den Figuren ausgeht, zu einem ziemlich grotesken Trickfilmhumor.

Und am Schluss wird es dann abrupt sehr viel ernster. Ich habe zwar schon vorher bemerkt, dass wir uns wieder in deiner Steampunkwelt befinden, und dass Jonathan der Junge aus der Geschichte mit den Nordwölfen ist, aber trotzdem war der Bezug zu der früheren Geschichte und dem Tod von Erin dann ein ziemlicher Bruch mit dem ganzen sonstigen Text.

Ich habe im Moment keinen Vorschlag, wie du da die Kurve besser kriegen könntest, das ist halt erst mal ein Stimmungbild, wie ich die verschiedenen Teile der Geschichte empfunden habe.

Etwas unschlüssig bin ich auch, ob das Stichwort "Satire" hier wirklich zutrifft. Einerseits gibt es schon Elemente - die Zusammenarbeit der Regierung mit der Nicht-die-Mafia, und dann die Reaktion auf den Schneekugeldiebstahl - zuerst dachte ich da, aha, das ist die Satire, dieses völlig übertriebene gewaltsame Vorgehen gegen eine Bedrohung, die es gar nicht gibt. Aber dann stellte sich eben heraus, die gibt es sehr wohl. Und auch wenn ich das lustig fand habe ich dann dran gezweifelt, ob es denn wirklich noch Satire ist, wenn das Ganze berechtigt war.

Fazit: Ich habe es gern gelesen, da sind schöne Stellen drin, einige gute Ideen und auch vieles, was ich lustig fand. Aber der Erzählton ist so uneinheitlich, dass ich dann halt am Ende nicht ganz zufrieden war.

Grüße von Perdita

 
Zuletzt bearbeitet:

Es entwickelt sich im Laufe des Textes von einem "leiseren" Humor, der von den Figuren ausgeht, zu einem ziemlich grotesken Trickfilmhumor.

Hier muss ich sagen, dass die Figuren in meinem Kopf allesamt Trickfilmfiguren sind und das es durchaus so beabsichtigt ist. Die Mischung richtig in den Topf zu bekommen ist ein Problem, das gebe ich zu.

Einerseits gibt es schon Elemente - die Zusammenarbeit der Regierung mit der Nicht-die-Mafia, und dann die Reaktion auf den Schneekugeldiebstahl - zuerst dachte ich da, aha, das ist die Satire, dieses völlig übertriebene gewaltsame Vorgehen gegen eine Bedrohung, die es gar nicht gibt.

Ich war mir bei der Themenwahl auch nicht sicher. Ich gebe immer wieder gern "Satire" an, da ich immer mal wieder auf Sachen aus den Nachrichten zu sprechen komme, aber alles in allem sind meine Texte eher satirisch angehaucht - niemals voll und ganz, dafür halte ich mich nicht für clever genug. Das merke ich mir allerdings fürs nächste mal. =)

Edit schreit: Jetzt setze ich mich allerdings nochmal ran und arbeite ein anderes Ende aus, da du recht hast. Das momentane Ending passt nicht zum Grundton.

 

Patch v1.1

- Kleinere Tippfehler behoben
- Ein komplett neues Ende eingefügt, dass besser mit der Grundstimmung der Geschichte funktionieren sollte.

 

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