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Abschied (Plagiat)
Ich sitze schweigend mit meinen Eltern zum Abendbrot am Tisch. Mein Vater hat sich seine Lesebrille aufgesetzt und betrachtet sich sorgfältig mein Zeugnis. Meine Noten sind insgesamt besser geworden, trotzdem bekomme ich kein Lob zu hören. Ich habe auch keines erwartet. Chemie befriedigend! Es ist meine beste Note in Chemie, die ich jemals bekommen habe. Doch ich kann mich nicht wirklich darüber freuen, stattdessen erinnere ich mich, was vor wenigen Monaten geschah.
Gesamtschule Osterdorf! Ein großer Schulkomplex in unserer großen Stadt. Jeden Morgen kommt das riesige Heer der Schüler. Und ich? Ich bin einer von ihnen. Einer von allen! Ich bin auch einer, der immer gerne zur Schule gegangen ist. Klar! Hier trifft man die Jugendgrößen schlecht hin. Bullmann, genannt Bully, der seinem Namen alle Ehre macht und seine Ehre auch jedes Mal kräftig verteidigt. Kilko, der selbsternannte Don seiner selbsternannten Schulmafia. Mustafa der Millionste, der die türkischen Jungen um sich versammelt. Lilith, die jeden an sich heran lässt, solange man dabei auf sein Wochentaschengeld verzichten kann. Der kahle Manni, unser schuleigener Dealer, ich habe keine Ahnung, wie er immer an seine Ware rankommt. Mein bester Freund Chan, eigentlich heißt er Xue Ming, aber da er, typisch chinesisch, solche Tricks drauf hat wie Jackie Chan, er ist ja auch nicht ohne Grund mein bester Freund, nennen wir ihn alle nur Chan. Auf diese Schule gehen die Mädchen und Jungen des Viertels der Stadt, das passenderweise Osterbronx bezeichnet wird. Ich bin Ax. Kurzform für Axel, und ich war gerne aufbrausend. Das war halt mein Stil. Der Stil hatte mit Chan an meiner Seite auch gut überdauert. Ich war der King in meiner Klasse.
Die Pauker auf der osterdorfer Schule hatten kein leichtes Los. Ich glaube, unsere Gesamtschule war eine Strafkolonie für Lehrer. Wenn es so war, dann war die Strafe saftig, denn die Schule lag schon lange in unserer Hand.
Anders als das Heer der Schüler gingen die Lehrer leise und verstohlen zum Hintereingang rein. Sie waren jedes mal froh, wenn es kein Schülersonderempfangskomitee gab, das sich hinter den Blechkarren versteckt und die ankommenden Lehrer mit nassen Toilettenpapierknäueln bewirft. Ich gehörte diesem Empfangskomitee nicht selten an, und ich war immer höllisch gut im Treffen. Nur bei Meister Lampe, Sportlehrer Lampmann, hielt ich mich aus taktischen Gründen zurück. Ich mochte auch die Musiklehrerin, sie bekam immer einen Attraktivitätsbonus. Ein Bonus, der mich immer vorbei werfen ließ, und irgendwie trafen die Knäuel meiner sonst so zielsicheren Kameraden auch nie, und wenn einer traf, dann wusste ich, dass wir ein Mädel in unserem Team hatten. Bei unserem Mathepauker Köhler traf ich auch meistens vorbei. Ich mochte ihn, er versuchte immer, sich auf den Level von uns Schülern zu begeben. Bei der Chemielehrerin Maiwald dagegen traf ich mit weltmeisterlicher Zielsicherheit.
Sie trug bei uns den Spitznamen Schraube. Es gab dafür keinen wirklichen Grund. Er entstand, als Frau Maiwald uns einen Versuch mit einem gewindeförmigen Reagenzglas vorführte und ich meine Klappe nicht halten konnte. Schraube hatte es wirklich nicht leicht mit uns. Die wenigen Schüler, die wirklich was lernen wollten, hatten sich schon nach vorne gesetzt. Wir anderen hatten uns überall hingesetzt. Selten saßen wir auf unseren Stühlen. Noch seltener schauten wir zur Tafel oder sonst wo hin, was irgendwie mit Unterricht zu tun hatte. Aber niemals waren wir leise. Schraube war nun mal ein willkommenes Opfer. Eine unscheinbare Frau Mitte dreißig, mit kurzen, schwarzen und angegrauten Haaren, einer Nickelbrille auf der Nase. Sie war immer sehr altmodisch, um nicht zu sagen ätzend, gekleidet.
Einmal sagte der zahlenwahnsinnige Köhler zu uns, dass wir uns in Schraube täuschten, sie wäre ein Rebell und nicht ohne Grund hier. Da hatten wir ihn voll ausgelacht. Wo sollte die Maiwald auch ein Rebell sein? Sie mochte nicht einmal die Begleitmusik, die wir während den Chemiestunden bereitwillig zur Verfügung stellten.
Ulf hatte einmal eine voll heiße Nummer abgezogen. Er hatte sich mit seiner Wampe vor sie am Pult gestellt. Als die Maiwald ihn entsetzt anstarrte, nahm er sie fest in seine Umarmung und gab ihr einen fetten Kuss. Boah, hatten wir uns abgerollt vor Lachen. Die Maiwald tat nichts, so dass wir prompt behaupteten, dass es ihr gefallen hätte. Das war ja das Problem, sie hätte ihm eine knallen müssen.
Der Schlimmste von allen war aber ich. Als King hatte ich stets zu beweisen, dass ich die Macht war. Das war auch gar nicht schwierig, denn ich hatte regelmäßig die Lacher auf meiner Seite, und an Sprüchen hatte es bei mir noch nie gehapert. Ich suchte auch nicht selten die offene Konfrontation mit Schraube. Sie konnte meinem Blick nicht standhalten, der ihren dauernd suchte, wenn wir eine Diskussion hatten. „Gib es auf, Schreckschraube“, waren meine letzten Worte an sie.
Am nächsten Tag, Chan, Mel und ich kamen wieder zu spät zum Chemieunterricht, wir waren vorher noch damit beschäftigt gewesen, Präser über die Scheibenwischer ihrer Schrottmühle zu ziehen. Und Mel hatte sich noch von ihrer Banane getrennt, sie steckte dann in dem Auspuff.
Ich öffnete, wie immer laut, die Tür und war baff. Die ganze Klasse saß totenstill auf ihren Plätzen und schaute gebannt nach vorn. Wir drei waren neugierig, und als ich mich gesetzt hatte, sah ich auf der Tafel das Zeichen für Gift. Darunter stand eine Formel, und ich wünschte mir in dem Moment, dass ich doch ein wenig von dem verstand, was chemische Formeln betraf.
Frau Maiwald hielt in ihrer rechten Hand ein Trinkglas, das mit einer bläulichen Substanz halb gefüllt war. Vor ihr auf dem Pult standen eine Menge Reagenzgläser, eine Vielzahl von kleinen Töpfchen und Flaschen, eine Spritze mit einer verpackten Nadel und der Bunsenbrenner. „Hey, was geht hier ab“, fragte ich den Schüler vor mir. Es war wirklich das erste Mal, dass ich in der Chemiestunde flüsterte. „Pst“, bekam ich von ihm als Antwort, „die will das Zeugs trinken.“
„Axel Wenzel“, rief Schraube im ruhigen Ton, „kannst du mit der Formel an der Tafel etwas anfangen?“ „Nö“, war meine kurze aber doch verhaltene Antwort. „Wie willst du denn dann die Situation einschätzen?“ „Einschätzen? Also, wenn ich Sie wäre, dann würde ich nicht das trinken, was sie da in Ihrer Hand haben“, war mein Rat. „Du bist mit deiner Bildung keine große Hilfe für uns“, entgegnete Frau Maiwald, die dann in ihre Schultasche griff und eine Eieruhr zum Vorschein brachte. „Sieben, allerhöchstens acht Minuten“ sagte sie tonlos, womit sie den Wecker stellte. Schraube schloss eine Tafelseite, setzte das Glas an ihre Lippen und trank in einem Zug aus. Wir waren zwei Sekunden lang wie versteinert, dann fiel die Maiwald wie ein Sack Mehl zu Boden. „Los, los, kommt mit an das Pult“, rief unsere Superstreberin, und eine wahnsinnige Aufregung wurde entfacht. „Ich hole den Direktor“, verkündete Ulf atemlos, der sich gleich auf den Weg machte. Die Schüler versammelten sich hektisch um den Pult und sahen abwechselnd zu der geschlossen Tafelseite und zu den Fläschchen und Döschen, die mit kleinen Aufklebern gekennzeichnet waren.
Ich blickte auch zur Tafel und sah die Überschrift: „Gegengift!“ Darunter stand eine Formel.
„Nein, das ist es nicht.“ „Sieh noch mal hin!“ „Pass auf!“ „Wie viel Zeit ist noch?“ „ Ich blieb ruhig sitzen, denn ich konnte nichts tun. Ich war mit meinen Kenntnissen keine Hilfe, so wie Frau Maiwald es mir gesagt hatte. Ich versank in Gedanken, so dass ich die Hektik vor mir kaum noch wahrnahm. Ich erlebte das Gefühl, hilflos zu sein. Es war so deutlich. Ich fing an, Schraube in einem anderen Licht zu sehen. „Ihr irrt euch in Frau Maiwald. Sie ist ein Rebell.“ Wie sehr falsch hatte ich sie eingeschätzt. Ich konnte nichts tun, so stand ich auf und ging langsam zu ihrem Wagen. „Schafft es Leute, findet das Gegengift“, sagte ich beim Hinausgehen leise, so leise, dass es bestimmt niemand hörte.
Später erzählte mir Chan das, was ich nicht mehr mitbekommen hatte. Die Klassenkameraden hatten etwas zusammengebraut. Der Direktor kam angerannt. Es blieb ihm aber keine Zeit mehr, das Gegengift zu überprüfen, was Luzie gerade in die Spritze zog. Es dauerte zwei weitere Minuten, bis Frau Maiwald sich wieder regte. Chan sagte, er würde diesen Augenblick der Erleichterung in den Mitschülern niemals wieder vergessen. Der Direktor forderte über sein Handy einen Krankenwagen an. Der war noch nicht da, als ich in die Klasse zurückkehrte. Frau Maiwald saß auf dem Boden an das Pult gelehnt und wurde von zwei Mädchen mit nassen Handtüchern versorgt. Sie sah sehr mitgenommen aus.
Ich weiß, was mein Vater denkt. Es ist mir auch eigentlich egal. Meine Noten sind jetzt besser. Ich hoffe, sie werden sogar noch viel besser werden. Frau Maiwald wurde damals suspendiert. Das ist sehr schade, denn ich möchte gerne, dass sie sieht, dass meine beste Note die Chemienote geworden ist.