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Abstieg
Abstieg
Der Berg! Imposant, majestätisch und furchteinflößend. Deswegen war er hier. Ein weiterer Schritt nach oben. Die Bergwache hatte ihn gewarnt, es würde schlechtes Wetter aufziehen und ihn eindringlich vom Aufstieg abgeraten, da er noch nicht erfahren genug wäre. Aber er – Gottfried Dernhardt – war Manager. Herausforderungen zu bewältigen war sein Job. Außerdem brauchte er diese Abwechslung. Er hatte es mit viel zu vielen dummen Menschen zu tun. Untergebene, die nicht mal die Mindestanforderungen erfüllen konnten. Mit so einer Tour konnte er seinen Kopf freibekommen.
Das Wetter war eigentlich ziemlich gut. Die Wetterfrösche hatten sich wohl geirrt. Der Himmel war blau. Um ihn herum gab es hauptsächlich Wiesen, auf denen vereinzelt noch Kühe grasten. Der Waldbestand nahm jedoch zu und immer mehr weiße Wolken erschienen am Firmament. Der Weg wurde steiler und mühsamer. Dann war er nur noch von Bäumen umgeben. Die Sonne wurde immer öfters auch von dunkleren Wolken bedeckt. Die Strahlen, die den Vorhang durchdrangen, tauchten die Umgebung in ein besonderes Licht. Die Blätter schienen zu leuchten. So stellte er sich immer einen Märchenwald vor. Fast erwartete er hinter der nächsten Biegung eine Elfe mit durchsichtigen Flügeln zu sehen.
Der Manager amüsierte sich über seine eigenen kindlichen Gedanken. Dabei musste er spontan an das Kind denken, dem er letztendlich seine großartige neue Position zu verdanken hatte. Etwas Wind kam auf. Die Kühlung tat gut und er genoss das Rauschen des Waldes. Das Wetter verschlechterte sich zusehends, was allerdings Gottfrieds Entschlossenheit, den Gipfel zu erreichen, nur noch verstärkte.
Der Wind in den Wipfeln klang manchmal wie Flüstern in seinen Ohren. Was war das? Hörte er seinen Namen? Nein, natürlich nicht. Aber er nahm noch mehr wahr: Ächzen von Holz und das Knacken von Gestrüpp. Ihm drängte sich das Bild eines riesigen Tieres auf, das sich seinen Weg durch den Forst bahnte. Schon des Öfteren war er in Wäldern gewesen, aber diese Geräusche hatte er so noch nie zuvor gehört. Unwillkürlich musste er an das letzte Mal denken, als er in einem Wald war.
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Vor einigen Monaten war Gottfried Dernhardt auf einem Managerseminar gewesen. Die Teilnehmer wurden in eine Schonung geführt, mit Tüten voller Müll, den sie verteilen sollten. Das Überwinden falscher Skrupel sollte hierbei das Ziel sein. Gottfried hatte keine Probleme damit. Sie lernten in Rollenspielen die Mängel der Anderen auszunutzen. Bei einer Aufgabe mussten sie sich sogar in einer Schlange vordrängen. Sie sollten den Wert ihres Gegenübers erkennen und so niedrig wie möglich halten. Nur wenn sie reflexartig an ihren Vorteil denken konnten, würden sie das Optimum für ihre Firma herausholen. Wer Schwäche zeigte, würde es nie nach ganz oben schaffen. Gottfried verstand.
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Auf dem Berg frischte der Wind merklich auf. Langsam verließ Gottfried den dichten Wald. Die Böen verursachten nun ein Pfeifen in den steinernen Schluchten und der spärlicher werdenden Vegetation. Manchmal glaubte er auch Klagen zu vernehmen. Er schaute in die Wolken und versuchte beruhigende Formationen zu erkennen, doch er sah nur verzerrte Fratzen. Es begann zu regnen. Die letzten Sonnenstrahlen schienen den nun kahlen Berg zum Glühen zu bringen. Das Leuchten erstarb und es wurde augenblicklich fast stockdunkel. Neben dem Heulen und Klagen des Windes war ein anhaltendes Grollen zu hören, das Gottfried nicht einordnen konnte. Der heftige Regen lief sein Gesicht hinunter und trotz eigentlich wetterfester Kleidung war er bald fast völlig durchnässt. Alles schien sich dagegen zu sträuben, aber er wollte ganz nach oben, denn dort hoffte er Erlösung zu finden. Dieses irrationale Gefühl hatte sich in ihm festgesetzt.
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In der Firma waren Gottfrieds Chefs von seinem Einsatz speziell beim Seminar beeindruckt. Natürlich sagten sie es nicht, aber ihm gegenüber wurde erwähnt, dass es eine freie Stelle als Leiter der Marketingabteilung gäbe. Leider existierte noch ein anderer Bewerber, der von den Qualifikationen her besser geeignet war. Sie ließen durchblicken, dass sie lieber ihn besetzten würden, aber die Eignungen des Anderen ließen sich nun mal nicht ignorieren.
Gottfried rätselte, warum sie ihm den Job in Aussicht gestellt hatten, obwohl er doch gar keine Chance hatte. Aber dann erinnerte er sich an sein Erlerntes. Sie wollten, dass er sich etwas einfallen ließ, was er auch tat und diese Idee konnte er nur als genial bezeichnen.
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Der Gipfel! Pfade gab es schon längere Zeit nicht mehr. Die entstellten Grimassen am Himmel hatten ihm geantwortet. Erst war es unverständlich gewesen, ein Grummeln und Heulen, aber dann fingen sie an von der Befreiung, die auf der Spitze des Berges wartete, zu reden. Gottfried glaubte ihnen. Nun stand er ganz oben. Die Gesichter um ihn herum sahen kindlich aus. Plötzlich spieen sie Feuer. Von allen Seiten. Sie hatten ihn belogen! Er konnte es nicht glauben.
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Der Plan, seinen Nebenbuhler auszuschalten, war einfach: Was würde wohl passieren, wenn ein Kind behauptete, von Gottfrieds Kontrahenten missbraucht worden zu sein? Aber wie brachte er ein Kind dazu, so etwas von einem völlig Fremden zu behaupten? „Es gibt keine Probleme, es gibt nur Lösungen“. Diese fand er im Internet: Ein kleiner Laden, der naturgetreue Masken herstellte. Ein Gag für Partys und andere gesellschaftliche Ereignisse. Kinder sehen – besonders in extremen Situation – nicht so genau hin.
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Fünf Minuten, nachdem Gottfried Dernhardt mehrfach von Blitzen getroffen worden war, starb er auf dem Gipfel – ganz oben.