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Aksaray
Aksaray
Die Erde bebt. Von der getünchten Decke rieseln Staub und Kalk. Meine Großmutter stürmt jammernd in unser Schlafzimmer. Sie trägt meinen Bruder und mich die Wendeltreppe hinunter. Wir kauern uns in einen Hohlraum unter der Treppe. Im Pyjama hocken wir dort. Das Beben verebbt. Das war aufregend, und ist meine früheste Erinnerung im Zusammenhang mit Istanbul. Wow, ein echtes Beben! Ich war sehr jung, aber seitdem liebe ich diese irre Stadt.
In Istanbul leben mehr Irre als ich sie auf der ganzen Welt je gesehen habe, und ich hab viele von der Sorte kennengelernt, das blieb nicht aus.
Man sieht Irre auf den Straßen, die mit sich selbst reden. Sobald dies jemand Normales bemerkt, denkt dieser, der Irre wolle sich mit ihm unterhalten. So entspinnt sich eine lautstarke Unterhaltung, voll ausufernder Gestik. Der Irre gestikuliert und redet mit sich selbst. Der Normale redet, währenddessen ebenfalls gestikulierend, mit dem Irren, ohne zu bemerken, dass der Irre nur mit sich selbst beschäftigt ist und im übrigen gar nicht bemerkt, dass mit ihm geredet wird. Türken hören sich am liebsten selbst beim reden zu.
Da gibt es die authentischen istanbuler Bastarde, die kennen die ganze Stadt, was praktisch unmöglich ist. Sie wissen zumindest wo man hin kann und welcher Kodex dort herrscht. Sie beherrschen jeden Dialekt, der in der Stadt gesprochen wird, was ebenfalls praktisch unmöglich ist. Sie sind Sprachkünstler. Meister der Straßenrethorik. Sie kennen jede dreckige Tour.
Ich hab einen Onkel, auf den trifft diese Beschreibung am besten zu. Er ist im Grunde nicht mein Onkel. Onkel Selcuk ist der geschiedene Ehemann der Tochter der Schwester meiner Oma mütterlicherseits, und er ist Vertreter von Kosmetika.
Mit ihm bin ich in Aksaray, ein quirliger Stadtteil von Istanbul, durch die Straßen gezogen, als 300 Meter von uns entfernt eine Bombe in einer öffentlichen Toilette explodierte. Es zerriss einem Mann das Hinterteil. Den meisten Passanten war dieses Ereignis nicht mehr als ein Blick wert. Mein Onkel sagte nur, „Die Hitze“, und grinste schmal.
In einer Zwölfmillionenstadt kann es viele Urheber solcher Attentate geben. Bombenirre halt. Linke wie rechte Terroristen. Fundamentalisten oder Separatisten. Die Toilettenmafia oder eine Todesschwadron. Ausländische Geheimdienste, oder der eigene, MIT genannt. Eine Blutfehde, wohl möglich. Ein Mensch vielleicht, dem die Hitze nicht gut tut. In der Türkei ist das Leben noch spannend und unberechenbar.
Mein Onkel Selcuk wohnt in Aksaray, weil es dort billig ist. Nicht günstig, billig. Aksaray ist fest in kurdischer Hand. Auf den Straßen herrschen die kurdischen Dialekte. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, an Alkohol zu kommen, dafür aber bekommt man an jeder Ecke rohe, scharfe Frikadellen angeboten.
Wenn im Fernsehen ein Spiel der Fußballnationalmannschaft übertragen wird, beginnt in seiner Wohnung und in allen anderen Wohnungen, die der Hauptstraße zugewandt sind, das Möbelrücken. Der Esstisch, an dem man noch gemütlich bei einem eisgekühlten Raki am Fenster saß, wird dann in die Küche getragen, danach der nervtötend laut mitlaufende Fernseher. Schließlich wird der abendliche Besuch in die Security-area gebeten, es wird Obst gereicht und in die Nacht gelauscht.
Nach jedem Spiel der Nationalmannschaft, gewonnen oder nicht, feiern türkische Fußballfans in den Straßen Aksarays. Mit wehenden türkischen Fahnen wird in den Straßen Kurdistans, im Herzen Istanbuls, der nationale Fußballstolz abgefeiert. Eine unglückliche Mischung.
Ein fataler Umstand, eine Eigenart türkischer, oder um genau zu sein orientalischer Feiercharakteristika kommt hinzu. Hat man einen Grund zum Feiern, greift man in die Schublade, holt das alte Schießeisen, oder die alte Flinte hervor, und feuert in die Luft. Irgendwie ist das cool, aber auch riskant. Der eine oder andere beherrscht seine Waffe...nun, gar nicht. Wie man es von jemanden erwartet, der Nachts alkoholisiert durch die engen Straßen einer Mega - Stadt mit allerlei ethnischen Problemen wankt, die türkische Flagge wehen lässt und in die Luft feuert. So manche verirrte Kugel ging in der Vergangenheit durch das Fenster einer Küche, oder eines Wohnzimmers in Aksaray. Es gab einige Todesopfer des Fußballhooliganismus beim Abendessen. Oder beim gen Mekka beten.
Vor der Halkbankasi, am Ende der Straße, stehen Polizeiwagen. Ich kann ein Loch im Panzerglas erkennen.
Mein Onkel lacht aus vollem Hals und deutet auf einen Mann mit einer idiotisch bunten Wollmütze, der auf einen verzweifelten Polizisten einredet.
„Seht ihr den da? Das ist der „Bankirre“. Jedesmal wenn er Geld abheben will, ist die Bank geschlossen. Er kommt immer Sonntags. Jedesmal hat er eine Spitzhacke dabei, und wird wütend, weil die Bank geschlossen ist. Er schlägt alles kurz und klein. Der Mann ist klasse, sag ich euch. Ganz nach meinem Geschmack.“