Alltag
Heute regnet es. Es regnet ziemlich stark, aber das macht Markus nichts. Trotz allem macht er sich wie jeden Morgen bereit, steigt auf sein Fahrrad und fährt zur Schule. Seine Mutter sagt ihm, er solle den Fahrradhelm aufziehen. Den mag Markus gar nicht. Aber er zieht ihn trotzdem auf. Er muss es ja. „Sicher ist sicher,“ sagt seine Mutter immer. Auf seinem Weg zur Schule muss Markus immer wieder über den Vorfall von gestern nachdenken. Warum hat er seiner Mutter nichts gesagt? Markus hat Angst, möchte sie aber niemandem zeigen. Die vielen Autos ziehen an ihm vorüber, während er den Fahrradweg neben der Hauptstraße entlang fährt.
Als Markus an der Schule ankommt, schiebt er sein blaues Fahrrad, er hat es von der Großmutter zur heiligen Kommunion bekommen, schnell zu den Fahrradstellplätzen. Er schließt es ab und geht die schmutzigen Betonstufen, die auf den großen Schulhof führen, hinauf. Schon von weitem sieht Markus am anderen Ende der Mauer, die den Schulhof von einem zweiten abgrenzt, eine Gruppe Jugendlicher, nicht älter als fünfzehn Jahre. Sie rauchen und aus dem Mund des dünnen Jungen, er ist der größte von ihnen, zieht der weiße Qualm hinter die Gruppe ab. Der Junge hat blondes Haar, das gleiche blonde Haar, wie es Markus trägt. Es ist in der Mitte zu einem glatten Scheitel gegelt und er trägt ein schwarzes Kapuzensweatshirt. Er lacht, denn scheinbar hat einer der Jugendlichen einen Witz erzählt. Der große Blonde zieht noch einmal an der Zigarette, und während er sie ein zweites Mal an seinen Mund führt, wendet er sich ein wenig und erblickt Markus am anderen Ende der von Moos bedeckten Mauer. Er pustet den Qualm in die Luft und mit einem gezerrten Lächeln bewegt er sich auf Markus zu. Die Gruppe schaut ihm nach.
Markus sieht, wie der Junge durch den Nieselregen immer weiter auf ihn zukommt. Er hat Angst. Wieder muss er an gestern denken. Es ist der selbe Junge, die selbe Situation. Markus scheint am Boden festgewachsen zu sein. Der große Blonde kommt immer näher, und immer größer wird die Angst, die durch Markus` Körper wie ein Blitz zuckt. Markus traut sich nicht, wegzulaufen. Starr bleibt er stehen, als sich der große Blonde vor ihm aufbaut und seinen Zigarettenstummel mit den zerschlissenen Turnschuhen ausdrückt. Mit angsterfülltem Blick schaut Markus hinauf in das Gesicht des Jungen.
„Na, kleiner, was gibt´s denn heute?“ Die Stimme des Großen klingt rau und sie ist begleitet von Ironie und Sarkasmus. „Das gleiche wie gestern?“ Der große Blonde grinst. Durch seine Worte fühlt sich Markus noch kleiner, als er es schon ist. Doch seine Angst wird immer größer. Endlich bringt er ein Wort über seine bibbernden Lippen. „Ja. Hier.“ Das Sprechen kostet ihm große Mühe und Anstrengung. Er ist zu schwach gegen den großen, fast übermächtig erscheinenden Jungen. Er greift in seine Tasche. Langsam zieht er seine Hand wieder heraus, fest umschlossen hält er das Zwei-Euro-Stück, das ihm die Mutter am Morgen gegeben hat, in seiner rechten Hand. Er schwitzt. „Du sagst niemandem ein Wort, sonst passiert etwas!“ Markus zuckt zusammen, als er die Worte des Großen hört. Rasch nimmt dieser ihm das Geldstück aus der Hand. Markus schaut dem Jungen hinterher, der sein Geld, er sollte sich einen Kakao und etwas zu Essen kaufen, in die Luft wirft und wieder auffängt. Sein Blick scheint wie in Beton gemeißelt. Markus wird niemandem etwas erzählen. Was solle er denn machen, fragt er sich innerlich. Aber eines Tages ist auch er groß.