Als Garry weinte
Garry saß auf einer alten Bank, die einmal aus Holz gezimmert wurde, nun aber schon zu Stein erstarrt und mit Moos bewachsen war. Hinter ihr tat sich ein riesiges Gebäude aus Bäumen und Sträuchern auf, das keinerlei Blicke in sein Innerstes erlaubte. Garry stellte sich vor, wie dunkel alles darin aussehen könnte. Dunkel und mit Furch erfüllt, vielleicht auch stickig. Niemand hatte ihr jemals das Paradies gezeigt, welches sich hinter der Bank aus Stein verbarg.
Sie weinte leise. Niemand, bis auf die Bäume, konnte es hören. Von Zeit und Zeit vergrub Garry ihr zartes Gesicht in ihre Hände. Dann war nur noch ein bitteres, verborgenes Wimmern zu hören.
Nach einiger Zeit – die Sonne neigte sich schon dem Horizont zu und brachte die Berge zum Glühen – kam eine riesige Gestalt aus dem Wald heraus. Zuerst hörte es sich an, als würde ein Elefant sich seinen Weg durch die Baumriesen frei schlagen. Dann jedoch verwandelte sich das Geräusch in ein lautes Trampeln. Ein hölzernes Atmen wurde hörbar. Garry schaute nicht auf. Sie war vollkommen in einer Welt aus Trümmern und Schmerz gefangen und bemerkte nichts von dem, was um sie herum vorging. Für sie hatte die Zeit keine Bedeutung mehr. Die riesige Gestalt setzte sich ebenfalls auf die nun steinerne Bank. Das Material gab etwas nach und brach leicht, Risse wurden sichtbar. Das hölzerne Atmen verwandelte sich in ein Brummen. Die Gestalt hob ihren riesigen Arm und legte ihn um Garrys Schultern. Ihr winziger Körper schien unter der Last brechen zu wollen, doch die Gestalt gab Acht, dass so etwas nicht passierte. Erst jetzt sah Garry hoch, bemerkte die Gestalt und zuckte zusammen.
„Wer bist du?“, fragte sie mit heiserer Stimme.
„Ich bin aus dem Wald“, sagte die Gestalt. „Mein Name ist Pom.“
Garrys Augen vergossen keine Tränen mehr. Sie war fasziniert von ihrem Nebensitzer und so vergaß sie für einige Augenblicke all den Schmerz, den sie mit sich herum trug.
„Was bist du?“
„Siehst du das nicht?“
Garry schüttelte den Kopf. Sie sah es, konnte es aber nicht glauben.
„Dann ist es auch nicht wichtig. Sag mir, Menschenkind, wieso weinst du? Wieso ist dein junges Herz so voll Kummer?“
Mit dieser Frage brach alles erneut auf Garry ein. Der Staudamm der Faszination, den sie vorher aufgebaut hatte, wurde hinweg gerissen. Sie begann erneut bitter zu weinen, so, dass sich all die Pflanzen und Tiere mit gebrochenem Herzen abwandten.
„Das kann ich dir nicht sagen“, schluchzte sie.
„Wieso nicht?“, fragte Pom.
Es war nun so dunkel, dass man nichts mehr sah. Die Sonne hatte sich verabschiedet; es schien, als wäre sie ebenfalls vor Garry Weinen geflohen.
„Ich habe einen schlimmen Fehler begangen.“
Das Weinen wurde etwas lauter. Pom drehte seinen Kopf weg von dem kleinen Mädchen; er konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er den Kopf Garry wieder zuneigte. Sie saß nun zusammengekrümmt unter seinem Arm. Er spürte die Erschütterungen ihres zarten Körpers und er wollte etwas tun, wollte ihr helfen, aber er wusste nicht wie.
„Sag mir doch einfach, was passierte. Vielleicht kann ich dir helfen.“
Seltsamerweise erweckte Poms hölzerne, tiefe Stimme plötzlich Vertrauen in Garry. Sie dachte sich, dass er ihr tatsächlich helfen könnte. Sie wollte ihn um Verzeihung bitten, denn er schien der einzige für sie zu sein, der die Entschuldigung entgegen nehmen konnte.
„Ich habe…“, schluchzte sie bitter. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Heute Mittag machte ich einen Spaziergang durch euren Wald.“
„Das weiß ich“, sagte Pom. „Ich habe dich gesehen. Aber das ist doch nicht der Grund für deine Gefühle?“
„Nein“, sagte Garry. „Ich ging durch den Wald, es war ein so wunderschöner Tag, und da entdeckte ich ein kleines Ei. Es lag vor mir auf dem Boden. Ich hob es auf und blickte mich um, konnte aber nicht die Eltern des Kleinen entdecken. Ich wartete stundenlang auf sie, aber sie kamen nicht.“
Wieder begann sie Tränen zu vergießen. Dieses Mal so heftig, dass sie kaum mehr ein Wort heraus brachte.
„Und dann“, ergriff Pom das Wort, „hast du es mitgenommen, stimmts?“
Garry nickte.
„Ja. Ich habe es in meine Tasche gesteckt und wollte nach hause laufen. Aber dann, dann…“
„Ist etwas Schlimmes damit passiert?“
„Ja.“
„Und was?“ Pom versuchte Garry mit seinem riesigen Arm zu streicheln. Als ihr Körper etwas heftiger von links nach rechts gezogen wurde, lies er es bleiben.
Garry sah ihn an und schüttelte den Kopf. Sie sagte ihm ohne Worte, dass sie es nicht erzählen könnte und er verstand es, denn er bemerkte ihren Schmerz. Er konnte auch kaum übersehen werden.
Pom sah zu den hohen Bergen, die jetzt nur von dem Mond erleuchtet wurden. Sie sahen so einsam aus, so verlassen und weit entfernt. Er war nie dort gewesen, denn dort wuchsen keine Bäume. Nur einige Tiere lebten auf ihnen. Von ihnen erfuhr er, dass es wunderschön sein musste, von dort umher zu blicken.
Und so nahm Pom Garry in die Arme. Sie war zu überrascht um etwas dagegen zu sagen. Er setzte sie auf seine Schulter und zusammen gingen sie los, direkt auf die dunklen Berge zu. Es dauerte nicht allzu lange, da waren sie beinahe oben. Pom machte riesige Schritte und da Garry immer noch weinte und erneut in ihrer schmerzenden Welt gefangen war, bemerkte sie nicht, wie lange es tatsächlich gedauert hatte. Als sie die Augen aufmachte, sah sie ein fast unendliches Tal vor ihren Füßen. Sie konnte undeutlich Wälder, Wege, Häuser und Wiesen erkennen. Und obwohl sie kaum etwas wirklich sah, spürte sie das Gefühl der Weite; und das machte sie noch trauriger.
Pom war verzweifelt. Nun wusste er nicht mehr weiter. Wieder standen sie eine lange Zeit da, er stumm und sie weinend. Dann setzte er Garry auf den Boden. Er selber blieb stehen.
„Bitte, Kleine, sag mir was mit dem Ei passierte.“
Garry sah ihn wieder an. Ihre Augen schienen leicht zu leuchten.
„Er kann das Gefühl, welches ich jetzt habe, nicht mehr erleben. Er wird nie fliegen lernen und er wird nie eigene Vögelchen bekommen, denen er bei ihrem Flug zusehen kann. Das ist passiert.“
Pom bewegte leicht seinen Kopf von oben nach unten, was einem Nicken gleichkam.
„Du hast es aus Versehen zerstört.“
„Ja. Ich fiel hin, denn ich rannte, vor Glück und Freude über das Ei, und stolperte dann über einen Stein. Und das Ei zerbrach. Ich spürte es warm unter meinem Kleid. Ich spürte, wie sein Inneres hinab lief an mir und ich konnte nichts dagegen tun. Ich rannte zu einem Fluss und sprang hinein und alles fiel von mir herab. Aber ich sah nicht hin, denn ich wollte die Reste nicht den Fluss hinab schwimmen sehen. Und dann bin ich zu der Bank gegangen und habe mich hingesetzt. Ich habe es umgebracht.“
Pom atmete tief ein und dann wieder aus.
„Mach dir keine Vorwürfe, Menschenkind. Uns allen passiert so etwas. Es war nicht deine Schuld. Du wolltest nur helfen, deine Absichten waren somit ehrenhaft. Dass das kleine Vögelchen nie das Fliegen lernen wird, das schmerzt. Aber der Schmerz wird vergehen.“
Pom beugte sich so gut es ging zu Garry herunter und umarmte sie. Sie schluchzte unter seinen Armen und er hob sie in die Luft, so hoch er es vermochte.