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Am Feldrand
Am Feldrand
Dunkle Sturmwolken verzogen sich und machten der Sonne Platz, die schon ganz warm ihre Strahlen zur Erde zwischen den Rübenfeldern sandte.
Einen Menschenfuß breit neben einem asphaltierten Feldweg hob sich ein winziger Brocken Schlamm. Zwei Mal fiel der kleine Erdklumpen zurück an seinen Platz, bevor er sich ein drittes Mal hob und der rosa-braune, vor Nässe glänzende Kopf eines Regenwurms zum Vorschein kam. Prüfend schien der Wurm, der vom einsickernden Regen aus dem Boden gelockt worden war, die feuchte Luft in alle Richtungen zu schmecken, bevor er seinen im Sonnenlicht glitzernden Körper nachzog und mit einem nur für Regenwürmer hörbaren "Plopp" schließlich ganz ins Sonnenlicht kroch.
"Wie herrlich!", dachte er und streckte sich wohlig auf seine ganze Wurmlänge.
"Es muss wohl bald Sommer werden, so wunderbar, wie die feuchtwarme Welt sich anfühlt! Heute habe ich richtig Lust, auf Entdeckungsreise zu gehen. Mal versuchen, wie der Matsch dort hinten schmeckt!"
Und schon war der kleine Regenwurm unterwegs. Stück für Stück zog er seinen Körper vorn zusammen, streckte sich hinten, streckte sich vorn und kam so Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Dort, wo er kroch, hinterließ er eine wurmdünne, schnurgerade Spur im Schlamm, in den der Regen den trockenen Feldboden verwandelt hatte. So fröhlich, wie ein Regenwurm nur sein kann, zog und streckte der Wurm sich unternehmungslustig durch seine lehmige Welt, bis er plötzlich innehielt. Der Boden wackelte! Und irgendetwas begann in der Ferne dumpf zu dröhnen!
Der Wurm konnte den riesigen Traktor, der sich donnernd näherte, nicht sehen, aber er fühlte, dass er sich in großer Gefahr befand! Verzweifelt versuchte er, sich wieder in den sicheren Boden zu wühlen, doch er war inzwischen in einer Matschpfütze auf den befestigten Feldweg geraten und schon nach wenigen Augenblicken musste er aufgeben, weil der steinharte Asphalt ihn nicht nach unten ins Erdreich durchließ. Er wusste keinen anderen Rat, als sich ganz still und reglos zu verhalten, als das Geräusch immer lauter wurde. Etwas Riesiges wühlte gleich neben ihm den Schlamm auf, zog brüllend vorbei und verschwand wieder leiser werdend in der Ferne.
Schreckensstarr blieb der kleine, rosafarbene Wurm noch eine lange Zeit still liegen. Er wagte nicht, sich auch nur eine Wurmbreite vom Fleck zu rühren. Im Sonnenlicht dampfte die Pfütze, in der er lag und plötzlich fühlte er, wie die für ihn lebenswichtige Feuchtigkeit von der Sonne mehr und mehr aufgetrocknet wurde. Er musste dringend weg hier! Doch schon merkte er, dass der Boden um ihn herum ganz hart geworden war und er seinen Wurmkörper kaum noch bewegen konnte! Zu allem Unglück wackelte schon wieder der Boden, sicher kam wieder eine furchtbare Gefahr heran!
Regenwürmer haben zwar keine Augen, Ohren aber schon, und so hörte der Wurm Kinderlachen und lautes Rufen: "Guck mal, Papa, ich habe einen Regenwurm auf dem Weg gefunden, aber der ist ziemlich ausgetrocknet!" Fast schon ohnmächtig hörte der kleine Wurm eine andere, erwachsenere Stimme: "Komm schon, wirf ihn wieder aufs Feld, vielleicht kannst du ihm damit das Leben retten!" Und schon fühlte der Wurm sich gepackt und durch die Luft geschleudert. Unsanft, aber lebendig, landete er weit im Feld neben einer dicken Futterrübe in einer feuchten Ackerfurche. Dort hatte sich noch ein wenig Regenwasser gesammelt und aufatmend ringelte er sich zusammen, ruhte sich ein wenig aus und grub sich mit schwindender Kraft in den nassen Feldboden.
Mit dem letzten Stückchen Wurm-Hinterteil winkte er den Menschen auf dem Weg drüben einen Dankesgruß zu, bevor er im Schlamm verschwand. "Vielleicht", dachte er dort unten im sicheren, feucht-dunklen Erdreich, "haben sie es ja sogar noch gesehen ..."
Susafee 2004