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Arsen-Blues
Leise quietscht der kaputte Rollladen im Wind.
Das Geräusch erinnert mich an Kindertage, an die Schaukel in unserem Garten. Tage voller Lachen. Voller Leben.
Jetzt bedeutet es nichts mehr. Jetzt ist es nur noch ein kaputter Rollladen. Ein totes Geräusch in einem toten Zimmer.
Das einzig Lebendige sind die Erinnerungen. Doch sie vermischen sich mit Bildern aus den Alpträumen, die wie eine Wolke unter der rissigen Decke des Apartments hängen.
Vermischen sich, verdunkeln sich, sterben.
Grau in grau, so fließt die Gegenwart über mich, drückt zäh auf zerschlissene Kleidung, nimmt mir die Luft.
Vergilbte Bilder an den Wänden heben sich von der Tapete ab, stumme Zeugen, dass es ein Leben vor diesem Nichts hier gab.
Ich schaue sie nicht an, schaue nicht in die Gesichter längst vergangener Menschen. Zuviele Vorwürfe sehe ich darin, zuviel Wut.
Irgendwie muss ich mir die Zeit des Wartens vertreiben, denn an irgendetwas muss ich mir klarmachen, dass die Zeit überhaupt voranschreitet.
Keine Uhr gibt es in diesem Zimmer, das mein Grab sein wird. Es scheint, als wäre man hier zeitlos, hoffnungslos gefangen, verdammt dazu, in Ewigkeit in diesem toten Unraum zu verweilen, kaum realer als der Hauch einer Geisterhand.
Und so fange ich an zu singen. Heiser kommen die Töne vergessen geglaubter Lieder über meine Lippen. Lieder, die kurz den Schmerz vertreiben, die Scham nehmen.
Doch meine Stimme klingt verloren. Sie ist viel zu dünn, um diesen Raum mit Leben zu füllen. Vielleicht auch schon zu tot?
Langsam steigt Übelkeit in mir auf, das erste Symptom laut der Beschreibung im Lexikon.
Nun kann es nicht mehr lange dauern, bis die Taubheit kommt, gefolgt von der Atemnot, die der wirklich unangenehme Teil werden wird. Ich singe weiter.
Ich kann meine Zehen nicht mehr spüren. Ebenso meine Hände. Nur ihr vertrautes Gewicht auf meinem Bauch sagt mir, dass sie noch da sind. Bis vor nicht allzu langer Zeit hat noch ein anderes Gewicht auf diesen Bauch gedrückt. Ihn von innen gewölbt, von außen kaum zu sehen, aber schon spürbar. Ich singe weiter.
Ein leises Pochen gegen meine Schläfen. Ein Zeichen der fortschreitenden Vergiftung oder nur ganz gewöhnlicher Kopfschmerz? Ich will es nicht wissen. Will nicht darüber nachdenken, denn der regelmäßige Schmerz erinnert mich an das Pulsieren auf den Ultraschallbildern. Ich singe weiter.
Das Luftholen wird schwerer. Ich singe weiter.
Muster tanzen vor meinen Augen. Endlich Farben. Ich singe weiter.
Die Muster werden greller, beschwören Erinnerungen herauf.
Neonlicht. Weiße Flure. Ärzte, die mich ernst anschauen und nach Dienstschluss vergessen. Eine Unterschrift, die wochenlanges Abwägen beendet und nicht nur mein Schicksal besiegelt. Ich singe weiter.
Ich höre meinen Herzschlag in meinen Ohren während ich nach Luft ringe. Mein Hals schnürt sich zu. Die Erinnerung an seine groben Hände will sich in mein Bewusstsein kämpfen. Ich höre meine Stimme nicht mehr, alles wird übertönt von einem lauten Rauschen. Ich sehe nichts mehr. Ich spüre nichts mehr.
Das Sterben beginnt.
Und ich singe einfach weiter.