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Auf der Suche nach dem alten Europa

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23.10.2004
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Auf der Suche nach dem alten Europa

Auf der Suche nach dem alten Europa
-Ein Reisebericht


Mein ganzes Leben lang hatte ich danach gestrebt, jeden einzelnen Tag in vollendeter Freiheit genießen zu können, denn nur so fühlte ich mich als wirklicher Mensch.
Nachdem mir mein zweiter ,großer literarischer Erfolg gelungen war, konnte ich endlich meinen Lebensentwurf verwirklichen.
Sofort beendete ich meine Laufbahn als Lehrer an einem Gymnasium und zog in die Nähe von Spaichingen, fort von fast allen Menschen, für deren Mehrheit ich nichts weiter als Hass empfand. Ich sah mich nicht mehr im Stande , in einer Gesellschaft zu leben, welche den Genius derart verschmähte, in der die Menschen ihre Bindung zur Natur völlig verloren hatten und die alten Werte beinahe nichts mehr galten.
Nun konnte ich mich meiner Lebensaufgabe widmen:
Durch meine Kunst wollte ich die Menschheit wieder an ihre ursprünglichen Ideale erinnern, und so die Welt verändern.
Über gut drei Jahre hinweg hatte ich dabei den gleichen, selbst auferlegten Tagesablauf: Ich frühstückte ausgiebig, arbeitete anschließend an meinen Werken, dem folgte ein kleiner Konditionslauf, den ich aus Angst vor einem frühen Tod absolvierte, da ich mir durch das Laufen die Erhaltung der Gesundheit erhoffte. Gegen Abend lauschte ich den Klängen von Schubert und vor allem von Beethoven, bevor ich mich dann dem Schlaf hingab.
Doch als ich eines Morgens aufwachte, es war im Mai, schien mir mein Gemüt merkwürdig verändert. Plötzlich war alles in Frage gestellt.
Was hatte ich erreicht? War die Welt durch mich wirklich besser geworden?
Ein Blick in die Tageszeitungen gab mir eine eindeutige Antwort:
Gewalt, Tod, in Deutschland, in Europa, und Krieg in der ganzen Welt.
Dabei hatte ich doch die von mir erträumte Stellung eines weitbekannten Schriftstellers erreicht. Von dieser Position aus wollte ich wirken.
Aber alle meine Ziele hatte ich verfehlt. Was also war zu tun?
Völlig sinnlos erschien mir das Arbeiten an weiteren Werken. Ich fühlte mich leer und einsam. Nach langem Nachdenken wählte ich einen Ortswechsel als Lösungsansatz für mein Problem. Da ich seit meiner Kindheit eine tiefe Sympathie für England hegte, kam für mich nur ein Reiseziel in Frage – London.
In dem Königreich, das in der Geschichte immer vor allen anderen technische Neuerungen aufgegriffen und umgesetzt hat, die sich erst danach in ganz Europa ausbreiteten, wollte ich verlorengegangene Traditionen wiederentdecken.
Bevor ich in das geliebte Land aufbrach, besuchte ich ,anlässlich des fünfundsiebzigsten Geburtstages meines Vaters, die Familie in
Nordrhein- Westfalen. Sogleich darauf aber begann meine Reise.
Während der Fahrt nach Calais hatte ich viel Zeit, um meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Ohne Hindernisse passierte ich drei Grenzen, alles schien so ähnlich, einzig durch blaue Schilder wurde ich daran erinnert, dass unter Brüdern doch noch Unterschiede bestanden, und den Menschen in Europa unter dem Mantel einer wärmenden Mutter eine wunderbare Vielfalt gegeben ist.
Schon oft hatte es mich verwundert, welch ungeheure Bedeutung dabei den kleineren Ländern zu Teil wird. Brüssel, Maastricht, Den Haag. – Viele Geschehnisse, die sich dort zugetragen haben, sind Meilensteine in der jüngeren Geschichte, die dort ansässigen Institutionen wichtige Stützen eines stabilen Europas. Und doch, selbst im Verbund mit ihren direkten, großen Nachbarn, reicht die Kraft nicht aus, um einen über alle thronenden Alleinherrscher auf den Weg der Vernunft zu führen.
Als ich im Hafen angekommen war, spürte ich in mir die immer größer werdende Aufregung. Was würde mich wohl erwarten, auf der „Insel“ ?
In Phantasien versunken saß ich bald an Deck, der Wind zerzauste mein Haar, völlig umsonst hatte ich mir meinen Mittelscheitel gezogen, das Pfeifen des Windes verhinderte den dringend benötigten Schlaf. Doch das Erscheinen der Mutter allen Lebens am leicht bedeckten Himmel ließ mich dies alles vergessen.
Und da! -Am Horizont erblickte ich das Festland.
Nun gesellten sich auch andere Passagiere zu mir, Schulklassen auf ihrer Abschlussfahrt, Familien, Geschäftsleute. Sehnsüchtig warteten sie alle darauf, das Meer endlich hinter sich zu bringen ,um so schnell wie möglich das Jeweilige zu unternehmen, für das sie angereist waren.
Und ich? Die Ungewissheit war inzwischen einer Furcht gewichen. Ich wusste nicht recht, ob mein Geist in London wirklich gut aufgehoben war.
Mehr ängstlich als bestimmt, und ganz und gar nicht feuertrunken, betrat ich mein Heiligtum, England.
Doch ich legte meine Nervosität immer weiter ab, je näher ich der pulsierendsten Metropole Europas kam. Als ich mein Hotel erreichte, erfüllte mich schließlich eine unendliche Erleichterung. Nach ein paar Stunden im Reich der Träume und einer kleinen Stärkung machte ich mich auf, um jene weltberühmte Bauwerke endlich aus der Nähe zu betrachten.
Am Buckingham-Palast verwandelten fotografierende Touristen das Denkmal der Monarchie in einen Vergnügungspark. Kopfschüttelnd lief ich weiter bis zum Parlamentsgebäude, wo Big Ben gerade drei mal schlug.
Kriegsgegner auf der gegenüberliegenden Grünfläche zeigten mir deutlich, wie wenig wert der Wille des Volkes ist im britischen Regierungssystem.
Ich fragte mich, ob das hier praktizierte Vorgehen bei der Entscheidungsfindung mit den Grundwerten Europas vereinbar war.
Bis zum Abend verweilte ich in der Innenstadt, und wurde überwältigt von wunderschönen Plätzen, aber auch vom dichten Verkehr und einer unglaublichen Menschenmasse, die ich, als Kind der Provinz, überhaupt nicht gewohnt war. Indem ich eine der vielen Parkanlagen aufsuchte, konnte ich mich dieser dissonanten Symphonie der Schritte glücklicherweise oft entziehen. Doch weil meine Füße sehr schmerzten , war ich gezwungen, einen Teil des Weges zurück zum Hotel mit der U-Bahn zu bewältigen. Die hohe Geschwindigkeit der Züge erwies sich dabei als großer Vorteil, jedoch war die Luft in den Waggons äußerst stickig und heiß. Dies wiederum wurde von einer emotionalen Kälte mehr als ausgeglichen:
Niemand schaute seinem Gegenüber in die Augen, nur wenige sprachen miteinander, und der Vorgang, in dem jemand aufstand , um einem älteren Mitmenschen seinen Platz zu überlassen, war so selten wie die Situation, dass zwei nebeneinander sitzende Fahrgäste der gleichen Herkunft waren.
Völlig erschöpft viel ich spät ins Bett , und trotz allem, was in dieser Stadt meiner Seele wehtat, freute ich mich sehr auf den folgenden Tag, denn ich hatte mir einen Besuch im Wachsfigurenkabinett vorgenommen.
Aber auch dort wurde ich zunächst sehr enttäuscht. Hatten es diese Personen wirklich verdient, hier verewigt zu werden? Was hatten sie denn geleistet? Die meisten von ihnen waren Schauspieler, beliebig ersetzbar in modernen Drehbüchern.
Doch als ich einen zweiten Saal betrat, fühlte ich mich mit meinen Brüdern vereint. Hier gab es die Nachbildungen der wahren Meister.
– Beethoven, Mozart, Picasso, Van Gogh-
All die großen europäischen Künstler, zu denen auch ich eines Tages zählen könnte, wenn die Zeit meinem Namen gewährt, in die ewigen Bücher aufgenommen zu werden.
So wie ihr Schaffen für alle Zeiten lebendig sein wird, so unbeweglich und stumm gaben sich die selbst ernannten Erlöser von einer dunklen Bedrohung, die bei einer Pressekonferenz dargestellt wurden.
Nachdem mir die Grausamkeiten der letzten Jahrhunderte vorgeführt wurden, durch zu Tode gefolterte Verbrecher oder den guillotinierten Köpfen von Danton und Marie Antoinette, folgte zum Abschluss eine Reise durch die ereignisreiche Geschichte Londons. Charles Dickens begegnete mir, und William Shakespeare, der unaufhörlich den Satz „To be or not to be“ wiederholte. Dieser Mann schuf derart viele wunderbare Werke, und heute wird seine Hinterlassenschaft nur auf einen Ausspruch reduziert. Entwürdigend.
Im Kaufhaus „Harrods“ traf ich auf einen ähnlichen Fall eines solchen Missbrauchs der Kunst. Während ich die durchaus elegante Kleidung und die geheimnisvoll schimmernden Schmuckstücke betrachtete, klang aus den Lautsprechern Schuberts berühmtes Forellenquintett, sozusagen als akustischer Kaufanreiz. Die Aussageabsicht des Komponisten, die ungeheure Bedeutung jeder einzelnen Note schien niemandem wichtig zu sein. Und so ging ich wieder hinaus mit der Gewissheit, dass die aus Fassaden bestehende Welt der Reichen nicht die Meinige war. Zufällig hörte ich vor dem Gebäude, wie zwei Frauen sich heftigst darüber stritten, welche von drei goldenen Ketten im Kombination mit einem blauen Kleid denn nun am vorteilhaftesten wirken würde. Was wird wohl der Jugendliche gedacht haben, der nur fünf Meter entfernt auf dem Boden saß und ein Papierschild hochhielt mit der Aufschrift „Homeless. Hungry. Help me.“ ?
Vor allem aufgrund dieser Gegensätze in der Lebensqualität begann ich , Englands Hauptstadt langsam zu verabscheuen. Zudem war die von mir so hoch geschätzte „feine, englische Art“ hier nicht mehr zu finden.
So beschloss ich, am nächsten Tag jene Stadt aufzusuchen, in der Werte wie Wissen, Stil und Tradition einen derart herausragenden Stellenwert besitzen wie wahrscheinlich nirgendwo sonst in ganz Europa – Oxford.
Ich malte mir aus, dort eine Art Quelle der Inspiration vorzufinden, denn schließlich hatte Tolkien an diesem Ort sein Jahrhundertwerk „Der Herr der Ringe“ verfasst. Wenigstens aber wollte ich einige Gespräche führen, mit Professoren, oder den Studenten, Großbritanniens Hoffnung für eine glorreiche Zukunft.
Nachdem ich mir ein wenig die Stadt angeschaut hatte, sprach ich tatsächlich mit einigen Leuten von der Eliteuniversität. Bedingt durch meine bescheidenen Englischkenntnisse konnte ich mich aber nur sehr mühsam auf einem angemessenen Niveau mit den Personen unterhalten.
Doch eine elitäre und arrogante Haltung war allen anzumerken. Gegenüber diesen Menschen ist mein Kopf voll tiefster Abneigung gewesen.
Das waren sie also, die Besten der Besten aus Europa auf ihren jeweiligen Gebieten.
„Mit ihrer Sichtweise“, so dachte ich, „werden sie niemals der gesamten Menschheit helfen können.“
Düstere Gedanken an eine bevorstehende Zeit, in der das einfache Volk völlig vergessen wird ,begleiteten mich auf der Rückfahrt nach London.
Dort bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass sich mein Geist von diesen Vorstellungen nicht hatte befreien können. Im Gegenteil. Mein Gemütszustand war noch bedrohlicher geworden.
Als ich dann in der anbrechenden Dunkelheit auf der Towerbrücke die Themse überqueren wollte, erschien mir selbst mein eigenes Leben völlig wertlos.
„Oh lieber Vater, der über Sternen wohnt“, wisperte ich, „warum handelst du so grausam, und sendest eine Seele wie meine in solch eine Zeit, in der sie sich nicht heimisch fühlt ?“ Ich wollte meinen ganzen Leiden für immer ein Ende setzen. Zu schwer war die unendliche Last der schrecklichen Welt. Ich beugte mich nach vorn und fuhr laut fort: „So kehre ich nun unverrichteter Dinge zu dir zurück. Mögest du mir verzeihen.“ Doch bevor ich zum verzweifelten Sprung ansetzen konnte, hörte ich eine Stimme: „Warum willst du fliehen? Was glaubst du damit zu erreichen ?“
Ich wandte mich um , und erblickte eine junge Frau. In leicht gekrümmter Haltung kam sie auf mich zu. Durch die sich verringernde Distanz zwischen uns konnte ich mehr und mehr Einzelheiten ihres Erscheinungsbildes erkennen: Den langen Mantel, die blonden, zu einem Zopf geflochtenen Haare, dann ihr wunderschönes Gesicht, und schließlich ihre Augen, die funkelten wie die Kronjuwelen, einige Meter von uns entfernt.
„Bitte, glauben sie mir“, entgegnete ich, „es gibt Gründe, weshalb ich hier stehe. Und nun gehen sie fort. Weshalb mischen sie sich überhaupt in mein Leben ein?“
-„Damit dein Leben weitergeht.“
-„Und wozu sollte es das? Ich weiß nicht, weshalb ich bin, was genau meine Aufgabe ist.“
-„Jeder wird von seinem Schicksal geführt. Eines Tages wirst auch du deine wahre Bestimmung erfahren.“
-„Ja, vielleicht, nur wann?“
-„Du musst Geduld haben. Wäre es nicht furchtbar, wenn du diesen Zeitpunkt der Erkenntnis nicht erleben würdest?“
Diese Worte berührten mich tief in meinem Herzen. Wollte ich wirklich mein Leben beenden, und somit die Chance, doch etwas auf dieser Welt bewegen zu können, leichtfertig vergeben?
-„Niemals!“, antwortete ich mir blitzartig selbst. In diesem Augenblick spürte ich, wie mein Geist seine verlorengegangene Stärke wiedererlangte.
Von einem Moment auf den anderen war ich bereit, für meine Vision einer brüderlichen Gemeinschaft aller Menschen ein Leben lang zu kämpfen.
-„Sie haben Recht. Ich darf nicht so einfach aufgeben.“
Wahrscheinlich hatte sie Angst, ich würde vielleicht doch springen, jedenfalls geleitete mich die Schönheit den Weg zur anderen Flussseite wie jemanden, der gerade das Laufen erlernt hat.
Aus der dabei entstandenen Unterhaltung erfuhr ich einiges über sie:
Laura, so ihr Name, war vierundzwanzig Jahre jung, und hatte gerade an der Londoner Universität ihr Studium in den Fächern Literatur und Geschichte abgeschlossen. Ein ganzes Jahr wollte sie nun frei leben, losgelöst von allen Verpflichtungen. Über ihre weitere Zukunft hatte sie sich bis dahin nur wenige Gedanken gemacht.
Sie begleitete mich zum Hotel und, wir verbrachten die ganze Nacht zusammen. Wir philosophierten.
Es stellte sich heraus, dass Laura ähnlich wie ich dachte, über die Welt , und die Menschheit. Auch sie wollte in ihrem Leben versuchen ,einen Beitrag zur Verständigung der verschieden Kulturen in Europa zu leisten.
Nach eigener Auskunft war sie außerdem allen Menschen gegenüber freundlich und offen. Denn nur, wenn jeder diese Einstellung verinnerlicht, so erklärte sie, würden die Menschen endlich friedlicher miteinander umgehen, und könnten so ihrem ursprünglichen Ideal einen kleinen Schritt näher kommen.
Noch bis zum Morgen tauchten wir in einen Strom himmlischer Gedanken, ich spürte die Seelenverwandtschaft zwischen Laura und mir.
„Allmächtiger Schöpfer“, rief ich aus, „gepriesen seiest du für die Entsendung dieses Engels, der mein Leben rettete.“
Und Laura mischte ihren Jubel ein, als Dank an die Gottheit für unsere Begegnung.
Der folgende, bereits angebrochene Tag war der letzte , und zugleich auch der schönste meines Englandaufenthaltes. Völlig neu erlebte ich in Lauras Gegenwart jene Stadt, die mir vorher noch verhasst war.
Zunächst führte sie mich durch das britische Museum. Ja, hier war die gesamte Geschichte der Welt, gesammelt in einem einzigen, aber gewaltigen Gebäude. Die ruhmreichen Zeiten der alten Ägypter, oder die vergangene Kunst Asiens konnte ich beinahe greifen.
Dennoch wirkte dies alles so, als ob es gescheiterte Vorhaben waren, als wenn jemand mehrmals versucht hatte, die Menschen nach seinem Willen zu formen. Weil er aber an ihnen keinen Gefallen fand, begann er von neuem , an einem anderen Ort.
Die Römer, die Griechen, die Azteken, sie alle konnten ihre Hochkultur nicht ewig aufrecht erhalten.
Wenn man dies betrachtet, wie töricht ist es da von uns , zu glauben, mit unserer Zivilisation dauerhaft Bestand zu haben. Ist es nicht vielmehr so, dass auch uns Europäer, und früher noch die Amerikaner, das gleiche Schicksal ereilen wird ? Unvermeidlich scheint mir dieser Untergang. Unsere Aufgabe also besteht nun darin, den Zeitpunkt seiner Ankunft so weit wie möglich hinauszuschieben.
Schweren Herzens spürte ich damals jedoch, dass diese Herausforderung ob meiner Machtlosigkeit für mich allein zu groß war.
Stattdessen sah ich es als meine Pflicht an, der Nachwelt etwas ewiges zu hinterlassen, damit die zukünftigen Kulturen erfahren, zu welch großen Taten die Künstler Europas in unseren Zeiten fähig waren.
Zur Inspiration besuchte ich im Globe- Theater zusammen mit Laura die Aufführung eines Stückes jenes bereits erwähnten großen Meisters.
Denn auch, wenn der Öffentlichkeit nur eine Zeile aus seinem Hamlet bekannt ist, so hat er es doch vollbracht, unsterblich zu werden.
Als ich unter den Zuschauern viele junge Gesichter erblickte, flimmerte in mir eine kleine Flamme der Hoffnung, dass es vielleicht bald diese Kinder sein würden, die Shakespeares Vermächtnis erben und weitergeben, damit die kulturellen Wurzeln unseres Kontinents nicht völlig absterben.
Kurz nachdem der Vorhang gefallen war, und das begeisterte Publikum die großartige Darbietung der Schauspieler mit tosendem Applaus gewürdigt hatte, trennten sich die Wege von Laura und mir.
Während sie an einer Führung durch das Theater teilnahm, trat ich meinen Rückweg an. Brüderlich küsste sie mich. Wir wollten einen engen Briefkontakt entstehen lassen.
Bis Calais begleitete mich ein langes Nachsinnen über die Erlebnisse in England. Nach den Tagen in der zu platzen drohende Stadt sehnte ich mich eigentlich nach meinem ruhigen , beschaulichen Heim.
Doch in Frankreich erfasste mich eine seltsame Unruhe. Mein Herz war von einem jugendlichen Gefühl erfasst. Ich wollte noch nicht zurück.
Meine wagen künstlerischen Pläne für die nächsten Monate wurden von der reinen Lust an einer Reise durch Frankreich völlig verdrängt. Nun, dies dürfte nicht allzu schwer gewesen sein, denn für ein neues Werk fehlten mir vernünftige Einfälle. Im Gebiet der Grande Nation wollte ich daher die Suche nach dem Geist der Französischen Revolution aufnehmen.Ich hoffte, dass dort in jedem Menschen immer noch die Gedanken an „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ allgegenwärtig waren.
So reiste ich mit einer Eisenbahn einige Tage in Richtung Südosten. Mehrmals stieg ich aus und unternahm bis zur Ankunft des nächsten Zuges eine kleine Wanderung.
Wenn ich da an den blauen Lavendelfeldern vorbeispazierte, ein süßer Duft mir in die Nase stieg,
wenn ich das wunderbar harmonische Fließen der Loire vernahm,
wenn ich in der Ferne Ruinen alter Schlösser erahnte, die mich an längst vergangene Tage erinnerten,
ja, dann begriff ich, warum hier Das seinen Anfang nahm, was sich bis heute weit ausgebreitet hat, und Europa zum Sinnbild für Demokratie machte.
Doch in welch einem Gegensatz zu ihrer natürlichen Umgebung präsentierten sich die Einwohner dieses Landes. Sie begegneten mir zwar durchaus freundlich, doch waren sie in meinen Augen zu friedlich.
Wo war nur das revolutionäre Denken, ohne das der Sieg über den Absolutismus niemals hätte errungen werden können, und die Sonne so nie mehr untergegangen wäre ? Die Leute wirkten wie Besatzer, die nach dem Sieg jegliche Disziplin verlieren, mit den Jahren immer träger werden, schließlich unfähig sind, sich im Angriffsfall zu wehren.
Bereits in Deutschland, und auch in England hatte ich eine ähnlich gleichgültige Haltung des Volkes beobachtet. Es scheint vergessen worden zu sein, dass man sich Demokratie ständig neu erarbeiten, neu erkämpfen muss. Ich kann nur hoffen, in Europa wird gemeinsam etwas gegen diese Entwicklung unternommen, denn sonst ist der Weg frei für das Monstrum aus dem braunen Sumpf, und die Menschen würden wieder leiden unter der Sonne, die dann doch bis an das Ende aller Tage am Himmel stünde.
Mittlerweile war ich in Grenoble angelangt. Die sehr frische, kühle Luft dämpfte meinen Reisendrang sehr. Trotzdem beschloss ich, vor der Heimreise noch ein wenig Zeit im Norden Italiens zu verbringen.
Die leichte, lockere Lebensweise dort sollte in mir die rechte Stimmung wecken, welche ich benötigte, um in Deutschland die fehlende Leidenschaft und die Engstirnigkeit leichter zu ertragen. So wie die großen deutschen Künstler, Goethe, Mann, und Mendelssohn Bartholdy, wollte auch ich einen kleinen Teil des italienischen Feuers nach Hause tragen.
Bei einem Spaziergang durch das wunderschöne Verona wurde ich aber jäh aus dem bereits entwickelten, heiteren Gefühl herausgerissen.
Noch am Tag zuvor hatte ich mit einigen Freunden in Venedig telephoniert. Nun schickte man einen Eilboten, der mir eine schreckliche Nachricht überbrachte: Eroico Manieri, ein junger venezianischer Schriftsteller, mit dem ich seit einiger Zeit einen regen, aber ausschließlich künstlerischen Briefkontakt pflegte, habe sich in seinem Haus erschossen.
Augenblicklich machte ich mich auf den Weg , um an seiner Beerdigung teilzunehmen.
Dort erfuhr ich, dass der Beweggrund für seinen Freitod die Liebe zu der Verlobten seines besten Freundes gewesen war. Eine Liebe also, die keine Erfüllung finden konnte.
Ihn traf das gleiche Schicksal, welches auch Goethe schon nahe an die Pforte des Todes, und Hölderlin in den Wahnsinn geführt hatte.
Eroico wählte die Flucht als Ausweg, ihm war kein Engel zu Hilfe geeilt.
„Weshalb nur“, dachte ich, „gibt es solche, immer wiederkehrende Schicksale ?“
Wahrhaftig, allein wer es vermag ,diesen ewigen Kreis zu durchbrechen,
ja, allein der findet das wahre Glück.
Seit langem hatte Eroico vor der Zerstörung Venedigs gewarnt, er wollte sein Leben für den Schutz der Stadt einsetzen.
Von Napoleon der über achthundert Jahre währenden Eigenständigkeit beraubt, waren es in der Folge jene Venezianer selbst, die ihre Heimat in Gefahr brachten. Mit motorisierten Booten, welche zu einem stärkeren Wellengang in den Kanälen beitragen, schaden sie ihr auch heute.
Hinzu kommen die riesigen Massen von Touristen. Wenigstens diese versucht man nun mit drastischen Maßnahmen einzudämmen, um so die bedrohliche Entwicklung aufzuhalten.
Doch als ich die maroden Häuser sah, erkannte ich, dass diese Stadt später einmal aufhören wird zu existieren, weil wilde Willen des adriatischen Meeres alles mit sich fortgerissen haben.
Ich empfand Ekel gegenüber dieser Zivilisation, die so skrupellos war, den schönsten Ort der Welt dem Untergang zu weihen.
Denn wie heißt es nach der alten Regel: Ist Europa der schönste Kontinent auf der Welt, und Italien das schönste Land Europas,
dazu Venedig die schönste Stadt in Italien,
dann ist der Markusplatz, der schönste Ort Venedigs, konsequenterweise der schönste Ort auf der Welt.
Der fanatische Fortschrittsglaube ohne Rücksicht auf die Natur war für mich nicht mehr zu ertragen.
Als ich ein in Richtung Griechenland ablegendes Schiff erblickte, war mir bewusst, dass ich , obwohl mein müder Körper dem heimischen Bett nun schon zehn Nächte fern geblieben war, vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren würde, sondern mir der Sinn danach stand, zum Ursprung der europäischen Kunst und Wissenschaft, ja des Dichtens und Denkens überhaupt aufzubrechen- nach Athen.
Dorthin, wo die Menschen tatsächlich ihr ursprüngliches Ideal erreichten, weil sie sich lange Zeit ohne äußeren Einfluss entwickeln konnten, es entstand ein Edelstein, in vollendetem Einklang mit der Natur, eine niemals versiegende Quelle großer, wunderbarer Gedanken.
Als Lektüre auf der langen Schiffsfahrt begleiteten mich die mir übergebenen Tagebücher meines Freundes.
„Welch ein Genie hat die Kunst da verloren“, dachte ich beim Lesen der grandiosen Zeilen, „möge dieses, dein letztes Werk dir zu Ruhm und Unsterblichkeit verhelfen.“
Doch was ist der vergängliche Ruhm eines Menschen im Vergleich zur ewigen Allmacht der Götter? Hier in Athen waren die Herrscher des Olymp immer noch allgegenwärtig, ihre sagenhaften Erlebnisse nahezu spürbar.
Die Leute allerdings waren von gleicher Grausamkeit wie in Venedig.
Das Übel, der Verfall der Traditionen, und somit das Entfernen vom Ideal hatte schon unter Alexander dem Großen begonnen.
Der dichte Smog in der Stadt schien nun wie ein wahnhafter Versuch, den Blick auf die schlimme Situation zu verdecken. Die kläglichen Bemühungen, Athen wieder einen Teil des alten Glanzes zu verleihen, konnte ich dennoch beobachten. Denn im nächsten Jahr werden hier die Olympischen Spiele ausgetragen, dort wo sie erfunden wurden.
Aber nur wenige Wettkampfstätte waren bereits fertiggestellt. Es sah ganz und gar nicht danach aus, als ob bald an diesem Ort ein sportlich-kommerzielles Großereignis stattfinden könnte. Mir versicherte man jedoch, dass der festgelegte Zeitplan eingehalten werde, die Kosten allerdings würden höher ausfallen als vorausberechnet.
Natürlich, die Kosten.
Selbst der Sport hat in den letzten Jahren seine Grundwerte dem Geld preisgegeben. Und nun, da man hoffte, am Ort der antiken Spiele, der gleichzeitig auch Schauplatz des ersten modernen Wettkampfs war, wieder das Eigentliche, den Sport in den Mittelpunkt stellen zu können, kreisen die Überlegungen der Verantwortlichen leider nur um die Finanzierung des Spektakels. Um Papierscheine, nichts weiter, und diese bleiben Papier, auch wenn sie seit einiger Zeit das neue Symbol für eine stabile europäische Wirtschaft darstellen. Ist das der neue Geist der Olympischen Spiele ?
Auch hier waren die Erdenbewohner also weit davon entfernt, wahre Menschen zu sein. Ihre Identität erlangten sie durch ihr Alter, den Beruf, ihre Familie, aber nicht durch ihr Wesen.
Einsam und verzweifelt streifte ich umher. Auf der Welt musste es doch noch einen Ort geben, wo Unschuld, Frieden, Freiheit herrschen, wo man jene wunderbaren Dinge entdecken könnte, die wir erhoffen nach unserem Ableben zu erfahren, ein Elysium, doch eben hier in unserer Welt.
Da erinnerte ich mich wieder an den Ort, welchen Hölderlin in seinem Hyperion so vortrefflich als „Diamant im Schacht“ bezeichnet hatte. – Die Insel Kalaurea.
Ich dachte: „Entwerder dort finde ich mein Glück, oder ich vermag es nirgends, glücklich zu sein.“
Doch tatsächlich, hier in der Umgebung einer herrlichen Naturpracht, schienen alle Lebewesen von einem Nektar der Freude gekostet zu haben: Jedes kleine Getier ließ mich meinen Schöpfer spüren, das wilde Rauschen des Windes in den Wäldern, das leise Plätschern der Bäche, der heitere Gesang der Vögel, dies alles verwob sich ineinander zu einer wahrhaftigen Natursymphonie, wie sie selbst Beethoven nicht hätte mitreißender komponieren können.
Und- die Menschen zerstörten diese Klangfarben nicht, sondern vollendeten das Kunstwerk mit ihren fröhlichen Liedern.
Berauscht von diesen Erlebnissen lief ich zum Strand hinunter.
Unter hüpfenden und herumtollenden Kindern fiel mir plötzlich ein zierliches Mädchen auf. In anmutigen Bewegungen spielte sie mit einer Rose.
„Welch ein liebliches Geschöpf“, flüsterte ich, als ich ihr reizendes, rosiges Gesicht betrachtete, ich war wie entzückt von ihrem schwarzen, gelockten Haar, in dem Blüten gesteckt waren. Es war mir, als hätten sich alle Liebe, alle Schönheit, und alle Fröhlichkeit der Erde in ihr vereint.
Halb verliebt ging ich auf sie zu, doch als ich von ihr bemerkt wurde, begann sie davonzulaufen. Verwundert versuchte ich sie einzuholen, aber plötzlich war die niedliche Griechin verschwunden.
Aus der Nähe war ein leises Wimmern und Weinen zu vernehmen.
„Mein Gott“, dachte ich, „was habe ich ihr angetan ? Wie kann ich das wieder gutmachen ?“
Nachdem ich jedoch genauer hingehört hatte, erkannte ich, dass nicht das Mädchen dort weinte, sondern es ein junger Mann sein musste. Neugierig folgte ich den trauernden Tönen.
Auf einem einsamen, rauen Felsen saß ein einsamer, bärtiger Mann.
Seine langen Haare waren kunstvoll zu zwei Zöpfen gebunden.
Er weinte immerfort mit beiden Händen vor seinem Gesicht,
sein Klagen und Flehen schien mir wie ein elegisches Gedicht.
So recht wusste ich nicht, was zu tun war.
Sollte ich - einfach fortgehen, das arme Wesen mit seinem Kummer allein lassen ?
- oder ihn ansprechen, mit der Gefahr, dass er sich furchtbar erschreckt?
Während ich bemüht war, endlich eine Entscheidung zu treffen, hörte der Fremde zu weinen auf und wandte sich nach mir um.
Ich war es nun, der sehr erschrocken war. Die dunkle Stimme des Mannes beunruhigte mich noch weiter. Zu meiner großen Überraschung sprach er Deutsch, allerdings mit einem deutlichen griechischen Akzent.
„Was wollen sie ?“, fuhr er mich an, „warum stehen sie hier herum ?“
- „Ich wollte mich nur erkundigen, ob ich ihnen in irgendeiner Weise vielleicht helfen kann“, entgegnete ich unsicher.
- „So, sie sind Deutscher“, stellte er gleichgültig fest.
- „Ja, und sie ein Grieche, oder ? Wo haben sie denn so fließend Deutsch sprechen gelernt ?“
- „Zunächst einmal bin ich Mensch, was man von vielen anderen nicht behaupten kann.“
Diese Worte ließen mich aufhorchen. Hatte dieser Fremde, ebenso wie ich, die furchtbare Situation der Menschheit erkannt ? War sie vielleicht sogar die innerste Ursache für seinen Schmerz ?
„Des Weiteren bin ich aus tiefster Seele Europäer. Ich wurde zwar hier in Griechenland geboren, lebe aber schon seit vielen Jahren in Deutschland, in Weimar, um genau zu sein.“
- „Ah, die Stadt von Goethe und Schiller.“
- „Ja, das ist sie wohl. Meiner Meinung nach sind sie aber nicht die größten deutschen Dichter.“
- „Sondern wer ?“, fragte ich interessiert.
- „Friedrich Hölderlin. Nur leider hatte er wenig Zeit, um uns viele große Werke zu hinterlassen. Ist ihnen seine Lebensgeschichte bekannt ?“
- „Oh ja, ich weiß wo er geendet ist. Ein grausames Schicksal.“
- „Das kann man in der Tat sagen. Aber dennoch: Darf man die Begabung eines Künstlers nach der Anzahl seiner Arbeiten beurteilen ? Genügt nicht viel eher ein alles überragendes Werk, um der Bedeutendste überhaupt zu sein ?“
- „Sie sprechen von Hyperion.“
- „Ein großartiges Buch. Haben sie es gelesen ?“
- „Selbstverständlich.“ Meine Neugierde wurde immer größer. Ich wollte unbedingt mehr über diese belesene Persönlichkeit erfahren. Und die Hoffnung, dass er aus dem gleichen Grund wie ich auf Kalaurea war, wurde nicht enttäuscht.
„Sind sie etwa hier, um die Menschheit in ihrer Vollendung zu erleben, so wie es Hölderlin beschrieben hat ?“
- „Ja, ich war in ganz Europa auf der Suche nach den alten, ruhmreichen Zeiten. Doch ich musste einsehen, dass die menschlichen Ideale der Vergangenheit angehören. So kam ich hierher. Diese Insel ist meine letzte Hoffnung.“
Als er diese Worte sprach, begann er erneut zu schluchzen.
- „Weine nicht ,mein Bruder“, sagte ich, „heute hast du einen Verbündeten gefunden.“
- „Himmel!“, rief er, „ist es war ?“
- „Ja, glaube mir. Auch ich habe vergeblich nach den ursprünglichen Werten gesucht. Bitte sag, schwanken deine Gefühle gegenüber dem Menschentum auch ständig zwischen Mitleid und Hass ?“
- „Oh Bruder, so ist es. Nun aber verspüre ich eine tiefe Hoffnung.
Vielleicht kann niemand mehr die Menschheit zur Vollkommenheit führen, doch mit vereinten Kräften sind wir beide wenigstens in der Lage, die europäische Kultur, die wertvollste auf Erden ,vor der bedrohenden Amerikanisierung zu bewahren.“
- „Ja, nur hier in Europa findet jede Seele seine Verwandten. Also lass uns diese Botschaft in die ganze Welt hinaus tragen.“
- „Um die ehemals für eine Scheibe gehaltene Kugel werden wir den gelben Sternenring spannen, damit der von diesem Kontinent ausgehende Glanz noch in weit entfernte Gebiete erstrahlt.“
Und gemeinsam stimmten wir jenes vielgesungene Lied an, das so ganz Ausdruck unserer Seelenverfassung war:

„Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuer-trunken,
Himmlische, dein Heiligtum !

Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt...“

Nachdem die letzten Silben verklungen waren, begann die Unterhaltung von neuem. Jeder von uns war sehr begierig danach zu erfahren, wie zwei gleichgesinnte, aber voneinander getrennte Charaktere sich bis zum damaligen Tage entwickelt hatten:
Mein geistiger Bruder , Kalinikos, war neunundzwanzig Jahre alt.
Obwohl ihm vor etwa zehn Lenzen die Möglichkeit zu einem Studium offen stand, zog er die Ausbildung zum Versicherungskaufmann vor. Damals war es sein Vorhaben, sich nach der Arbeitszeit seiner Leidenschaft hinzugeben, dem Schreiben.
Doch die Arbeit nahm ihm jegliche Freude an der Kunst, so dass er nach nur wenigen Jahren kündigte. Seitdem war er ziellos durch die Welt gewandert. Die wiedergewonnene Freiheit nutzte Kalinikos zum Verfassen
von philosophischen Schriften sowie vieler wunderbarer Gedichte, von denen er mir sogleich einige vortrug.
Er erwähnte auch Tanja, seine neunzehnjährige, schlesische Brieffreundin,
die er so bald wie irgend möglich besuchen wollte. Laut Kalinikos hatte sie
ein ähnlich engagiertes Interesse an Literatur und Philosophie wie er selbst.
Als ich dieses hörte, schlug ich vor, noch am gleichen Tag nach Polen aufzubrechen. Schon viele Jahre wollte ich dieses Land, die Heimat meiner Großmutter bereisen, von deren Schönheit sie in hunderten kleinen Geschichten geschwärmt hatte. Aber meine Pläne konnte ich bis dahin nie in die Tat umsetzen. Nun sollte es also endlich zur Begegnung mit meinen Wurzeln kommen.
Beim Betrachten des Weges, welcher im Falle der Wahl einer direkten Reiseroute vor uns lag, wurde unsere Überschwänglichkeit schlagartig gedämpft. Keiner fühlte sich stark genug, den Anblick schrecklicher Folgen grausamer Kriege zu ertragen, den Zeichen menschlicher Barbarei zu begegnen. Aus diesem Grund fassten wir den Entschluss, zunächst nach Italien zurückzukehren, um dann mit dem Zug über Österreich und Tschechien nach Polen zu gelangen.
Während der Fahrt nach Österreich, es war bereits Juni geworden, lebten mein Bruder und ich ,obwohl unter Menschen, nur für uns allein, niemand nahm an unseren großen Ideenfolgen teil. In dieser einsamen Gemeinschaft steigerte sich der gegenseitige Glaube an Europa bis ins Unendliche.
Doch erst, als wir das Zentrum jenes herrlichen Kontinents erreichten, das junge Gebirge der Alpen, wurde uns die Schönheit dieses Erdteils wirklich bewusst.
Wenn wir im völligen Einklang mit der Natur über die schmalen Wege wanderten,
wenn wir dabei die Größe und Gewaltigkeit der Felsengestalten erblickten,
dann erkannten wir die ewig währende Nichtigkeit der Menschen, denn einzig die Natur vermag es, Kunstwerke mit solchen Ausmaßen zu kreieren.
Was ist dagegen der Mensch ?
Aus Affen ist er hervorgegangen, und hat sich bis zum Genie ausgebildet.
In Wien mussten wir jedoch feststellen, dass eine Rückwärtsentwicklung begonnen hat, teilweise sogar schon weit fortgeschritten ist.
Hier, wo Mozart einst gescheitert war, Beethoven groß auftrumpfte,
und der häufig unterschätzte Schubert im stillen Stüblein seine Symphonien
schrieb, war nicht einmal ein Schatten jener Zeiten zu entdecken.
Dieser Niedergang hat neben anderen mit der Strauß- Familie eingesetzt,
die aus der glanzvollsten aller Künste reine, gewöhnliche Unterhaltung machte. Vor Scham sollten sie ihre Köpfe in den Sand stecken, und nie mehr aufblicken dürfen.
Die Bewohner Wiens, mit ihrem Dialekt, dessen Charakter sich von liebenswert zu verabscheuungswürdig gewandelt hat, sind wohl wie keine andere Gruppe von Personen ein Beweis für den künstlerischen Verfall
in den Alpenländern.
Während der Durchquerung Tschechiens entwarfen Kalinikos und ich die kühnsten Pläne für eine Verhinderung des Sturzes von Europa in den kulturellen Abgrund, aus dem es dann kein Entrinnen mehr gäbe.
Wenn es für Dvorak möglich gewesen war, auf dem brachliegenden Boden der Neuen Welt den edlen Samen der europäischen Kunst zu sähen, und aus ihm dreißig Jahre später, leider erst nach seinem Tod, die Musik Gershwins wuchs, wie viel leichter müsste es uns da fallen, eine solche Pflanze in ihrer ganzen Pracht gedeihen zu lassen, wo sie doch hier schon einmal blühte, wir also die verdorrten Wurzeln mit frischem Wasser nur wieder zu neuem Leben erwecken brauchen.
Abwesend durch Schwärmereien an diese hoffentlich bald erreichte Zeit,
bemerkten wir beinahe nicht unsere Ankunft in Bolkow, dem Heimatort Tanjas, kurz hinter der polnisch-tschechischen Grenze. Nachdem es uns dennoch gelungen war, den Zug rechtzeitig zu verlassen, suchten wir schließlich das Elternhaus der Schülerin auf.
Gleich wo ich sie zum ersten Male sah, wusste ich, dass Tanja in ihrem Innern ein Geheimnis verbarg. Der starke Kontrast zwischen ihrem schwarzen Haar und dem schneeweißen Kleid war eindeutig beabsichtigt. Dies wirkte auf mich, als wolle sie die ganze Aufmerksamkeit der Leute, die ihr ob ihrer Schönheit bereits zu einem beträchtlichen Anteil gewiss war, mit aller Kraft vollständig erlangen. Ihre Worte verstärkten meinen Eindruck:
In einer bis ins Absurde gesteigerten, pathetischen Feierlichkeit sprach Tanja ausschweifend über ihre Liebe zur europäischen Literatur. In ihrem Köpflein hatte sie den genauen Wortlaut all der großen Werke, als ob sie diese selbst verfasst hätte. Doch ihr fehlte ein tiefes Verständnis für die vorgetragenen Zeilen, deren wahre Bedeutung schien ihr völlig fremd.
Als sich Tanja für einen Augenblick entschuldigte, ergriff ich die Gelegenheit, um Kalinikos meine Vorbehalte gegenüber seiner Brieffreundin mitzuteilen.
Bewegt durch sein großes Vertrauen in meine Urteilskraft konfrontierte er sie sogleich mit meinen Vermutungen.
Und diese sollten sich tatsächlich als wahr erweisen. Nach langem Leugnen war sie schließlich nicht mehr in der Lage, ihr fürchterliches Spiel fortzuführen. Mit tränenden Augen gestand sie, dass ihr Interesse für die Literatur nur vorgetäuscht war.
Durch ebenso mühselige wie sinnlose Erklärungsversuche war Tanja nun bemüht, meinen aufbrausenden Freund zu besänftigen.
Der Anblick seines Gesichtsausdrucks verriet mir, dass Kalinikos dieses Mädchen wirklich geliebt hatte. Nun jedoch musste er die furchtbare Wahrheit ertragen, dass er die ganze Zeit über von ihr nur ausgenutzt worden war.
Und wozu dies alles ?
Durch die falsche Liebe zur Kunst wollte sie sich von ihren Mitschülern absondern, wollte etwas besonderes sein.
Dieses Gerede einer Närrin war ihre Rechtfertigung.
Nachdem sich in der Seele des Betrogenen der tobende Sturm der Wut wieder gelegt hatte, gingen wir wortlos hinaus, mit verachtenden Blicken zur schönen, um Vergebung flehenden Heuchlerin, und trieben ,wie kleine Boote nach einem Unwetter, orientierungslos herum auf dem Meer der Enttäuschung.
Und gerade zu dem Zeitpunkt, da wir langsam begannen wieder Halt zu finden, uns neu zu ordnen, einen neuen Kurs einzuschlagen, als wir versuchten, durch einen Besuch der Bolkowburg das vor kurzem Erlebte zu verdrängen, wurden wir vom Strudel des Schicksals erneut in die schwarze Tiefe hinab gesogen.
Ein Schreiben von Laura erreichte mich nämlich.
Da von ihrer Seite aus unser anfangs so regelmäßiger Briefkontakt immer flüchtiger geworden war, las ich gespannt ihre Nachricht ,in der Erwartung,
für ihr Verhalten einige Gründe zu erfahren.
Jedes ihrer Worte war wie ein Dolchstoß in mein bereits gekränktes Herz.
Laura hatte einen wunderbaren Mann kennen gelernt, die Liebe ihres Lebens , wie sie schrieb. An seiner Seite wollte sie ihr Leben nun genießen, ohne melancholisches Nachsinnen über die Vergangenheit, ohne ängstliche Sorgen um die Zukunft. Meine Sichtweise auf die Welt würde bei ihren Planungen nicht hilfreich sein, so dass sie unsere Bekanntschaft als beendet betrachtete. Zum Abschied wünschte Laura mir viel Glück im weiteren Leben, und einen „Strom der Inspiration“ für mein literarisches Schaffen.
Das seit einiger Zeit von mir gehegte Pflänzchen der Hoffnung darauf, dass Kalinikos und ich zusammen mit Tanja und Laura glücklich werden könnten, war nun vollends eingegangen.
Mein Geisteszustand verschlimmerte sich zusehends. Tagelang taumelte ich umher, dem Wahnsinn nahe, ein Lebenswille fehlte fast völlig.
Einzig die Gegenwart meines Bruders sowie seine tröstenden Worte hielten mich auf Gottes Erde ,verhinderten, dass ich doch freiwillig zu den Gefilden der Seeligen aufbrach.
Doch hatte dieses Leben noch einen Sinn ? Was sollten wir tun ? Wohin sollten wir gehen ?
Die Augen waren wund von den zahllosen Tränen, die Füße wund vom weiten Wandern.
Eine Rückkehr nach Kalaurea schien uns unmöglich, zumal wir beinahe meine gesamten Ersparnisse aufgebraucht hatten.
Als Zufluchtsstätte blieb uns also nur noch mein einsames Haus in Spaichingen. Mit fast versiegter Kraft unternahmen wir diese, unsere letzte Reise. Bei der Ankunft begrüßte uns der Mond in der gleichen Gestalt wie er mich verabschiedet hatte.
Und hier leben wir nun, völlig zurückgezogen, ohne jeden engeren Kontakt zu den Menschen, geben uns unvorstellbaren Phantasien hin und halten diese auf Papier fest.
So schreiben wir über ein Europa , in dem die Menschen ihre ursprünglichen Werte und die alten Traditionen verinnerlicht haben, in dem die wahre Kunst wieder ihre gebührende Anerkennung erhält, und in dem alle Geschöpfe Gottes in Frieden und Harmonie zusammenleben.
Schließlich erfüllt uns die Erkenntnis, dass wir trotz den entsetzlichen Erfahrungen unser Dasein nirgendwo sonst verbringen wollen als in unserer wundervollen Heimat, Europa.

 

Hallo Mike,

und erstmal herzlich Willkommen hier :)

Das Thema deiner Geschichte hat mir gut gefallen - ein Mensch auf der Suche nach dem Sinn, nach den ursprünglichen Werten Europas, nach einer Möglichkeit, die Welt zu verändern. Dass er wieder zu Hause ankommt, ist logisch und vorhersehbar, hat mich an bißchen an die Geschichte von Janosch erinnert, "O wie schön ist Panama" ;) Das Einflechten einiger historischer Ereignisse zu den Orten und entsprechender Persönlichkeiten hat mir gut gefallen. Teilweise musste ich schmunzeln über die Fragen und Gedanken des Mannes - denn wie kann man die Welt verändern, wenn man sich ihr entzieht, nicht wirklich eine Beziehung mit ihr und den Menschen eingeht sondern vielmehr in sich selbst versunken reist?

Die Umsetzung deiner Geschichte fand ich allerdings nicht so gelungen. Als erstes empfand ich sie als zu lang. Nicht, dass Geschichten nicht lang sein dürfen, aber deine war stellenweise zu detailliert und mit Informationen gefüllt, die nicht unbedingt notwendig waren. Insbesondere den ersten Teil der Geschichte, bis Laura auftaucht, würde ich straffen. Falls du dich wirklich mit dem Gedanken der Kürzung anfreunden könntest, würde die Geschichte auch eher einen roten Faden bekommen. Sie wirkte auf mich stellenweise sehr berichtsmäßig, eher wie eine Nacherzählung in dem Stil "erst geschah das, dann dies, dann tat ich jenes". Obwohl du sehr viele Sprünge in der Handlung hast, natürlich auch verbunden mit den Ortswechseln, kamen die oft unvermittelt und hektisch (deshalb auch eher der Eindruck einer Flucht als einer Suche), für mich ab und an zusammenhanglos und haben aus meiner Sicht nicht wirklich Spannung erzeugt. Die einzelnen Details wirkten eher aneinandergereiht und schienen nicht wirklich was miteinander zu tun zu haben - wenn mir der Rahmen, die Suche nach dem wahren Europa, natürlich schon klar ist. Das hättest du aber aus meiner Sicht noch deutlicher herausarbeiten müssen.

Dann weiß ich nicht, ob klischeehaft oder märchenhaft der bessere Ausdruck für ein weiteres Gefühl beim Lesen ist - deine Geschichte ist sehr schwarz/weiß und vereinfacht viele Dinge, zusätzlich ist deine Sprache recht altmodisch und hochgestochen. Ist nicht negativ gemeint, ist halt ein Stilmittel, ich weiß nur nicht ob du den "märchenhaften" Effekt beabsichtigt hast, den man auch als ironische Distanzierung auffassen könnte. Eine Moral hat die Geschichte auch, in sofern passt´s mit dem Märchen ;)

Ein paar Kleinigkeiten noch:

Plötzlich war alles in Frage gestellt.
Das kommt auch mir ein wenig plötzlich vor ;) Was genau hat diesen Umschwung ausgelöst? Das hätte mich interessiert. Einfach mal als Beispiel, wo der Wechsel plötzlich kam.
Bevor ich in das geliebte Land aufbrach, besuchte ich ,anlässlich des fünfundsiebzigsten Geburtstages meines Vaters, die Familie in
vor einem Komma kommt kein Leerzeichen, dafür aber danach - das taucht mehrmals in deiner Geschichte auf. Und dann: ist der Abstecher bei der Familie wirklich wichtig für die Geschichter oder eine Information, die der Leser vielleicht gar nicht braucht?
Auch sie wollte in ihrem Leben versuchen ,einen Beitrag zur Verständigung der verschiedenen Kulturen in Europa zu leisten.
Nach den Tagen in der zu platzen drohenden Stadt sehnte ich mich eigentlich nach meinem ruhigen , beschaulichen Heim.
Auch die Abreise aus England kam mir übrigens sehr plötzlich vor. Ebenso der Selbstmord des Freundes, um noch zwei Beispiele zu nennen.

So, ich hoffe, du kannst mit meinen Anregungen was anfangen.

Liebe Grüße
Juschi

 

Danke

Hallo Juschi !
Danke für die gutbegründete Kritik.
Ich werde jetzt nicht auf alle Punkte eingehen, aber ich fand alles Angesprochene sehr schlüssig und einleuchtend.
Ich schreibe nicht viel Kurzgeschichten, bin mehr ein Lyriker.
Zur Zeit allerdings arbeite ich wieder an einer Geschichte. Ich werde versuchen, einiges zu verbessern.
Zu der Zeichensetzung muss ich sagen, dass ich es da wie Kafka halte.
Denn auch mit einem Komma o. Ä. an einer bestimmten Stelle kann man etwas aussagen.
Bis dann

 

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