Bahnsteig 13
Für eine außergewöhnliche Frau ...
„Planmäßige Einfahrt des ICE 299 von Duisburg nach Berlin auf Gleis dreizehn um ...“
In fünf Minuten kommt ihr Zug. Vor wenigen Tagen noch konnte ich es nicht erwarten, als sie kam, als sie endlich kam. Jetzt aber habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das unsinnige Gefühl, einen Zug nicht zu mögen. Denn dieser hier wird sie wieder fortbringen. Der Zug wird mir sie nehmen.
Nein, ich mag diesen Zug wirklich nicht.
Noch vier Minuten.
Wir stehen, wie lange nun schon, Wange an Wange, und ich drücke sie fester an mich. Strähnen ihres Haares streifen mir durchs Gesicht, wie die sanfte Brise eines warmen Sommertages. Ich möchte in dieser Pracht wühlen, mit meinen Fingern durch diese seidige Kaskade streifen, die so weich ist, dass es auf der Haut fast schmerzt. Doch dazu müsste ich eine Hand von ihrem Rücken lösen, und das vermag ich nicht, weil ich sie nur immer noch näher an mich ziehen will. Ich giere danach, jeden Zentimeter ihres Körpers auf dem meinen zu spüren, mich an sie zu schmiegen, mich um sie zu schmiegen, und jetzt, in diesem Moment, da will ich sie sein, ganz und gar, durch sie fühlen, durch sie sehen, durch sie atmen ...
Ich verwünsche die engen Grenzen meiner Anatomie, die es unterbinden, ihr jemals so unvergleichlich nahe zu kommen. Ich verwünsche den Ort, der uns daran hindert. Ich verwünsche unser beider Kleidung, die es nicht ermöglicht.
Selbst meine Erektion steht mir jetzt im Weg.
Noch drei Minuten.
Mein Mund nähert sich ihrem Hals. Auch wenn ich wollte, ich könnte nicht anders. Mein Verlangen ist übermächtig. Noch dieses eine Mal muss ich die Ebenmäßigkeit ihrer Haut auf meinen Lippen spüren. Diese Haut mit ihrem unglaublichen Schimmer von Weiß, wie Schnee auf dem kostbarsten Gut, das ich mir denken kann, und ich möchte es betreten, es erkunden, jede einzelne Flocke erforschen, jedes einzelne Kristall dieser wunderbaren Landschaft.
Meine Zunge gleitet über ihre Poren, ich schmecke das Salz auf ihrer Haut, die Würze meiner Lust. Ihre pulsierende Ader lässt meine Papillen erzittern. Ich beiße ihr in den Hals, so sanft, dass es nicht schmerzt, und doch so kräftig, wie mein erhitztes Blut es einfordert.
Wie ein Spürhund auf der Fährte der berauschendsten Droge der Welt atme ich ihren Duft ein, fülle meine Lungen mit dem Bouquet ihrer Haut, bis mir schwindlig zu werden droht.
Noch zwei Minuten.
Ich sehe sie an.
Ihre Augenbrauen, so gleichmäßig, als hätte sich ein von Perfektion besessener Künstler für Wochen in die Stille zurückgezogen, um mit sorgsam bedachten Pinselstrichen jedes einzelne Haar in anmutigem Schwung auf eine Leinwand zu tragen. Es sind Torbögen, die sich über den beiden Pforten zu einer Welt wölben, wie ich sie so melancholisch und strahlend zugleich nie gesehen habe. Ein Land, das all die sagenumwobenen Schätze hütet, von denen ich hörte. Ein Land, in dem die delikatesten Früchte wachsen, die mein Hunger sich je ersehnen konnte.
Ich möchte durch dieses Land streifen, behutsam und voller Staunen, keinen Lärm in dieser herrlichen Stille verursachen, nicht einen einzigen Grashalm verletzen, und mich dann auf einer Wiese niederlassen und den Himmel betrachten, bis die Sonne meines Lebens am Horizont verglüht.
Meine Lippen berühren das warmfeuchte Rosa der ihren, unsere Zungen winden sich umeinander, ineinander, ein erregender Tango auf dem Parkett ihrer Sinnlichkeit. Ich könnte in ihren Küssen versinken, könnte darin ertrinken, und wüsste doch, dass ich dann erst atmen kann, dass es Leben bedeutet.
Noch eine Minute.
Wieder stehen wir Wange an Wange. Wie lange nun schon ...
Gleich kommt ihr Zug. Planmäßig, wie die Stimme verkündet hat. Planmäßig? Nein, das ist er ganz gewiss nicht.
Wenn sie mir nahe ist, dann sind alle Sorgen, die mich je bedrückt haben, so weit entfernt, dass sie uneinholbar erscheinen. Ich fühle mich leicht, als wäre mein Kopf auf Watte gelagert, eine feinstoffliche Hydraulik, die jedwede Unebenheit auszugleichen weiß.
Ihr Ohr direkt vor meinem Mund, und ich möchte sie bitten, nicht zu fahren. Bei mir zu bleiben.
Sie ist jeder Sinn und jede Unvernunft, mein erster und letzter Gedanke, und selbst im Traum, ja selbst im Traum ist sie lebendig. Das schönste Geschenk, mit dem ich je bedacht wurde. Wie kann ich da von ihr lassen?
Aber es geht nicht. Sie wird fahren. Nicht für immer, und doch, was hilft es, jetzt, hier, in diesem Augenblick, wenn es doch Gewissheit ist, dass ich sie an jedem Tag vermissen werde, dass jede Stunde ohne sie zähflüssig und schwer wie Blei durch meine Adern kriechen wird.
Ihr Zug ist da, eine Mahnung an den Abschied, wie sie präsenter nicht sein könnte. Noch einmal atme ich sie ein, bevor ich sie aus meinen Armen freigebe. Wie schön sie ist. Ich höre mich etwas sagen, und doch sind alle Worte, die sich über meine Lippen stehlen, nicht angemessen. Aber wie sollten sie jemals angemessen sein?
Sie nimmt ihre Tasche und steigt ein. Noch ein letztes Mal möchte ich sie spüren, folge ihr nach, und einen kurzen Moment durchdringt mich das Verlangen, einfach bei ihr zu bleiben. Mit ihr zu fahren.
Aber ich steige dann doch wieder aus. Die Türen schließen sich. Ihre Hand drückt sich von innen an die Scheibe, vom Bahnsteig aus tue ich es ihr gleich. Dann nimmt der stählerne Dieb Fahrt auf, und es schmerzt beinahe, meine Hand von der ihren zu lösen.
Ich drehe mich um. Die Leute, die jetzt noch hier stehen, erleichtert von der Ankunft oder zum Abschied winkend, sie erscheinen mir bedeutungslos, transparent bis zur Unscheinbarkeit. Für einen Augenblick bin ich irritiert, bis ich verstehe – sie alle sind verblasst in ihrem Glanz, der noch immer über dem Bahnsteig schwebt, wie ein leuchtendes Tuch, das langsam zu Boden sinkt.
Auf dem Weg zum Parkplatz greife ich in die Luft neben mir und taste nach ihrer Hand. Eine Sekunde, eine viel zu kurze Sekunde lang verschränken sich wieder unsere Finger ineinander, so passgenau, als wären sie in der gleichen Form gegossen worden. Dann löst sich dieses Gefühl, und zurück bleibt ein sehnsüchtiges Brennen auf der Haut.
Der Zug hat sie mir genommen.
Aber der Zug wird sie auch wiederbringen.
Und ich glaube, ich beginne gerade, den Zug wieder zu mögen.