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Baumhaus

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23.09.2004
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Baumhaus

Baumhaus

Der kehlige Schrei eines Falken in der Ferne riss David aus seinem traumlosen Schlaf. Er blinzelte und hob leicht den Kopf. Sein Nacken tat furchtbar weh, und als David aufstand, wanderte der Schmerz bis zum Steißbein und darüber hinaus weiter. Die Sonne stand bereits ganz über dem Horizont und schickte Sonnenstrahlen durch die klare, frische Luft, hinein in sein Baumhaus.
Das Licht erhellte es, auch die Ecke, in der David die letzten drei Stunden geschlafen hatte. Er kniete vor einem großen, abgenutzten Rucksack nieder und holte ein kleines, versiegeltes Päckchen heraus. David wusste nicht genau, was es war, aber er wusste, dass es essbar und sogar sättigend war. Ohne das Zeug aus Sebastians Rucksack und den Wasserkanister hätte David dort oben nicht so lange überleben können, das wusste er und dafür war er Sebastian auch ein kleines bisschen dankbar. Manchmal wünschte er sich, Sebastian noch einmal zu fragen, was er da in seinen Rucksack gepackt hatte – irgendwas von der großen Armee – aber dann fiel ihm voller Bestürzung ein, dass er Sebastians Leichnam ja vier Tage nach ihrer Ankunft aus dem Baumhaus geworfen hatte.
Andächtig kauend ließ David seinen Blick durch das Baumhaus schweifen.
Er hatte Angst vor dem Tod, aber noch mehr Angst vor dem Wald.
Der Boden des Baumhauses bestand aus sauberen Eichenholzlatten. Kein noch so kleiner Spalt lag an irgendeiner Stelle zwischen ihnen. Vier massive Stämme bildeten Eckpfeiler, die Brüstung ging David bis zum Bauchnabel.
Manchmal kamen Geräusche aus dem Wald. Aber manchmal... kamen auch Geschöpfe – David verscheuchte den Gedanken. Das Zeug aus Sebastians Rucksack schmeckte seltsam, aber wahrscheinlich, dachte er, verlangte sein Magen wieder nach einer richtigen, guten, saftigen Mahlzeit.
Der Boden des Baumhauses war von einer feinen Staubschicht bedeckt, war an manchen Stellen feucht, wo der Wind etwas Regen hineingeblasen hatte oder David Wasser verschüttet hatte. Sebastians Rucksack lag in einer Ecke, die Decken in einer anderen, ansonsten war das Baumhaus leer.
Ein Knall riss ihn aus seinen Gedanken. David schluckte und legte die angebrochene Portion mit zittrigen Händen wieder in den Rucksack. Er kroch rüber zur Westseite und stemmte sich an den Brettern hoch, sah hinaus, nach unten in den Wald. Sebastian lag ein paar Meter abseits der Stelle, an der er gestern noch gelegen hatte, und David glaubte, dass wieder ein paar Stücke von ihm fehlten, aber er war sich nicht sicher.
Er hob seinen Blick, aber da waren nur Bäume. Überall um ihn herum Bäume, obwohl der Baum, in dem er hockte, der Höchste des ganzen Waldes war, konnte David kaum etwas über seine Umgebung herausfinden.
David wusste nicht, woher der Knall kam.
Er erinnerte sich wieder an den Vorfall vor zwei Tagen, als zwei Männer in Tarnkleidung an dem Baum vorbeigegangen waren. David hatte ganz vorsichtig nach unten gesehen, voller Angst, entdeckt zu werden. Die Männer hatten hektisch gewirkt, sie hatten einen flüchtigen Blick nach oben geworfen, in ein Funkgerät gesprochen und waren weitergegangen, sie waren einen knappen Meter an Sebastians Leiche vorbeigegangen und hatten nichts getan, sie waren einfach wieder weggegangen!
Hier im Wald knallte es oft, aber David hatte jedes Mal aufs Neue Angst, dass etwas Schreckliches kommen und ihn holen würde. Doch auch diesmal kam nichts. Das ständige Rascheln, dass aus allen Himmelsrichtungen zu kommen schien, störte David schon gar nicht mehr.
Er setzte sich wieder hin und beendete seine Mahlzeit.
Das Baumhaus verfügte sogar über einen Wasserkanister, der gefiltertes Regenwasser vom Dach einfing. Ja, Sebastian hatte für alles gesorgt, oder, wie Sebastian mit einem Lächeln gesagt hätte: Die Armee.
Er saß im Schneidersitz vor dem kleinen Tank – er wusste nicht, wieviele Tage er ohne Regen aushalten würde, aber bisher hatte es zumindest jeden zweiten Tag geregnet – und trank das klare, wohlschmeckende Wasser aus einem kleinen Edelstahlbecher, als er die Schreie hörte.
Der Becher landete mit einem hohlen Geräusch auf dem Boden, David warf sich nach hinten, kroch auf allen vieren bis zur Brüstung.
Dumpfes Knallen überlagerte die Schreie, David glaubte, eine kleine, metallische Explosion zu hören. Ein Grollen ertönte wuchs zu einem markerschütternden Brüllen an. Zwei Personen traten in sein Blickfeld, sie liefen rückwärts und schossen mit fremdartigen Feuerwaffen in die Tiefen des Waldes. Dem einen fehlte ein Arm. Weitere Explosionen folgten, irgendwo das Prasseln von Feuer, überlagert von einem animalischen Knurren. Die beiden Männer trugen ähnliche Tarnkleidung wie die beiden, die vor ein paar Tagen da waren. Davids Herz raste, seine Atmung war flach und er verlor die Kontrolle über seine Blase, während er dem Schauspiel unter ihm zusah. Warmer Urin floss seine Oberschenkel herab.
Die beiden Männer blieben stehen, feuerten noch immer wie besessen auf einen Feind, den David nicht sah. Der, dem der Arm fehlte, entdeckte die Überreste von Sebastians Körper, er schrie „Oh mein Gott!“ und hörte senkte seine Waffe, nur noch der andere, kräftigere Mann schoss in den Wald hinein, als plötzlich auf der anderen Seite der kleinen Lichtung ein Schatten zwischen den Bäumen erschien. Der Mann, der beinahe über Sebastians Körper gestolpert wäre, sah ihn zuerst. Er schrie panisch auf, wollte seine Waffe heben und feuern, aber bevor seine Finger sich um den Abzug krümmten, war er schon tot.
Davids Blick war starr auf das Ding gerichtet, das zwischen den Bäumen stand. Es war groß, menschenähnlich und ganz schwarz. Seine beiden Arme endeten in großen, funkelnden Klauen. Mit zwei weiten Sätzen hatte es den einen Mann erreicht und mit einem von einem Brüllen begleiteten, kräftigen Schlag seinen Brustkorb weit geöffnet, Blut spritzte auf seinen Körper, die Waffe, an der noch der Arm hing, klatschte gegen den Baum. Der Mann sank, armlos, vor seinem Mörder auf die Knie, eine Geste voll obszöner Andacht und Herrlichkeit, den Kopf mit den leerern Augen gen Himmel gerichtet. Das Ding biss in seinen Hals und entfernte noch einen Teil der Schulter, als der andere Mann sich umdrehte und mit großen, ungläubigen Augen sah.
Der Mann riss seine Waffe herum, schrie „Nein!“, hämmerte mit seiner behandschuhten Hand auf einen Heben oberhalb des Laufs und verwandelte dann die beiden ineinander verschlungenen Körper in einen Regen aus Blut, Fleisch und Knochen.

David hockte immer noch in seinem Baumhaus und sah dem ungleichen Kampf mit offenem Mund zu. Ein Speichelfaden hing an seiner Unterlippe. Sein Herz raste.
Der Mann fing nun an, wie wild zu schreien, seine Waffe hin und her zu schwenken und zu schießen. Brüllen und Kreischen kam aus dem Wald, Äste brachen, Körper fielen.
Aber er schaffte es nicht alleine. Die Wand aus Schatten näherte sich unweigerlich, schloss einen Kreis um ihn. Er drehte sich um, wollte rennen, aber sie waren überall. Sie waren klein, rannten auf vier Beinen, hatten keine Haare, aber umso größere Zähne. David hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Das waren nicht sowas wie Hunde oder Tiger, die er von früher kannte, bevor der Krieg ausgebrochen war.
Jetzt waren sie da, und es war ein ganzes Rudel. Sie rannten von allen Seiten auf den Mann in Tarnkleidung zu, der nur noch heisere, erstickte Schreie herausbrachte und seine Waffe unter Dauerfeuer von einem geifernden Körper zum nächsten schwenkte. Eine Großzahl der Wesen fiel, Blut färbte den Waldboden, aber es reichte lange nicht. Schon nach wenigen Sekunden sprang eines der Wesen den Mann an, riss ihn mit seinem wuchtigen Körper zu Boden und David konnte nur noch zusehen, wie die Bestien sich um das Fleisch stritten.

Geräusche durchbrachen die klare, frische Luft über David. Erst, als sein Baumhaus wackelte, riss er seine Aufmerksamkeit von den Massaker auf dem Erdboden weg. Er sah sich hilflos um, sah nichts, bis er die Schritte auf dem Dach des Baumhauses hörte. Mit weit aufgerissenen Augen sah er nach oben, aber da war nichts anderes als das gute, alte Baumhausdach. Und noch mehr Schritte, unruhig, hin und her tapste etwas auf dem Dach. David hörte genauer hin, es klang nicht nach richtigen Schritten, irgendwie, dachte er, klang es falsch.
Das Dach barst mit einem ohrenbetäubenden Krachen, ein riesiger, gelber Schnabel erschien, verschwand wieder. David wollte schreien, aber es ging nicht, er brachte nur ein Krächzen heraus, das absurderweise von einem markerschütternden Schrei des mutierten Falken übertönt wurde.
David hastete zu der Öffnung im Boden des Baumhauses, als der Schnabel große Teile des Daches herausriss und in die Tiefen das Waldes schleuderte. Unten saß eines der Hundewesen, einen Beinstumpf im Maul, und sah zu ihm hoch, als würde es warten. David starrte es ungläubig an, ihn überkam das seltsame Verlangen, über diese Situation zu lachen. Doch so stand er nur da, sah einem fetten, fleischigen Monster in die Augen, hielt sich mit einer Hand an der Holzbrüstung fest. Das Baumhaus wurde noch einige Male von Schlägen erschüttert, Davids Herz zog sich in seiner Brust zusammen und er bewegte sich nicht. Sekunden vergingen, bis er sich umdrehte. Der Falke stand im Baumhaus.
David wurde eines der letzten Opfer des Krieges der Natur gegen den Menschen.

 

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