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Beherrschung

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12.08.2004
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Beherrschung

Ich sitze mal wieder im Bus, wie jeden Donnerstag, der zum Glück hinter mir liegt. Im Unterschied zu den anderen Donnerstagen habe ich heute einen Sitzplatz.
Mit Blick auf die Straße.
Eine junge Frau mit ihrer Tochter steigt zu. Ein älterer Herr räumt seinen Sitz und sie nehmen mir gegenüber Platz. Das Kind klettert bei der Mutter auf den Schoß, die sich sofort ihrem spannenden Buch widmet. Es befaßt sich mit dem Zusammenhang zwischen der Nebennierenrinde von Süßwasserfischen und dem Ozonloch auf dem Mars. Das scheint jedenfalls aus dem Bild auf dem Umschlag hervorzugehen. Gewiß eine sehr anspruchsvolle Lektüre. Das etwa vierjährige Töchterchen ist anderer Meinung. Die Kleine würdigt den Schmöker keines Blickes, sondern beginnt sich interessiert im Fahrzeug umzuschauen.
Kleinkinder sind so neugierig. Ich finde das toll. Sollen sie ruhig die Welt in sich aufnehmen, solange sie noch so ist, wie sie ist.
Sie fixiert jeden, der ihr unter die Augen kommt. Richtig so. Hast ja eine große Auswahl. Allerdings hat sie noch nicht einmal die Hälfte der Leute in ihrer Nähe observiert, als ihr Blick auf mich fällt. Es stört mich nicht. Im Gegenteil. Mal etwas Ablenkung. Ich blinzele sie an, wackelte mit den Ohren und schneide Grimassen. Was man eben so macht, um ein Kleinkind zu unterhalten.
Doch sie verzieht keine Miene. Starrt mich nur ohne Unterlaß an. Und bleibt so ernst, als wüsste sie, dass ich meine Jogurtbecher ungewaschen in die gelbe Tonne schmeiße. Einige werden jetzt eventuell annehmen, daß ich vielleicht attraktiv bin oder so. Das muß ich leider verneinen. Bis auf meine abstehenden Ohren gibt´s nichts besonderes, was das andere Geschlecht interessieren könnte. Um ganz sicher zu gehen verstecke ich die Ohren mit dem Schal. Doch ihr Interesse bleibt wach, wie ein hungriger Wolf. Ihr Blick bohrt und bohrt. Ich werde das Gefühl nicht los, daß sie meine innersten Geheimnisse in sich aufsaugt.
Verunsichert schaue ich aus dem Fenster. Sehr interessant. Drei Bäume, eine Kreuzung, zwei Bäume. Da! Noch eine Kreuzung mit Ampel! Ich schiele nach rechts. Vorsichtig, ganz vorsichtig. Mein Blick fällt auf zwei weitaufgerissene Kinderaugen und wird sofort nach draußen geschleudert. Dort ein Ferrari, eine Baustelle und eine Blondine. Ich werde nun doch etwas unruhig. Irgend etwas stimmt doch da nicht. Vielleicht hat sie ja ein plötzlich Lähmung der ...
Ich hebe den Finger und führe ihn vor ihrer Nase von links nach rechts. Die Mutter kommt für einen Moment vom Mars zurück, straft mich mit einem bösen Blick und nimmt dann Blickkontakt mit ihrer Tochter auf.
Oh Befreiung. Ich fühlte, wie eine Last von meinen Schultern weicht. Ein tiefer Atemzug. Wunderbar frische Busluft durchströmte meine Lungen.
Doch da! Ein einer leisen Juckreiz in meiner Nase. Vielleicht durch ein Staubkörnchen oder ... was haben sie heute über das Biowetter gesagt? Aber es ist ja nichts. Eine Andeutung, die das Wohlbefinden nicht beeinträchtig. Iewo. Nur so eine klitzekleine...
Aber es stört mich! Auf eine unterschwellige Weise, beschäftigt es mich. Schon will ich aus alter Gewohnheit mit dem Zeigefinger für Ordnung sorgen, da bemerke ich diese neugierigen Kinderaugen, die wieder auf mir haften, nachdem Mami wieder in fremde Welten aufgebrochen ist. Ich ziehe den Zeigefinger zurück. Natürlich bin ich mir meiner Vorbildfunktion bewußt. Ich beherrsche mich. Für mich gar kein Thema. Beherrschung ist mein zweiter Name. Und noch dazu bei so einem eigentlich gar nicht fühlbaren, ... naja aber vorhanden ist da schon was.
Aber ich kenn´ mich aus. Das verschwindet von selbst. Da ist ein Nerv, der sich falsch verhakt hat. Das geht wieder. Man muß einfach an etwas anderes denken oder sich beschäftigen. Und im Bus ist ja so viel Abwechslung möglich... Man muß ja bloß aus Fenster schauen.
Was man nicht alles sieht. Häuser und Bäume, ja da stehen sie ja, die Birkenpollenbäume, umgeben von diesen ungezügelten vor lauter Samen strotzenden Gräsern...
Ich rümpfte die Nase so gut es ging. Etwas Gesichtsakrobatik zu Auflockerung. Wo ist eigentlich das Taschentuch? In der anderen Hose! Naja wo sonst, das Luder!
Wir haben ja den Psychotrick. Ich schließe die Augen und hebe ab.
Australien - das Land der Wüsten und Steppen. Karge Vegetation. Keine Bäume... Obwohl Eukalyptusbäume gibt es da schon, da kann man nix machen. Aber die sind harmlos, denke ich und außerdem klettern auf denen diese putzigen Bären herum. Ja die Koalabären, die kleinen, knuddeligen Teddys mit den... Aber sind die nicht verwandt mit diesen Nasenbären? Verdammt!
Ich schüttelte mich. Da ist doch gar nichts! Wo denn? Na in dem Riechkolben diesem...Aaaaaah! Ich wische geschwind mit dem Ärmel darüber. Eine reine Routinebewegung. Völlig natürlich und unverfänglich. Noch mal. Doch es verstärkt mein Verlangen nach mehr Ordnung in meiner Nase. Da stimmt doch etwas nicht! Ich spüre, wie das Staubkorn vor lauter Aufmerksamkeit zu wachsen beginnt, wie es sich ausdehnt nach allen Seiten, wo es schon jetzt sowenig Platz hat. Es kribbelt und krabbelt. Instinktiv richtet sich mein rechter Zeigefinger auf. Doch meine linke Hand ist schnell genug, um schlimmeres zu verhindern. Mein flackernder Blick huscht umher. Nirgends kann er sich ausruhen. Er wird getrieben. Und diese Treibkraft ist eine Sprengladung ins der Nase. Ein Hauch von Panik. Ich muß handeln ich, ich muß was tun, ich muß jetzt diesen Finger.... ich höre schon ihre Stimme: "Mami, Mami. Der Junge da bohrt in der Nase."
Und Mami würde eine Bruchlandung hinlegen, ihr Buch schnappen und demonstrativ den Platz verlassen. Und die anderen Fahrgäste würden mich verachtend anschauen, die Nase rümpfen und ausspucken.
„Pfui. Die Jugend von heute. Keinerlei Werte. Hat einen Sitzplatz im Bus und wird nicht mal mit einem kleinen Juckreiz fertig. Pfui, pfui, dreimal pfui.“
Pah die Jugend! Verdammt! Der Jugend beginnt die Nase zu brennen. Ich beiße mir auf die Zunge. Tränen steigen mir in die Augen.
Das Mädchen betrachtet mich mit zunehmendem Interesse. Sie weiß es, das kleine Biest. Sie weiß, wie es in mir kocht. Sie amüsiert sich. Ich ... mmh....Wenn doch diese Nase. Ahhh. Es ist, als ob ein Rudel Ameisen eine Disco in meiner Nase veranstalten würde und diese Disco steht kurz vor der Explosion. Ich beginne zu zittern. Mein ganzer Körper zuckt auf dem Platz herum. Mit beiden Fäusten drücke ich auf der Nase herum. Einige Umstehende treten vorsichtige einige Schritte zurück, andere kommen interessiert näher. Mir egal. Ich springe hoch, dann in die Hocke. Es hilft nichts. Die Ursache liegt tiefer und erfordert einen sofortigen chirurgischen Eingriff meinerseits.
Ich bin entschlossen. Alles egal! Ich hebe die Hand. Die können mich alle mal! Was interessiert mich die öffentliche Meinung. Der Zeigefinger nährt sich dem Ziel. Die linke Hand blockiert von meinem Verlangen. Es gilt! Ein letzter Blick in diese ... großen, anklagenden Kinderaugen und....Nein!
Ich springe zur Tür. Wo ist die Haltestelle? Irgendeine muß doch hier sein! Warum hält der Bus nicht? Egal! Nicht halten! Bloß die Tür auf! Na los! Ihr Säcke! Macht auf... ich hämmere wie wild auf den Knopf. Nichts! Gegen die Tür. Dazwischen. Oaaah. Die Nase löst sich vom Rest, sie fliegt weg, sie springt davon. Ich springe, ich will nicht! Nein! Ohhh. Einige Beherzte halten mich fest. Ich schüttle mich, ich strample, ich beiße. Ahh. Laßt mich krabbeln! Ihr Schweine! Ihr verdammten... Ich will meine Hand! Frei! Mir ist es so egal! Laßt los!
Ein Ruck! Das Zischen der Tür! Luft! Ein Stoß. Ein Flug! Ein Landung, irgendein Knie geht zu Bruch. Ein Griff. Der ganze Finger. Egal, alles egal. Ah! Freiheit! Ah! Diese Befriedigung. Ohh. Wunderbar... Ich dreh´ mich auf den Rücken und blicke hinauf in den Himmel. Der ist schööön. Der Bus fährt mit meinem Rucksack davon. Egal. Ich spüre sie. Diese Anspannung. Wie sie abfließt. Und der Wind spielt mit meinen Haaren. Ich habe große Lust auf eine Zigarette.
Vor mir steht ein kleiner Junge. Er betrachtet mich aufmerksam mit seinen großen, runden Kinderaugen. Dann dreht er sich um und geht wortlos in Richtung seiner Mutti. Jetzt wird er gleich petzen.
Ich höre es schon:" Mami, Mami. Der Junge bohrt in der Nase!"
Na warte.
Ich werde ihm zuvorkommen! Diese Genugtuung will ich auch noch.
"Na und!", brülle ich die erschrockene Frau an. "Wenn´s krabbelt, kann man sich auch mal kratzen! Das ist nichts schlimmes!"
Ihr Blick drückt tiefste Verachtung aus.
„Was interessiert mich das?".
Dann greift sie sich die beiden Einkaufstaschen und geht davon. Ohne das Kind.
Ich will nach Hause.

 

Sorry für meine Ungeduld, das war aber jetzt wirklich die letzte für heute...

 

Moin macsoja (zum Zweiten),

Ja, auch diese Geschichte hat mir wieder ziemlich gut gefallen. Nicht so absurd, wie die mit dem Hundemaler, aber trotzdem sehr unterhaltsam.
Mehr fällt mir dazu auch gar nicht ein... einfach gelungen.

Das etwa 4-jährige
vierjährig besser ausschreiben
Bis auf meine abstehenden Ohren gibt´s nichts besonderes, was das andere Geschlecht interessieren könnte. Um ganz sicher zu gehen verstecke ich die Ohren mit dem Schal.
:thumbsup:
ich krümme mich und stecke das Riechorgan zwischen die Knie und rubbele.
Ich krümme mich, stecke das Riechorgan
Aber der Satz ist für meinen Geschmack ein wenig zu übertrieben und paßt nicht so recht.
Dann greift sie sich die beiden Einkaufstaschen und geht davon. Ohne das Kind.
Mhh... wenn sie nicht die Mami ist, warum geht der Bengel dann zu ihr? Gute Pointe wohlgemerkt, aber irgendwie unlogisch.

 

Merci.

Ja die Geschichten liegen beide ca. 6 Jahre auseinander. Bin derzeit echt dabei, mal durchzuschauen, was man noch nehmen kann und was nicht (keine Bange, ich tue Euch nicht alles an). Und es freut mich, daß diese älteren Schülergeschichten auch noch gut ankommen.

Änderungen habe ich übernommen.

Das mit den Knien. Kennst Du das nicht, wenn man die Nase zwischen den Knien versenkt und sich so die Nase reibt? Neee? Gut, habe ich raus genommen, wenn das kein Bild ergibt.

Ja der Junge geht natürlich nur in die Richtung der Frau und unser Protagonist mißinterpretiert es.

Ich hoffe, es ist jetzt etwas deutlicher.

bis bald

mac

 

Hi nochmal!

dass ich meine Jogurtbecher ungewaschen in die gelbe Tonne schmeiße.
:thumbsup:

Iewo. Nur so eine klitzekleine...
Iewo??

Da ist ein Nerv, der sich falsch verhakt hat.
Das klingt etwas merkwürdig.

Das Ende verwirrt mich etwas? Ist der kleine Junge jetzt nicht der Sohn der Frau?
Ansonsten habe ich mich köstlich amüsiert, ohne Frage, sehr lustig und anschaulich beschrieben.
Da muss man gar nicht mehr schreiben, oder?

In diesem Sinne
c

 

Danke, das ist eine von meinen alten Schülergeschichten, die ich noch unter Kishon-Einfluß geschrieben habe und es bestärkt mich, da die besten mal rauszusuchen, noch mal etwas zu straffen und vorzustellen.

Das ganze kann man dann zusammenfassen in einem Büchlein:
"Ich will doch nur das Abitur" oder "Ich lach´ mir´n Ast als Gymnasiast"

Naja, obwohl ich schau lieber nochmal bevor ich mich hier zu sehr aus´m Fenster lehne. :sealed:

Zu Deinen Anmerkungen:

Sagt man das bei Euch nicht: "Iewo" oder "Iiiiwoo" so nach dem Motto: "Nein, überhaupt nicht" "Niemals, ganz ausgeschlossen" "Nein, völlig unmöglich"

Da ist ein Nerv, der sich falsch verhakt hat

Früher stand da: Das ist ein Nerv der sich falsch verknispelt hat. ;)

Nee der Junge ist nicht der Sohn, das ist ja die Krux, er brüllt eine völlig fremde Frau an, weil er denkt, es ist ihr Sohn.
Und ich finde halt die Situation absurd, eine Frau steht da und wird von einem Typen angebrüllt und weiß gar nicht, was Phase ist.
Eine Frage in die Runde:
Ist Euch das auch nicht klar mit dem Jungen? Dann mache ich es deutlicher (was komplizierter ist, denn ich will ja nix verraten)

viele Grüße

mac

 

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