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Blackout
Blackout
Eine Stimme. Eisern. Anklagend. „Und dann ist er zu uns gekommen und hat gesagt, wir spielen jetzt König und Sklaven und er ist der König und wir sind alles seine Sklaven und als wir nicht wollten hat er geprügelt.“
Die eigene. Weinend. Schreiend. „Nein! Das stimmt gar nicht! Das ist eine Lüge! Das stimmt gar nicht! Das stimmt nicht!“
Die Lehrerin. Aufmerksam. Beruhigend. „Ich denke, er wird so etwas nicht mehr tun und ihr lasst ihn dafür mit euch spielen. Abgemacht? Also abgemacht. Und nun setzt euch wieder auf eure Plätze, damit wir noch ein bisschen Unterricht machen können.“
Murmelnd. „Eine Lüge. Es ist eine Lüge.“
Diese Szene hatte sich abgespielt, da war ich in der dritten Klasse. Die anderen Kinder wollten nicht mit mir spielen. Ich ging zur Lehrerin, die einen Sitzkreis initiierte, in dem jeder seinen Senf zu dem Thema abgeben konnte. Einer der Jungen tat das dann auch. In der Situation war ich fest davon überzeugt, dass er log. Doch noch im gleichen Moment kamen Zweifel. Ich wusste, dass ich schnell Dinge vergaß, Hausaufgaben, Arbeiten, die mir zuhause aufgetragen wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Ich war halt vergesslich. Na und? Bestenfalls Anlass zu schlechten Witzen. Na, du findest wohl jeden Tag neue Freunde? Nun war es anders. Der Junge beschuldigte mich eines, den Stellenwert hatte es für mich und die anderen Kinder damals, Verbrechens. Doch ich war kein Verbrecher. Ich war unschuldig. Warum log er? Warum erkannten die anderen nicht, dass er log? Warum schwiegen sie? Nahmen still hin, wie ich vor den Richter geführt wurde. Bestätigten den Verrat, schweigend. War es abgesprochen? Nein, dazu hatte ich mich zu spontan beschwert, sie hatten keine Zeit dazu gehabt. Doch hatten sie auch keinen Grund, kein Motiv des Rufmordes an meiner Person. Warum dann? Hatte das verabscheuungswürdige Ereignis tatsächlich stattgefunden? War es gar keine Lüge, schwiegen sie deshalb? Brauchten sie gar nichts zu bestätigen, denn brauchte die Wahrheit Bestätigung? War ich an diesem verdammten Tag zu ihnen gegangen, sie zu unterwerfen, mutwillig, mit Worten und Gewalt? Hatte ich es einfach nur vergessen? Für zu unwichtig befunden? Oder lag das Problem an einer anderen Stelle? Nicht an meinem Bewusstsein. Nicht an meinem Wesen. Nicht an meiner Persönlichkeit. Sondern an meinem Körper. Meinem Gehirn. Hatte ich ein Blackout?
Nachdem wir den Unterricht wieder aufgenommen hatten, weinte ich noch ein wenig in mich hinein. Bis zum nächsten Tag schmollte ich. Dann hatte ich meine verfänglichen Gedankengänge – vergessen.
Ich hätte mich auch nicht wieder daran erinnert. Zum einen, da man unangenehme Erinnerungen immer verdrängt, oder beschönigt. Zum anderen, da man derart tiefsinnige Gedanken eines Kindes wohl nicht allzu ernst nehmen kann. Oder darf. Doch als ich letzte Woche beim Frühstück die Zeitung aufschlug, da wurde mir schlecht. Eine junge Frau, Ende 20, war ermordet worden. Im Stadtpark. Nichts Ungewöhnliches. So was liest man alle Tage. Dann denkt man, wie schlecht doch die Welt ist, dass doch der Mörder hinter Schloss und Riegel gehört, dann beißt man in seine Stulle, nimmt einen Schluck Kaffee und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Doch diesmal war es anders. Der Mord geschah am Abend. Die Frau war erstickt worden. Nicht erwürgt, man hatte ihre Zunge so lange mit aller Gewalt in die Kehle gedrückt, bis sie nicht mehr atmete. Dann war das Opfer vergewaltigt worden. Daraufhin wurde die Leiche entkleidet und auf eine zugewachsene Bank gelegt. Die Kleidungsstücke fand man in etlichen Mülleimern verteilt. Die Polizei bat um Hinweise.
Die grenzenlose Grausamkeit des Verbrechens schockierte mich. Doch was mich noch mehr schockierte war die Tatsache, dass ich an jenem Abend durch jenen Park spaziert war. Es war ein kalter Wintertag gewesen, ich hatte meinen langen Mantel und die Lederhandschuhe getragen, den Hut tief ins Gesicht gezogen, so wie immer. So wie immer, weil ich keinen direkten Blickkontakt ertragen konnte. Ich fühlte mich dann immer ertappt. In mir stieg dann immer ein Gefühl der Schuld auf. In allen Punkten schuldig. Ich weiß noch, wie ich mich an dem Abend, ich war zu Hause angekommen, geärgert hatte, dass der Schnee, den ich so gerne von den Autodächern strich, ein schönes Gefühl, der weiche Schnee und darunter eine dünne Schicht hartes Eis, das an den Fingerkuppen prickelt, meinen einen Handschuh so völlig durchnässt hatte, ich spürte es erst jetzt, da ich ihn auszog, so richtig. Dies war die einzige Erinnerung, die ich von meinem abendlichen Spaziergang hatte. Nein, nein, nicht ganz. Ich war losgegangen, gegen sechs Uhr. Ich hatte sogar überlegt, ob ich nicht eine andere Hose anziehen sollte, wegen dem Schnee. Sechs Uhr. Doch war ich nicht erst um halb neun zu Hause angekommen? Was lag dazwischen? Zweieinhalb Stunden gedankliches Niemandsland. Zweieinhalb Stunden Leben, die einfach so verschwunden waren. Ich vergaß, dass ich mir die Zähne geputzt hatte, dass ich die Haustür zweimal abgeschlossen hatte, ich vergaß, dass ich zwanzig Liter getankt hatte, dass ich für vier Euro in der Kantine gegessen hatte, ich vergaß, dass ich mir die Zeitung am Kiosk um drei Ecken gekauft hatte, dass der Bus fünf Minuten Verspätung gehabt hatte und dass er voll besetzt war und ich stehen musste. Und ich vergaß, dass ich zweieinhalb Stunden im Stadtpark spazieren gegangen war. Zweieinhalb Stunden grenzenlose Freiheit, grenzenlose Leere, die gefüllt werden wollte. Hatte ich die Frau getötet? Ich legte die Zeitung beiseite und versuchte mich zu erinnern. Nein, es blieb, das schwarze Loch in meinem Kopf, das nichts mehr preisgab. Ich fasste mit beiden Händen an die Schläfen, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und drückte so feste ich konnte. Dann setzte ich mich aufrecht hin. Nichts. Als ob dieser absurde Vorgang mein Erinnerungsvermögen angeregt hätte. Wie naiv. Es brachte nichts, zweieinhalb leere Stunden blieben zweieinhalb leere Stunden. Zweieinhalb Stunden verlorenes Leben.
Also bemühte ich die Logik. Der Park lag etwas außerhalb, ich brauchte etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten dahin. Im Sommer und bei guten Bedingungen. Doch es war Winter und wenn ich die Ampeln einkalkulierte, dann kam ich auf dreißig Minuten. Hin und zurück entfiel also eine Stunde. Eine Stunde. Blieben noch eineinhalb Stunden für die Tat. Da ich ausgedehnte Spaziergänge bevorzugte, hatte ich mir schon früh eine Stammroute, den längst möglichen Weg durch den Park erkundet. Erst einmal um den Park, zum Ausgangspunkt, dann dem Hauptweg durch den Park folgend, dann durch die kleinen Pfade treiben lassen, zurück zum Ausgangspunkt. Der Park hatte einen Umfang von ca. drei bis vier Kilometern und maß an der breitesten Stelle zwei Kilometer. Ich brauchte also etwa vierzig Minuten, den Park zu umrunden, sagen wir fünfundzwanzig Minuten, den Park zu durchqueren und hatte somit noch fünfundzwanzig Minuten für das Schlendern durch die halb zugewachsenen Pfade und Wege. Ich musste gestehen, ein Mord war in diesem Zeitraum möglich. Doch auch ein solcher? Der Mord konnte nicht in der Öffentlichkeit geschehen, denn obwohl es Abend und Winter war, wimmelte es in dem Park noch von Bettlern, Halbstarken und braven Bürgern wie mir, die sich vor dem Zu-Bett-Gehen noch mal die Beine vertreten wollen. Also auf den Pfaden und hinter den Dickichten. Doch ich konnte die Zeit genutzt haben, um mein Opfer auszuspähen. Ich war also wie gewohnt spazieren gegangen und hatte dabei mein Opfer ausgespäht. Einsame, attraktive junge Frau. Jetzt musste ich ihm folgen, bis es einen Trampelpfad betrat. Wie lange mochte das dauern? Fünf, zehn Minuten? Und wenn die Auserkorene den Park verließ? Ich musste ein neues Opfer suchen. Dies hätte wieder Zeit in Anspruch genommen und den Rahmen gesprengt. Sie verließ den Park also nicht und schlug nach zehn Minuten auf einen Pfad ein. Ich durfte während des Spähens und Verfolgens nicht zu nah dran sein, das wäre aufgefallen. Folglich musste ich jetzt aufholen. Aber nicht zu schnell, auch das wäre aufgefallen. Also zweieinhalb bis fünf Minuten, um sich an sie heran zu tasten. Blieben nur noch knapp zehn Minuten für die Tat. Wie lange dauerte es, einen Menschen zu ersticken? Ich erinnerte mich an Jugendwetten, wer die Luft länger anhalten konnte. Über eine halbe Minute kam man selten. Ein gut trainierter Taucher schafft bis zu zwei Minuten. Also eine Minute Überwindung, das heißt, die Frau anhalten, Ruhigstellen und in ein Gebüsch zerren. Bis man zum Mord bereit ist, dauert es etwas, die Finger sind kalt und das Opfer wehrt sich. Es vergehen also drei Minuten bis zur Tat. Dann selbige. Zwei bis drei Minuten, man muss sicher sein, dass das Opfer auch tot ist. Bleiben noch fünf Minuten oder etwas mehr zur Schändigung, Entkleidung und Verteilung der Kleidungsstücke. Das ist zu wenig. Ich lehnte mich zurück und starrte leer auf die Zeitung. Rein rechnerisch war es nicht möglich, dass ich der Täter war. Ein Motiv hatte ich auch nicht. Aber eines machte mir Angst. Wieso konnte ich mir so genau ausmalen, wie die Tat wohl vonstatten gegangen war? Eine derartige kriminelle Energie hatte ich mir gar nicht zugetraut. Egal, meine Phantasie ging mit mir durch. Ich war kein Mörder, ich war zweieinhalb Stunden meine gewohnte Runde gegangen, von sechs bis halb neun. Doch hätte ich nicht etwas von dem Mord mitbekommen haben müssen? Ein Zweifel blieb.
Man kann sich das als Außenstehender schlecht, oder gar nicht vorstellen. Es ist nicht die Tatsache, dass man vergesslich ist. Viele Leute sind vergesslich. Die Vergesslichsten sind die Politiker, besonders nach der gewonnenen Wahl. Nein, es ist nicht die Vergesslichkeit. Es ist der Zweifel. Der Zweifel und die Hilflosigkeit. So schwer es ist, sich das vorzustellen, es ist noch schwerer, es zu beschreiben. Ich versuche es mit einem Beispiel.
Ich verlasse morgens das Haus, ein wunderschönes kleines Reihenhäuschen, das ich mir leisten kann, geradeso, und ziehe die Tür hinter mir zu. Kaum hundert Meter gegangen fangen sie an. Die Zweifel. Schreckliche, nagende Zweifel. Habe ich die Tür abgeschlossen? Habe ich sie einmal oder zweimal abgeschlossen? Oder gar nicht? Soll ich zurückgehen, es überprüfen? Aber ich gehe weiter und bald lohnt es sich nicht mehr. Bald wäre es ein unwiederbringlicher zeitlicher Verlust. Aber wenn eingebrochen wird? Und es ist meine Schuld. Weil ich die Tür nicht abgeschlossen habe. Ach, quatsch, man kann von außen nicht sehen, ob abgeschlossen ist, oder nicht. Aber verschlossene Türen sind schwerer zu öffnen. Soll ich umkehren? Ich bin schon zu weit. Aber was alles gestohlen werden könnte.
Derartige Zwiegespräche entspinnen sich dann ganz ohne eigenes Zutun im Kopf. Und man ist dazu verurteilt, ihnen zu lauschen. Erst zeigt er seinen kleinen Zeh, doch wenn man nicht aufpasst, setzt er sich fest. Der Zweifel. Er nimmt langsam Besitzt von einem. Erst denkt man, ist doch egal, ob ich abgeschlossen habe oder nicht. Doch dann breitet er sich immer mehr aus. Der Zweifel. Und man grübelt, was passiert, wenn ich nicht abgeschlossen habe? Bald ist er der Herr über Gefühle und Gedanken. Der Zweifel. Und man bleibt stehen und blickt sich um. Ist der Herr mit Schirm dort der Einbrecher? Kundschaftet er aus? Wer seine Haustüren nicht abgeschlossen hat? Und man blickt in Richtung Haus. Und dann geht man zurück, man geht den ganzen Weg zurück, fast eineinhalb Kilometer, man ist beim Grübeln ja immer weiter gegangen, man biegt in die Straße ein und sieht schon sein Haus, und am Straßenrand geht der Herr mit Schirm, man wechselt die Straßenseite, man möchte mit diesem Herrn mit Schirm nichts zu tun haben, bald ist man da, nur noch ein paar Schritte, zehn Meter, man steht vor der Tür, man zieht den Schlüssel - sie ist abgeschlossen. Und in dir lacht der Dämon, lacht und lacht, und du schämst dich. Du schämst dich, dass du zurückgegangen bist, dass du eine verschlossene Tür abschließen wolltest, dass du zu spät ins Büro kommst. Und breit grinsend verabschiedet sich der Zweifel. Etwas verwirrt blickst du dich um. Du bist in der Gegenwart, wie aufgewacht, aus einem schlechten Traum. Der Herr mit Schirm ist an der Bushaltestelle stehen geblieben. Und langsam verlässt er dich, der Zweifel. Bald ist sein Grinsen verschwunden. Bald fühlst du dich wieder frei. Du kannst frei atmen. Alles ist in Ordnung. Du denkst, es ist vorbei. Doch du hast den kleinen Zeh übersehen, den der Zweifel immer noch in der Tür zu deinem Gehirn hat.
So fühlte ich mich auch damals. Ich warf die Zeitung zur Seite. Ich aß zu Ende und ging ins Bad. Denk nicht mehr daran. Wenn ich doch überhaupt nicht denken könnte. Welch ein Segen müsste das sein. Nichts mitbekommen. Der Umwelt völlig gleichgültig entgegen grinsen. Freilich, für meine Umwelt wäre das nicht schön. Doch mir wäre es egal. Ich würde ja nicht darüber nachdenken.
Menschen, die vom Wahnsinn befallen werden, haben zuvor zuviel gedacht.
Ich zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Ich hatte Zeit, es war Samstag, und ich hatte nichts vor. Ich stellte eine angenehme Temperatur ein und ließ Liter um Liter an mir vorbei rauschen. Stand einfach unter dem sanften Strahl Wärme. Die Augen geschlossen. Ich taste nach dem Hahn und stellte langsam wärmer. Ein wohliges Gefühl stieg in mir auf. Dann öffnete ich die Augen. Mein Körper hatte ob der Wärme einen leichten Rotton angenommen. Ich blickte an mir hinab. Die biedere Statur. Brachte sie die Kraft auf, einen Menschen zu überwältigen? Das schlaffe Geschlecht zwischen den Schenkeln. Wurde es durch Bestialität gereizt? Die kleinen, verschrumpelten Hände. Hatten sie den Mord begangen? Klebte an ihren Flächen Blut? Musste ich es abwaschen, die Schuld abwaschen, die ich mir aufgeladen hatte? Ich griff zu einer kleinen rauen Bürste und schrubbte einmal über die eine Handfläche. Ich hielt inne und starrte darauf. Würde einmal schrubben reichen? Ich nahm die Bürste in die andere Hand und schrubbte kurz über die zweite Handfläche. Hatte ich mich somit von der Schuld rein gewaschen? Ich schrubbte nochmals, fester, auch die andere Hand wieder. Nein, nein, die Schuld war da, zweieinhalb Stunden Schuld, ungesühnte Schuld, wer sollte mich erlösen, wem sollte ich den Mord beichten, den Mord, von dem ich nicht einmal wusste, ob ich ihn begangen hatte. Ich schrubbte und schrubbte, fester und fester, und dann sah ich es, das Blut, das an meinen Händen klebte, der Beweis, dass ich der Mörder, der Wahnsinnige, die Bestie vom Stadtpark war, das Blut an meinen Händen, das meine Schuld in die ganze Welt hinausschreien wollte, ich musste es abwaschen, ich musste es abwaschen. Schmerzen quälten meinen Körper, Teufel bereiteten mich auf die Höllenqualen vor, Dämonen lachten über mich. Ich schrie und schrie vor Schmerz und Verzweiflung und schrubbte und schrubbte, weinte und schluchzte. Doch je mehr ich schrubbte, desto mehr Blut klebte an meinen Händen, bald floss es, bald fiel es in dicken Tropfen auf den Boden der Dusche, auch den Ratten und Kanalarbeitern meine Schuld zu verraten. Es narrte mich, das Blut, der Zeuge meiner Schuld, es narrte mich und ich schrubbte und es wurde mehr und es schmerzte und ich schrie und brüllte.
Als ich die Augen aufschlug, starrte ich in unendliches Weiß. Ich blickte an mir hinunter und sah mich in das gleiche Weiß gehüllt, wie ich erblickt hatte. Ich hob meine Arme und fand meine Hände ebenfalls weiß verhüllt. War ich im Paradies? War ich tot? Ich wendete den Kopf und erkannte ein Fenster. Es deutete auf einen Korridor, in dem sich viele Menschen bewegten. Das Bild war unscharf. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte einige Krankenschwestern, dann eilte ein Doktor vorbei. Es war ein Reflex.
„Ich bin nicht verrückt!“
Ohne nachzudenken hatte ich geschrieen. Noch mal.
„Ich bin nicht verrückt!“
Dann schwieg ich. Mein Gehirn arbeitete. Das wollten sie doch. Durch meinen Protest hätten sie den Beweis. Hätten den Beweis, dass ich verrückt bin. Ich bin nicht verrückt! Also schwieg ich. Schwieg und starrte in das unendliche Weiß. Und beruhigte mich. Bald darauf kam ein Doktor. Er klärte mich auf. Nachbarn hatten mein Geschrei gehört und die Polizei informiert. Diese hatte die Haustür aufgebrochen und mich bewusstlos unter der Dusche gefunden, in einer Lache von Blut. Meinem eigenen Blut. Ich hatte mir die Handflächen mit der Bürste bis aufs Fleisch aufgerissen. Man hatte mich ins Krankenhaus gebracht, wo man mir ein Beruhigungsmittel, Schmerzmittel verabreicht und die Hände verbunden hatte. Und nun lag ich da, in meinem weichen weißen Krankenhausbett, es war Abend geworden, der Abend des selben Tages, und ich konnte jederzeit aufstehen und nach Hause gehen. Ich war nicht verrückt.
Und das tat ich dann auch. Ich stand auf und ging nach Hause. Nachdem ich den Taxifahrer bezahlt hatte, trat ich nicht sofort ein. Ich blieb vor meiner Haustür stehen. Das Holz um das Schloss herum war geborsten und gesplittert. Das Schloss selbst war gebrochen, der Bolzen heraus gefallen. Man konnte die Tür ganz einfach aufdrücken. Ich tat den Schritt über die Schwelle und kam mir vor wie ein Fremder. Nichts war mehr wie vorher. Nichts würde mehr wie vorher sein. Langsam wurde mir klar, was ich getan hatte. Und mir wurde kalt. Ich hatte ein Blackout gehabt, und während dieser Zeit wahrscheinlich einen Menschen getötet. Ich hatte in einem Anfall von Wahn meine Hände derart verletzt, dass ich sie kaum bewegen konnte. Jetzt, wo das Beruhigungs- oder Schmerzmittel nachließ, tat es weh. Ich hatte mich verhalten, wie ein Wahnsinniger. War ich wahnsinnig? Mit Mühe fasste ich den Telefonhörer und rief einen Schlossernotdienst an. Um auf ihn zu warten, setzte ich mich auf die Treppe. Und wie ich da so saß, einen geliehenen Mantel aus dem Krankenhaus tragend, darunter das Krankenhemd, die Hände verbunden, da fing ich an zu weinen. Ob aus Selbstmitleid oder aus Trauer um die junge Frau, ich weiß nicht, warum, aber Tränenbäche liefen meine Wangen herab und ich weinte und schluchzte, als würde ich meiner eigenen Beerdigung beiwohnen. Dieser ominöse Vorgang wurde durch das Klopfen des Schlossers unterbrochen. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und ging zu ihm. Nachdem die Lage erklärt war, begann er mit der Arbeit. Mich beschäftigte währenddessen das Zubereiten eines Abendbrotes. Beschäftigungstherapie. Selbstverordnete. Die Rechnung für das neue Schloss würde saftig ausfallen, sie sollte mir zugeschickt werden, aber wenigstens konnte ich jetzt wieder grübeln, ob ich die Tür abgeschlossen hatte oder nicht.
Nach dem Abendbrot hatte ich kein Interesse an Fernsehen oder anderer Beschäftigung, sondern ging, obwohl ich den ganzen Tag verschlafen hatte, ins Bett. Ich fühlte mich grenzenlos erschöpft. Doch als sich meine Augenlider senkten, trat nicht der gewünschte Effekt der Dunkelheit ein. Vor mir war das Bild einer jungen Frau. Sie lag hinter einigen Büschen auf verschneitem Gras. Sie war nackt. Ob sie fror? Da bemerkte ich einen breiten Fluss Speichel, der aus ihrem Mund rann, sie hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt, und eine kleine Pfütze im Schnee formte. Und nun wirkte sie recht bleich. So bleich wie der Schnee. Ich erschrak. Sie war tot. Doch wenn sie tot war, wie wendete sie den Kopf? Sie wendete ihn und starrte mich mit riesigen, leeren Augen an. Augen, so tief und blau, wie die See der Arktis, und genauso kalt. Und sie tat nichts weiter, als mich anzustarren. Ich schreckte hoch. Schweißgebadet saß ich aufrecht in meinem Bett, in meinem Zimmer, in meinem Haus. Ein Alptraum. Nur ein Alptraum. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Dann legte ich mich wieder zurück, versuchte mich zu entspannen, schloss die Augen. Doch die erlösende Dunkelheit stellte sich nicht ein. Vor mir war das Bild einer jungen Frau. Sie starrte mich unentwegt aus ihren kalten und starren Augen an. Dies Bild war noch schrecklicher und realer als das vorherige, doch was mich noch mehr schockierte, war die Widerholung. Die Tatsache, dass es wiederkam. Ich wachte auf. Einbildung. Ich schloss die Augen. Da war es wieder. Immer wieder. So wollte, so konnte ich nicht schlafen, mit dem Bildnis meines potentiellen Opfers vor Augen. Also wollte ich gar nicht schlafen. Mit einer Flasche Wein setzte ich mich vor den Fernseher und verbrachte die Nacht mit dem stupiden Durchschalten der 24 Kanäle, die mir zur Verfügung standen. Von Kanal 1 bis Kanal 24. Dann wieder. Von Kanal 1 bis Kanal 24. Bis es Morgen wurde.
Ich wollte nicht auch noch den Tag mit sinnlosem Zappen verbringen und zog mich um. Wenige Momente später fand ich mich auf der Straße wieder, in Richtung Innenstadt gehend. Die frische Luft tat mir gut, und ich wollte mir in einigen Dingen Klarheit verschaffen, sprich, ungestört und frei nachdenken können. Mehrere Feinde hatte ich nun gegen mich, die eine unheilige Allianz geschlossen hatten. Zum einen war da der schon erwähnte Zweifel, mit allen seinen Folgen. Dazu kam die Angst. Angst, tatsächlich wahnsinnig zu werden oder schon zu sein. Eine Angst, die einem keine Ruhe lässt. Jede Tat, jede Bewegung, jeden Gedanken eines selbst beobachtet man, prüft und sucht, ob da nicht etwas Verfängliches ist, etwas, das darauf hinweisen könnte, dass man die Schwelle schon überschritten hat, dass die Menschheit nicht mehr sicher ist, dass das soziale Umfeld durch die geschlossene Abteilung ersetzt werden muss. Und man beobachtet die Mitmenschen, die Normalen, die ihre Wege gehen, als sei nichts gewesen, beobachtet sie, zu sehen, ob sie das Spiel durchschaut haben, jede Bewegung, jedes Zucken mit der Braue, jeden verstohlenen Blick fängt man auf und analysiert, ob sie es denn schon ahnen, schon wissen. Man erwartet förmlich, dass jemand um die Ecke biegt und ausruft: „Seht mal, den Verrückten, der gehört doch in die Klapse!“, und die Umstehenden: „Wie kann man so was nur frei rumlaufen lassen? Unmöglich!“ Doch nichts passiert. Und das macht noch mehr Angst. Vielleicht haben sie sich verschworen? Angst. Ein großer Feind. Aber nicht der gefährlichste. Der gefährlichste sitzt in einem selbst, ist das Gehirn. Eine erste Waffe dieses Feindes hatte ich schon kennen gelernt. Alpträume. Durch Alpträume folterte mich mein Gehirn. Es folterte mich mit Schlafentzug, denn ich durfte nicht schlafen, wenn ich den Alpträumen nicht ausgesetzt sein wollte. Und ich war mir sicher, dass ich, jedes Mal, wenn ich versuchen würde zu schlafen, genau diesen einen Alptraum erleben würde, wie ich ihn oben geschildert habe. Doch war dies sicherlich nicht die einzige Waffe. Mit der Zeit würde ich Wahnvorstellungen bekommen. Vermutlich würde mir die Frau auf offener Straße begegnen. Ob ich wegrennen würde? Wegrennen, vor dem eigenen Gehirn... Nein, vor diesem Feind konnte ich nicht fliehen. Ich musste mich ihm stellen. Zweifel und Angst waren überwindbar. Ich konnte den Zweifel beiseite schieben, nicht beachten, übergehen. Das konnte ich, das war kein Problem. Der Angst konnte ich mit Logik entgegentreten. Woher sollten die Menschen um meinen geistigen Zustand wissen? Ich musste mich einfach normal verhalten. Doch was war schon normal? Ich würde einfach stereotype Handlungsmuster kopieren. Es würde nicht auffallen, dass ich ein mordender Psychopath war. Und welchen Grund hatten sie schon, sich gegen mich zu verschwören? Auch die Angst konnte überwunden werden.
Wie jedoch sollte ich mein Gehirn überlisten? Konnte ich meinem Körper, konnte ich mir selbst überhaupt noch trauen? Waren die Bewegungen, welche ich vollführte, meinem Willen Untertan, oder Produkt der teuflischen Masse, die ich mit mir spazieren trug? Den Alpträumen konnte ich entgehen. Ich würde in die nächste Apotheke gehen und mich mit Aufputschmitteln eindecken. Ich wollte nicht mehr schlafen. Wie heißt es in einem Kirchenlied? Kömm, oh Tod, du Schlafes Bruder! Ja, komm Tod, komm, nimm mich, ich, der ich gemordet habe, bin in deinem Reich besser aufgehoben, als auf dieser schmutzigen Erde. Ich wollte nicht mehr schlafen. Ich wusste, das würde den Tod für mich bedeuten. Ich freute mich darauf. Alles war besser, als das Dahinvegetieren, welches mir bevorstand. Und plötzlich stand ich vor meinem Ziel. Unbewusst war ich darauf zu getrieben, doch letzten Endes hatte ich es erreicht. Ich stand vor der Apotheke in der Fußgängerzone. Eine Weile starrte ich ins Schaufenster, ohne wirklich zu sehen. Dann erkannte ich, was ich mit unfokussiertem Blick gesucht hatte. In der Auslage fand sich ein Mittel gegen Erinnerungsschwund. Zu wenig Sauerstoff im Gehirn sei dafür verantwortlich, hieß es auf einem beistehenden Plakat. Das Präparat sorge angeblich dafür, dass dieser Mangel ausgeglichen werde. War dies die Rettung? Ich betrat die Apotheke. Nach einer halben Stunde stand ich wieder auf der Straße. In der Tüte, die ich trug, fanden sich ein Muntermacher, ein Präparat gegen Depressionen und erwähntes Mittelchen gegen Erinnerungsschwäche. Je zwei Packungen. Ausführlich hatte ich mich von der Apothekerin beraten lassen, und als ich bezahlt hatte, meinte sie noch, ich solle aber auf jeden Fall mit meinem Hausarzt sprechen, bevor ich die hochkonzentrierten Medikamente einnehme. Aber ja doch, ich wende mich dann an meinen Psychologen.
So ausgerüstet in meinem Kampf gegen mich selbst schlenderte ich noch ein wenig durch die Gassen. Dabei kam ich zufällig an der Polizeiwache vorbei. An einem großen Fenster hingen von Innen angebrachte Plakate mit Aufrufen an die hoffentlich hilfreiche Bevölkerung. Unter diesen fand sich auch ein Zettel, der den Fall der jungen Frau im Stadtpark behandelte. Er maß DIN A4. Soviel bleibt von einem Leben übrig. Ein DIN A4 Zettel an einem Polizeiwachenfenster. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass möglicherweise ich dafür verantwortlich war, ich, dass von diesem Leben nichts weiter als ein DIN A4 Zettel übrig geblieben ist, und dass ich das eigentlich ändern sollte. Eigentlich sollte ich mich nicht in meinem Reihenhäuschen verbarrikadieren und nicht mehr schlafen wollen, eigentlich sollte ich jetzt da rein gehen. Ich sollte da rein gehen und sagen: „Hier bin ich, der Stadtparkmörder, hier bin ich, sperrt mich ein.“ Zögerlich schob ich die Schwingtür auf und trat ein. Der Beamte am Schalter begrüßte mich höflich. „Was kann ich für sie tun, mein Herr?“ „Hier bin ich, der Stadtparkmörder, hier bin ich, sperrt mich ein.“ Er wurde blass. Dann holte er zwei Kollegen. Man führte mich in ein Zimmer und nahm meine Personalien auf. Dann wurde ich eingesperrt.
Die Zelle war dunkel. Ich nahm meinen Hut ab und zog meinen Mantel aus. Den Mantel legte ich sorgfältig zusammen und platzierte ihn dann auf dem einzigen Stuhl, der in der Zelle war. Den Hut legte ich darauf. Ich setzte mich auf die Pritsche. Sie war hart. Die Wände waren kalt. Ich war nicht allein. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass in dieser einsamen Zelle noch jemand anwesend war, eine nicht greifbare Existenz. Ich wendete den Kopf und da war sie, saß an meiner Seite und starrte mich aus leeren Augen an. Die junge Frau. „Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“
Dies ist nun alles wohl vier Jahre her. Im Nachhinein finde ich es bemerkenswert, wie ein erwachsener, vernunftbegabter Mensch innerhalb nur eines Wochenendes wahnsinnig werden kann. Mein Nebenstudium in Psychologie zahlte sich nun aus. Ich hatte alle Symptome vorausgesehen. Die Zweifel, die Angst, die Alpträume, Wahnvorstellungen, Halluzinationen, alles war eingetreten. Das Faszinierendste jedoch, ist, finde ich, dass ich mir all dessen bewusst war und bin. Ich konnte quasi den Verlauf meines geistigen Verfalls studieren. Das war höchst interessant. Und, wie schon oben erwähnt, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass ich verrückt geworden bin, weil ich zuviel nachgedacht habe. Nachgedacht, was ich in diesem Blackout gemacht oder nicht gemacht habe. Nachgedacht, über das was war und ist und sein wird.
Nach meiner Festnahme führte man einen DNA-Test durch. Dieser ergab, dass ich nicht der Mörder war. Dies nutzte mir leider wenig, da meine geistige Verfassung zu wünschen übrig ließ. Ich wurde eingewiesen. Seit vier Jahren befinde ich mich nun schon in der Klink für mental Geschädigte. Nach einem Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung habe ich meine Krankheit mittlerweile so gut unter Kontrolle, dass mir sogar Freigänge genehmigt sind. Dies sollen meine letzten Zeilen werden. Verzeihen Sie mir, Professor. Das Werkzeug dafür habe ich mir auf einem dieser Freigänge besorgt. Neben mir sitzt Proserpina, wie ich die namenlose Tote nach der Gemahlin von Hades, dem Herrn der Unterwelt, getauft habe. Sie sitzt da, wie immer, nackt, und starrt mich mit ihren leeren Augen an. Sie öffnet den Mund zu einem Lächeln, dabei fließt Speichel aus den Mundwinkeln. Sie ahnt, was ich vorhabe. Ich lächle zurück. „Du bist nicht real“, flüstere ich. „Du existierst nur hier.“ Dabei tippe ich mir leicht an die Schläfe. „Aber nicht mehr lange.“ Dies ist kein Leben. Einen ewigen Kampf gegen sich selbst, den kann niemand führen. Nicht Medikamente haben geholfen. Nicht mein Wille.
Ich bin darüber wahnsinnig geworden. Nun will ich auch noch zum Mörder werden.