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CAT and DEER

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19.01.2004
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CAT and DEER

Etwas aufgeregt setzte sich Lucy auf ihren Stuhl. Beinahe alle anderen Plätze waren bereits belegt, denn der erste Vortrag begann in wenigen Minuten. Die kleine Bühne, die von zwei wackeligen Scheinwerfern angestrahlt wurde, machte, ohne jegliche Bewegung darauf, einen sehr traurigen Eindruck. Das würde sich gleich ändern, dachte sich Lucy. Sie kam nun schon seit fast einem Jahr zu jeder Vorführung. Beinahe jedes Gesicht im Publikum war ihr bekannt. Die vielen Menschen waren so etwas wie eine große Familie für Lucy geworden. Nur den gutaussehenden Mann, der neben ihr saß, hatte sie noch nie hier gesehen.
Natürlich war nicht alles Gold, was auf dieser Bühne glänzte, doch Lucys Augen waren voller Erwartung, als ein leiser Gong den Beginn der Veranstaltung ankündigte. Das Gemurmel verstummte, alle Lichter, außer den Scheinwerfern, erloschen, und ein kleiner, rundlicher Mann mit rotem Frack und schwarzem Zylinder betrat die Bühne über ein paar morsche Stufen, die unter seinem Gewicht ächzten. In der Hand hielt er ein großes, rostfarbenes Mikrofon. Nach einer fast dramatischen Verbeugung begann er mit seiner Rede: „Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde der Phantasie und Träumerei, ich darf mich Ihnen vorstellen. Balzac der Name, und ich bin Ihr Gastgeber an diesem wunderbaren Abend, ein Privileg. Seien Sie gespannt und lauschen Sie, mit Ihren Ohren, mit Ihrem Verstand, jedoch vor allem mit Ihrem Herzen, denn unsere begabten Autoren haben Ihnen vieles mitzuteilen. Aufgrund des Vorfalls letzten Monat möchte ich darauf hinweisen, dass diejenigen, mit deren Konzentration es nicht allzu weit her ist, den Saal bitte verlassen, sobald die Autoren auf der Bühne gestört werden könnten. Wir präsentieren heute unter anderem das Debüt unseres jungen Jaques, der noch etwas aufgeregt ist und fest mit Ihrer Unterstützung rechnet. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“ Nach diesem Hinweis folgte erneut eine tiefe Verbeugung. Balzac verließ die Bühne und an seine Stelle trat eine bleiche, knochendürre Frau um die vierzig vor das Publikum. Lucy musste ein wenig schmunzeln. Mit rollendem „R“, osteuropäischem Dialekt und schwerfälligen, bedrückenden Sätzen stand die dürre Frau steif wie ein Brett auf der Bühne und berichtete von ihrem Leid:

„In dirrr ist därrr Tod – sagten sie – meinten mich – mein Härrrz! Liebe ist Ab-fall und därrr Tod in mirrr – mein Härrrz – zärrrbrrricht!“

Nach ungefähr zwanzig Minuten atmete Lucy erleichtert auf, als die dürre Frau namens Magda endlich die Bühne verließ. Der Applaus für die recht eigenwillige Präsentation hielt sich in Grenzen und die meisten Besucher schienen der Meinung zu sein, es könnte nur besser werden. Wieder betrat der Mann namens Balzac die Bühne und versuchte, Stimmung zu machen. Lauthals kündigte er den nächsten Autor an, einen jungen Mann mit langem Bart und einem verbeulten Strohhut. Er schien sehr nervös zu sein, was die feuchten Ränder unter seinen Achseln und die glitzernden Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten. Etwas zögerlich begann er seinen Vortrag:

„Im feuchten Moos zwischen Schilf und See, da sah ich dich – herjemine.“

Lucy mußte kichern. Sie fand diesen Kerl eigentlich ganz niedlich, aber auf solche Banalitäten war sie einfach nicht vorbereitet gewesen. Balzac, der in einer dunklen Ecke des Raumes stand, räusperte sich lautstark und Lucy erntete böse Blicke. Auch der Vortrag des jungen Mannes mit Bart dauerte ziemlich lange. Doch auch er fand ein Ende, und mit demselben spärlichen Applaus wie bei Magda zuvor, verließ der Strohhut samt Besitzer die Bühne. Lucy wurde langsam unruhig. Das heutige Programm gefiel ihr bisher nicht besonders. Vom Zauber der Worte war so rein gar nichts zu spüren. Balzacs Stimme raunte erneut durch den Raum: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist soweit. Ein neuer Autor wird sich Ihnen nun vorstellen! Mit nur 15 Jahren ist er der jüngste unter uns allen, doch die Ausmaße seines Talents sind riesig. Darf ich Ihnen nun vorstellen, Jaques Poetry!“ Balzac hüpfte von der Bühne. Ein paar Sekunden passierte nichts. Lucy rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, dann wurde ihre Neugierde gestillt. Ein gut gebauter Junge betrat die Bühne. Er hatte etwas sehr Eigenartiges an sich und doch strahlte er eine unglaubliche Wärme aus. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm unordentlich ins Gesicht. Er schien beinahe zu schweben, so klein und elegant waren seine Schritte. Über einem weißen Hemd trug er eine karierte Weste und dazu braune Cordhosen, die ihm viel zu groß waren. Der Mann neben Lucy lehnte sich ein Stück nach vorne und seine Mund formte sich zu einem breiten Lächeln. Anscheinend war er ein Bekannter des Jungen und Lucy schätzte ihn auf Anfang dreißig. Sicherlich war er zur Unterstützung mitgekommen, denn bestimmt war es für Jaques eine große Herausforderung, sich zum ersten Mal vor Publikum auf die Bühne zu stellen und seinen Text vorzutragen. Bevor Lucy weiter darüber nachdenken konnte, begann der Junge mit seinem Vortrag. Er sprach sehr leise, dennoch konnte man jedes Wort genau verstehen:

„Was sind Träume, die zu träumen man pflegt, jeden Tag, jede Nacht, ein Leben lang? Was sind Sterne, deren Anzahl man kennt, wenn es mehr sind als man je zählen kann? Was ist Schönheit, mit der man lebt, obwohl sie nicht von Dauer ist? Was sind Pläne, die man hegt, wenn man die Dinge falsch bemisst? Was ist Glück, das manchmal kommt, doch man sieht es nicht sofort? Was ist die Seele, mit der man prahlt, versteckt an einem dunklen Ort? Was ist Traurigkeit in dir, wenn selbst weinen du nicht kannst? Und was ist Leid, schnell sag es mir. Das Leid dem du so oft entkamst? Was bist du, so ganz allein? Spielst mir was vor, all die Zeit. Was ist ein Leben ohne Liebe, die hält, in alle Ewigkeit?“

Totenstill war es im Raum. Über Lucys Wange kullerte eine Träne. Ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte alle anderen könnten es hören. Reglos stand Jaques vor dem Publikum und blickte mit großen Augen in die Menge. Der Mann neben Lucy begann laut zu klatschen, kurz darauf dröhnte ein mächtiger Applaus durch den ganzen Saal. Lucy fühlte sich leicht wie eine Feder und im nächsten Augenblick stürmte ein kühler Wind durch ihren Körper, der ihr eine Gänsehaut bereitete. Hinter den Worten des Jungen steckte so viel Wahrheit und eine Ehrlichkeit, die man jemandem in seinem Alter niemals zutrauen würde. Jaques verbeugte sich und verließ die Bühne. Lucys Augen folgten seinen Schritten, voller Bewunderung und Sympathie. Im nächsten Moment war der Junge hinter einem schweren Vorhang verschwunden, über dem ein Schriftzug aus pinken Neonröhren hing, der das Wort „Sortie“ formte. Plötzlich stand der Mann neben Lucy auf, ging ebenfalls zur Tür und folgte dem Jungen nach draußen. Lucy wußte nicht genau, weshalb sie es tat, doch noch bevor der dicke Balzac die Bühne betreten hatte, um den nächsten Autor anzukündigen, stand sie bereits vor dem Ausgang. Knarrend öffnete sich die Metalltür und Lucy trat hinaus auf den schwach beleuchteten Hof, der von riesigen Laubbäumen gesäumt war. Sie schimmerten im Glanz des Mondes und der vielen Sterne in den schönsten Rottönen und da es vollkommen windstill war, erweckten sie beinahe den Eindruck, man würde geradewegs auf ein riesiges Ölgemälde blicken. Doch weder Jaques noch der Mann waren darauf zu sehen. Lucy ging ein Stück über den mit grobem Kies bedeckten Hof zu einer der Laternen, unter der eine dunkelbraune Katze saß und sich die Pfoten leckte. Sie beachtete Lucy überhaupt nicht, selbst als diese sich zu ihr herunterbeugte, um sie zu streicheln. Erst als die Fingerspitzen ihr weiches Fell berührten, blickte die Katze zu Lucy auf. In ihren honiggelben Augen spiegelten sich die bunten Blätter der Bäume und tief dahinter lag ein schwaches, unergründliches Funkeln, eingebettet in die Farben der Nacht. Als Lucy mit ihrer Handfläche über den Rücken der Katze strich, begann diese zu schnurren und streckte ihren Schwanz senkrecht in die Höhe, wo-bei er sich am oberen Ende leicht einkringelte. Lucy mußte lächeln: „Du bist aber eine schöne Dame. Oh, Verzeihung! Ein Herr, wie ich sehe. Bist du ganz alleine hier?“ Der schnurrende Kater blickte sie an, als wolle er sagen: „Natür-lich! Alle Katzen sind alleine.“, doch vielleicht hieß das veträumte Blinzeln auch einfach nur: „Bitte etwas weiter links kraulen!“. Plötzlich stellte der Kater die Ohren auf und lauschte. Etwas zwischen den Bäumen schien seine ganze Aufmerksamkeit geweckt zu haben und mit einem Mal tippelte er geschmeidig über den Hof und verschwand zwischen den Bäumen. „Vielleicht ist der Junge dort?“, dachte Lucy, und folgte dem Kater hinein ins Gestrüpp. Nach einiger Zeit erreichte sie eine kleine Lichtung, die in kühles Mondlicht getaucht war. Plötzlich kam es Lucy vor, als wäre sie meilenweit entfernt von dem knirschenden Kies und dem alten Gebäude, in dessen Saal immer noch die Vorstellung stattfand. In der Mitte der Lichtung ragte ein großer Baumstumpf aus dem Boden und darauf saß, völlig regungslos, der braune Kater. Er schien auf irgendetwas zu warten. Wahrscheinlich lauerte er einer Maus auf, deshalb wollte Lucy nicht näher an ihn herantreten und wich, so leise wie nur möglich, wieder ein paar Schritte zurück zwischen die Bäume. Eine Zeit lang passierte nichts, und Lucy genoss den schönen Anblick der silbrig funkelnden Sterne, doch dann hörte sie plötzlich ein druchdringendes Geräusch. Es kam von der gegenüberliegenden Seite der Lichtung. Äste knackten, Blätter raschelten und aus der Dunkelheit der dicken Stämme trat ein mächtiger Hirsch. Lucy stockte der Atem. Das riesige Geweih des Tieres schwankte gemütlich hin und her, während es gemächlich auf den Baumstumpf zuschlenderte. Ein kleines Stück davor blieb der Hirsch stehen. Vor seiner weißen Brust zeichneten sich deutlich die dunklen Umrisse des Katers ab, der zu ihm aufblickte. Wieder herrschte vollkommene Ruhe. Die beiden Tiere blickten sich an, als würden sie miteinander sprechen. Lucy hatte sich hinter einem der Baumstämme versteckt und beobachtete die Szene mit angehaltenem Atem. Plötzlich drehte sich der Hirsch zur Seite und der Kater sprang auf seinen Rücken, kletterte schnurstraks hinauf bis zum Kopf, blieb darauf sitzen und legte seinen Schwanz um das Geweih des Hirsches, der sich im selben Moment in Bewegung setzte. Er schlenderte zurück zu der Stelle, an der er aufgetaucht war, und verschwand zusammen mit dem Kater im Dunkel der Nacht.

Verunsichert kam Lucy aus ihrem Versteck hervor. Was hatte das alles zu bedeuten? Weshalb trafen sich ein Hirsch und ein Kater im Wald? Lucy spürte eine unglaubliche Neugierde in sich emporsteigen. Sie wollte mehr über die beiden Tiere wissen und den Grund dieses nächtlichen Treffens erfahren. Doch das war leichter gesagt als getan. Für einen kurzen Moment glaubte sie, alles nur zu träumen. Eben saß sie noch in einem Saal mit vielen anderen und lauschte den poetischen Ergüssen fremder Menschen und plötzlich tappte sie allein durch den Wald, auf der Suche nach einem 15jährigen Jungen, einem Hirsch, und einem braunen Kater. Könnte es nicht sein, dass sie während der Vorstellung eingeschlafen war? Die dünnen Ästchen, die immer wieder aus dem Nichts auftauchten und über Lucys Gesicht kratzten, überzeugten sie vom Gegenteil. Sie war hellwach. Und obwohl ihr langsam etwas mulmig wurde, drang sie weiter in den Wald vor, ließ die Lichtung hinter sich und bahnte sich ihren Weg durch das schwarze Dickicht.

Nach kurzer Zeit hatte sich Lucy im Wald verirrt. Sie war zu unvorsichtig gewesen und hatte keinerlei Zeichen oder Ähnliches hinterlassen, die den Rückweg markierten. Nun stand sie am Ufer eines kleinen Flusses, der sich durch große Felsen schlängelte und wußte weder ein noch aus. Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Enttäuscht von sich selbst sank sie auf einen großen Stein, rieb sich das Gesicht, das von den kleinen Ästen ganz aufgekratzt war und starrte ins Wasser. Der Mond spiegelte sich in den leichten Wogen und bildete die verschiedensten Formen. Dann verschwand er hinter dichten Wolken. Ein Stück weiter flussaufwärts spiegelte sich noch etwas anderes im Wasser. Es waren die Umrisse eines Jungen. Lucy blickte auf. Es war Jaques. Er saß mit dem Rücken zu Lucy gewandt am anderen Ufer auf einem der großen Felsbrocken und betrachtete den Himmel. Vorsichtig näherte sich Lucy ihm. Sie mußte auf die andere Seite des Flusses und versuchte, geräuschlos von Stein zu Stein zu hüpfen, doch Jaques hatte sie längst bemerkt. Er spitze die Ohren, hob seinen Kopf ein wenig und drehte sich schlagartig um. Vor Schreck verlor Lucy das Gleichgewicht, stolperte über ein langes Stück Treibholz und fiel mit einem lauten Platscher ins Wasser.
„Haben Sie sich wehgetan?“, fragte eine tiefe Stimme. Lucy richtete sich, so gut es in dem knietiefen Wasser ging, auf. Vor ihr stand der attraktive Mann, der während der Vorführung auf dem Stuhl neben ihr gesessen hatte. Er lächelte freundlich und bot Lucy eine Hand an, um ihr aus dem Wasser zu helfen. Erst als sie wieder auf trockenem Boden stand bemerkte sie Jaques, der ein Stück weiter hinten stand und etwas misstrauisch dreinblickte.
"Kommen Sie“, sagte der junge Mann, „ich stelle sie vor.“ Mit einem flauen Gefühl im Magen folgte Lucy ihm.
„Darf ich vorstellen, dass hier ist Jaques Poetry und mein Name ist Vincent Moonlight. Verzeihung, wenn wir sie erschreckt haben.“, sagte er mit einem strahlenden Lächeln. „Wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?“
„Ich heiße Lucy und es tut mir Leid, falls ich Ihnen zu nahe gekommen bin. Ich muss mich dafür entschudligen.“
Jetzt lächelte auch Jaques ein wenig. Vincent tauschte mit ihm ein paar vielsagende Blicke aus, dann wandte er sich wieder an Lucy: „Sie brauchen sich nicht zu entschluldigen. Nun, da Sie hier stehen, wird mir bewusst, dass dieser Anblick vorhin ziemlich seltsam auf Sie gewirkt haben muss.“ Lucy errötete ein wenig, doch Vincent ließ ihr keine Zeit, um erneut um Verzeihung zu bitten. Er legte seine Hand vorsichtig auf ihr Schulter und sagte: „Jaques und ich, wir leben in diesem Wald. Es ist für Sie vielleicht schwer zu verstehen, aber es muss so sein. Wir beide können nicht unter Menschen leben. Doch mein kleiner Jaques hier hat vor kurzem seine Leidenschaft für die Poesie entdeckt und wollte auch einmal etwas dazu beitragen. Das war der Grund, warum er heute Abend aufgetreten ist. Ich bin sehr stolz auf ihn.“ Bei diesen Worten drehte er sich für einen Moment zu Jaques um, dessen Augen strahlten.
„Sind Sie beide verwandt?“, wollte Lucy wissen. Jaques sah etwas amüsiert aus und Vincent fuhr fort: „Ich glaube, das kann man so nicht sagen. Ich kenne mich mit ihren Gepflogenheiten noch nicht gut genug aus, aber ich denke, das ist bei Ihnen ähnlich. Wir hegen Gefühle füreinander. Wir fühlen Liebe, genauso wie die „anderen“ Menschen es tun. Und sie macht auch bei uns nicht vor großen Unterschieden halt. Manchmal reicht ein Blick, nur ein Lächeln oder eine Geste, und man weiß es. Man fühlt es tief in der Brust. Ich liebe Jaques, obwohl er ganz anders ist als ich. Verstehen Sie das?“
Lucy nickte langsam, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich verstehe den Teil mit der Liebe, glaube ich. Wenn das bei Ihnen beiden so ist, wie Sie sagen, dann beneide ich Sie sehr. Soetwas ist nicht vielen Menschen vergönnt. Ich hatte bisher nicht das Glück, so eine Liebe zu finden.“
Der Mond versteckte sich noch immer hinter den Wolken und dazu setzte ein kühler Wind ein. Lucy fror in ihren nassen Kleidern.
„Kommen Sie, Lucy.“, sagte Vincent. „Wir begleiten Sie zurück zum Kiesplatz. Es ist nicht gut wenn sie frieren.“ „Ja genau, Sie haben kein so dickes Fell wie wir!“, warf Jaques ein. Vincent mußte laut lachen. „Verzeihen Sie, Lucy. Er liebt solche Sprüche.“ Jaques legte ein breites Lächeln auf.

Die drei erreichten die Lichtung mit dem Baumstumpf. Mittlerweile hatten sich die Wolken wieder verzogen und der Mond tauchte alles in sein blaues Licht. Lucy ging ein Stück aus dem Wald, doch Jaques und Vincent folgten ihr nicht. Sie waren im Schatten der Bäume stehengeblieben und sahen etwas ratlos aus.
„Wieso bleiben Sie stehen? Ist irgendetwas?“, fragte Lucy. „Nun, Lucy, ver-sprechen Sie mir, dass Sie nicht erschrecken werden.“, sagte Vincent. Doch bevor Lucy eine Antwort darauf geben konnte, nahm Jaques etwas Anlauf und sprang aus dem Schatten hinaus ins Licht. Noch während er sich in der Luft befand wuchs ihm ein langer Schwanz, sein Körper schrumpfte mit einem mal auf die Größe einer Katze und bekam ein braunes Fell. Als Jaques im Gras landete, hatte er sich bereits vollständig in den Kater verwandelt, dem Lucy in den Wald gefolgt war. Alles war so schnell gegangen, dass sie noch gar nicht richtig begriffen hatte, was sich hier abspielte. Sie starrte den Kater an, rieb sich die Augen und blickte dann hinüber zu Vincent, der langsam hinaus auf die Lichtung trat. Die Teile seines Körpers, die das Licht berührten, bekamen einen hellen Schimmer, begannen zu leuchten und veränderten sich. Seine Hände wurden zu Hufen, sein ganzer Kröper zog sich in die Länge und auf seinem Kopf formte sich ein großes Geweih. Der jungen Mann verwandelte sich in einen gewaltigen Hirsch. Sprachlos setzte sich Lucy auf den Baumstumpf und nur einen Augenblick später hüpfte der Kater auf ihren Schoß. Der Hirsch kam näher und blickte Lucy mit seinen schwarzen Augen an. Erst jetzt bemerkte sie die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem jungen Mann namens Vincent. Sie lag in seinen Augen und in dem freundlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Hirsch öffnete sein Maul und es schien als wolle er etwas zu Lucy sagen, doch es kamen nur tiefe, unverständliche Laute heraus. Deshalb deutete er mit dem Kopf in die Richtung, in der das alte Gebäude und der Kiesplatz liegen mußten. Jaques hüpfte von Lucys Schoß und lief voraus. Im hohem Gras konnte man lediglich seinen aufgerichteten Schwanz sehen, der sich auf die Bäume zubewegte. Der Hirsch blieb neben dem Baumstumpf stehen und sein Kopf deutete nun auf seinen Rücken. Lucy wurde rot, begann jedoch zu lächeln. Alles erschien ihr wie ein Märchen und sie wollte sich voll und ganz darin verlieren. So stieg sie auf den Baumstumpf und von dort weiter hinauf auf den Rücken des edlen Tieres. Vorsichtig wählte Vincent einen Weg, der nicht von Bäumen bedeckt war und schritt elegant zum Rand des beleuchteten Hofes, wo Jaques schon auf die beiden wartete. Als Lucy den Hof erblickte, wurde sie etwas traurig. Zwar war ihr der Sinn dieser Begegnung fremd geblieben, dennoch spürte sie in sich ein Verlangen, bei den beiden zu bleiben. Aber Lucy wußte, dass es nicht möglich war.

Der dicke Balzac war erleichtert, dass die Vorstellung zu Ende war. Erschöpft ging er hinaus auf den Hof und zündete sich eine Zigarre an, deren Rauch er genüsslich inhalierte. Plötzlich bemerkte er zwischen den Bäumen eine junge Frau, die sich mit jemandem zu unterhalten schien. Ihr Gegenüber war nicht zu sehen, doch dafür erkannte Balzac das Gesicht des Mädchens. Sie kam regelmäßig zu den Vorstellungen und war heute frühzeitig gegangen. Etwas neugierig ging Balzac ein paar Schritte über den Hof. Er konnte gerade noch erkennen, wie die junge Frau um den Hals eines riesigen Hirsches fiel, auf dessen Kopf eine braune Katze saß. Ungläubig starrte Balzac abwechselnd auf seine Zigarre und auf das Bild, das sich ihm bot. Dann waren die Tiere plötzlich verschwunden und die junge Frau spazierte langsam zu ihm herüber.
„Guten Abend, Monsieur! Ist die Vorstellung schon vorbei?", fragte sie ihn freundlich. Balzac holte tief Luft und versuchte so zu tun, als hätte er überhaupt nichts gesehen: „Ja, leider. Hat sie Ihnen nicht gefallen, Mademoiselle?“ Lucy überlegte einen Augenblick: „Doch Monsieur, sehr sogar. Meiner Meinung nach war es die beste Vorstellung, die ich je miterleben durfte!“ Balzac lachte überrascht auf. „Wissen Sie, manchmal denke ich, die Leute verstehen den Sinn solcher Veranstaltungen nicht so richtig. Sie kommen hierher, haben Erwartungen, doch im Grunde wollen sie nur sich selbst in den Vorträgen wiederfinden. Und sobald sie das Vorgetragene nicht auf sich beziehen können, urteilen sie schlecht. Das macht mich traurig. So ähnlich ist das wohl auch mit der Liebe. Es gibt so viele Unterschiede auf dieser Welt. Manchmal denke ich, wir sind alle einfach zu verschieden. Ich freue mich, dass Sie da anders sind.“
Lucy trat an den etwas betrübten Balzac heran, der ihr nur bis zum Hals reichte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mein Herr, seien sie nicht traurig. Es gibt Leute, die wollen nicht verstehen und es gibt Dinge, die man nicht verstehen muss. Doch wenn man offen durchs Leben schreitet und sich von den vielen Unterschieden, die es gibt, nicht abwendet, dann werden sie irgendwann ein Teil von einem selbst. Und ich bin fest davon überzeugt, nur mit diesem Wissen kann man richtig lieben und leben.“
Balzac nahm seinen Zylinder vom Kopf und sein Gesicht wurde wieder etwas fröhlicher. „Sie sind sehr weise für jemanden Ihres Alters. Vielleicht wollen Sie auch einmal etwas bei einer meiner Veranstaltungen vortragen? Schreiben Sie einfach, über das, was Ihnen gerade im Kopf umhergeht.“
„Vielleicht mache ich das sogar.“, antwortete Lucy nachdenklich. Balzac lächelte verschmitzt. „Und an was denken Sie gerade, wenn ich fragen darf? Über was würden Sie schreiben?“
Lucy schloss die Augen. „Über einen Kater, einen Hirsch, den Mond und die Liebe.“ Balzac lächelte verträumt: „Das hört sich gut an. Kommen Sie, Mademoiselle, ich bringe Sie zurück zu Ihrem Stuhl damit Sie Ihre Augen gefahrlos öffnen können.“

ENDE

 

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