Was ist neu

Dünger für Rüben

Mitglied
Beitritt
24.01.2004
Beiträge
417
Zuletzt bearbeitet:

Dünger für Rüben

Bruno Hamann stand am Straßenrand und warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. Es war Viertel vor drei. Um vier musste er am Treffpunkt sein.
Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte den Stummel in den Straßengraben.
Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.
Mit zitternden Fingern öffnete er die oberen drei Knöpfe seines blauen Kurzarmhemdes. Es war heiß, die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel. Die Luft flirrte, Fliegen umschwirrten einen Hasenkadaver, der auf dem Asphalt klebte wie ein breitgetretenes Kaugummi. Ihr leises Surren vermischte sich mit den rhythmischen Zischlauten der Bewässerungsanlagen, deren Fontänen über die Zuckerrübenfelder wanderten wie Zeiger einer grünen Uhr.
Er musste pünktlich sein und, was noch wichtiger war, er brauchte das Geld.
Brunos Hände glitten in die Taschen seiner schwarzen Cordhose. Mit tastenden Fingern erfühlte er ihren Inhalt: Hausschlüssel, Kronkorken, Flaschenöffner, Klappmesser, Bonbonpapier. Keine Zigaretten.
Er seufzte leise, zog das Messer aus seiner rechten Hosentasche und klappte es auf. Das gleißende Sonnenlicht flimmerte auf der fingerlangen Klinge, als er mit dem Daumen über das glatte Metall strich. Ein Lächeln huschte über Brunos Gesicht. Er würde sich nehmen, was er brauchte.
Ein leises Motorengeräusch drang an sein Ohr. Hastig klappte er das Messer zu und verbarg es in seiner linken Faust.
Das Geräusch schwoll zu einem tiefen Brummen an. Bruno wandte den Kopf nach links und schirmte seine Augen mit der freien Hand gegen das Sonnenlicht ab.
Ungefähr zweihundert Meter von ihm entfernt führte die Landstraße in ein Waldstück und verschwand nach einer Kurve zwischen den Bäumen.
Brunos Finger verkrampften sich um das Klappmesser. Er hoffte, seinen Daumen nicht wieder vergeblich auszustrecken.
Eine Auto schoss um die Kurve, raste aus dem Schatten des Waldes und kam laut röhrend näher. Sein Motorgeräusch ließ auf einen Sportwagen schließen, die Kleinwagenkarosserie eher auf einen defekten Auspuff.
Bruno Hamann streckte den rechten Arm aus, ballte die Hand zu einer Faust und hob den Daumen. Er presste seine schmalen Lippen zusammen, schob die Mundwinkel leicht nach oben und versuchte, freundlich zu lächeln.
Der schwarze Kleinwagen wurde langsamer, rollte an ihm vorbei und blieb kurz darauf stehen.
Bruno musterte die zerbeulte Karosserie und identifizierte das Auto als alten Ford Fiesta. Das linke Rücklicht war zerbrochen, ein ausgeblichener Heckscheibenaufkleber warb für einen Schützenverein. Aus dem vibrierenden Auspuff tropfte rostige Flüssigkeit und bildete eine kleine Pfütze auf dem Asphalt.
Bruno Hamann eilte zur Beifahrerseite des Wagens, bückte sich und blickte durch das verschmierte Fenster ins Innere. Der Fahrer lehnte sich zur Seite, streckte den Arm aus und entriegelte die Tür, wobei der Schließmechanismus knirschte, als arbeitete er mit groben Zahnrädern aus Stein. Bruno zog die Wagentür auf und nickte dem Fahrer zu.
„Tag“, sagte er und gab sich dabei keinerlei Mühe, freundlich zu klingen.
„Tag. Wohin soll’s denn gehen?“
Bruno stellte den rechten Fuß auf die Einstiegsleiste und legte seinen Unterarm angewinkelt auf das Autodach.
„Regeln wir zuerst das Finanzielle“, sagte er.
Der Fahrer schüttelte kurz seinen rundlichen Glatzkopf und lachte heiser.
„Sehn sie auf meinem Dach ein Taxi-Schild, oder was? Wohl kaum! Und das hier“, sagte er und zeigte auf das Autoradio, „ist mit Sicherheit kein Taxameter. Sie brauchen mich nicht zu bezahlen. Springen sie rein!“
Bruno schwang sich auf den Beifahrersitz, ließ die Tür ins Schloss knallen und klappte mit einer schnellen Bewegung sein Messer auf.
„Ich habe damit auch nicht gemeint, dass ich dich bezahlen will“, sagte er und hielt dem Fahrer die Klinge unter das Kinn.
„Hey, mach ja keinen Scheiß, Alter!“ Seine Stimme zitterte leicht; mit geweiteten Augen starrte er auf das scharfe Stück Metall.
„Ich mach keinen Scheiß, wenn du auch keinen machst. So einfach ist das. Jetzt sei so nett und gib mir deine Geldsbörse!“ Bruno versuchte, ruhig und gefasst zu klingen, was ihm alles andere als leicht fiel. Er war weder ruhig noch gefasst. Ein mulmiges Gefühl kroch durch seine Eingeweide wie klebriger Sirup. Warum war er nur in dieses Auto gestiegen? Die Schrottmühle sah nicht danach aus, als wäre ihr Besitzer ein wandelnder Geldautomat. Nein, er war vielmehr ein Fleischberg, dessen massiger Oberkörper in einem engen T-Shirt steckte, wie ein Taucher im Neoprenanzug. Und genau das war das zweite Problem: Bruno hatte das Gefühl, einen Elefanten mit einer Nagelfeile zu bedrohen; ein kurzes Stück Metall gegen Oberarme, die dicker waren als seine Beine.
Insgeheim verfluchte er seine Eigenschaft, erst zu handeln, dann zu denken, verscheuchte aber gleichzeitig den Wunsch, dem Glatzkopf einen schönen Tag zu wünschen und aus dem Wagen zu steigen. Für einen Rückzieher war es zu spät. Er musste sich zusammenreißen und die Sache durchziehen.
„Jetzt mach schon! Her mit dem Ding!“
Der Fahrer nickte, schob die linke Hand in die Tasche seiner ausgewaschenen Jeans und zog eine schwarze Geldbörse heraus.
„Ist aber nicht viel drin“, sagte er und übergab Bruno das abgewetzte, zerschlissene Stück Leder.
„Ok, jetzt leg die Hände aufs Lenkrad und rühr dich nur, wenn ich es dir sage, klar?“
Hastig durchsuchte Bruno die Geldbörse. Zwischen vergilbten Kassenzetteln, alten Parkscheinen und einer von Kaffeeflecken verzierten Visitenkarte fand er einen zerknitterten fünf Euroschein und etwas Kleingeld.
„Ist das wirklich alles? Mehr hast du nicht dabei?“
„Hab ich dir doch gesagt. Bei mir gibt’s nichts zu holen“, erwiderte der Fahrer und zuckte mit den breiten Schultern, ohne die Hände vom Lenkrad zu nehmen. „Hast dir wohl den Falschen ausgesucht.“
Bruno zerknüllte den Geldschein und ließ ihn vor seine Füße fallen. Fünf Euro. Was wollte er mit fünf Euro? Vielleicht reichte es, um Füller und Papier zu kaufen; Untensilien für einen Abschiedsbrief, letzte Worte über die Unfähigkeit, Schulden in Höhe von vierhundert Euro zu begleichen und die daraus resultierenden Folgen.
Bruno schüttelte sich und versuchte erfolglos, den Gedanken zu verdrängen. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen: Wenn es ihm nicht gelang, das Geld pünktlich am Treffpunkt abzuliefern, hätte er ein ernsthaftes Problem.
Bruno wollte die Geldbörse gerade wieder zuklappen, als er eine Plastikkarte bemerkte, deren abgerundete Ecke aus der Ausweistasche hervorlugte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem breiten Grinsen. Warum war er nicht vorher darauf gekommen?
„Vielleicht“, sagte er und zog die Scheckkarte heraus, „hab ich mir doch nicht den Falschen ausgesucht.“
Der Fahrer legte die Stirn in Falten und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn aber gleich darauf wieder. Der Gesichtsausdruck des Mannes erinnerte Bruno unwillkürlich an einen Affen, dem ein Zoobesucher eine Banane aus den Fingern gerissen hat.
„Veltenhof ist das nächste Dorf. Da gibt es ne Bank mit Geldautomat. Fahr los!“
Bruno warf die Geldbörse auf die Rückbank des Wagens, wo sie – dem blechernen Geräusch nach zu urteilen – auf eine Schicht leerer Getränkedosen traf.
Während der Fahrer die Handbremse löste und das Getriebe geräuschvoll gegen die Versuche protestierte, den ersten Gang einzulegen, las Bruno den Namen, der auf der Scheckkarte stand.
„Walther Hildebrandt. Hast bestimmt nichts dagegen, wenn ich dich Walther nenne, oder?“
„Leute, die mich überfallen, dürfen mich grundsätzlich mit Vornamen anreden“, erwiderte Walther in gespielt freundlichem Tonfall, warf einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel und fuhr los.
Bruno kurbelte das Beifahrerfenster herunter. Der kühle Wind war angenehm, trug aber gleichzeitig die Fahrtgeräusche mit ungedämpfter Lautstärke in das Wageninnere, eine penetrante Mischung aus Traktor und Altmetallcontainer auf Rädern.
„Hört sich nicht sehr gesund an.“
Der Fahrer sah Bruno kurz an, heftete seinen Blick aber sogleich wieder auf die Straße. „Was hört sich nicht gesund an?“, fragte er.
„Deine Schrottmühle. Solltest dir lieber mal ein neues Auto kaufen.“
Das Getriebe stimmte Bruno knirschend zu, als Walther den fünften Gang einlegte. Der am Rückspiegel hängende Duftbaum schwang im Takt der schaukelnden Karosserie hin und her wie ein tannenförmiges Weihrauchpendel und verströmte künstlichen Apfelduft.
Bruno lehnte den Ellbogen aus dem Seitenfenster und starrte durch die Frontscheibe. Die vor ihnen liegende Landstraße zerteilte die Zuckerrübenfelder wie ein Damm das Wasser, alle paar hundert Meter führte ein Sandweg zwischen den Pflanzen hindurch. Das Sonnenlicht zauberte Regenbögen in die Fontänen der Sprenger, Krähen kreisten über den Feldern wie Möwen über dem Meer.
Bruno hasste die Landschaft, ihre Monotonie langweilte ihn seit seiner Kindheit. Vor drei Jahren war er aus Veltenhof in die Stadt gezogen, um dieser agrarischen Hölle zu entkommen und sein Dasein als Dorfarbeitsloser gegen eine vermeintlich profitablere Gaunerkarriere einzutauschen. Und wohin hatte ihn dieser Schritt geführt? Er saß in einem schrottreifen Auto und fuhr zurück in seine provinzielle Vergangenheit, die – im Nachhinein betrachtet – glücklicher gewesen war als seine urbane Gegenwart. Der erwartete Lohn der kriminellen Karriere war bislang ausgeblieben; das wenige Geld, das Bruno mit Diebstählen und kleineren Einbrüchen verdient hatte, gab er zum größten Teil wieder aus, um Polizisten von seiner Unschuld zu überzeugen. Sein Leben verlief alles andere als erfolgreich, die zahlreichen Fehlschläge hatten Spuren hinterlassen.
Bruno senkte den Kopf und betrachtete sein Spiegelbild in der Klinge des Messers; das Werkzeug seiner Misere reflektierte ihre Folgen: die dunkel beringten Augen saßen tief in ihren Höhlen, schwarze Bartstoppeln überzogen seine bleiche Haut wie verbranntes Gestrüpp eine Kalkwüste. Er war einunddreißig, sein Gesicht mindestens zehn Jahre älter.
„Wofür brauchst du die Kohle eigentlich?“
Bruno beendete die Betrachtung seines Spiegelbildes. „Geld braucht man immer“, sagte er.
„Aber du besonders dringend, was?“
„Warum sollte ich?“, antwortete Bruno gereizt. Walthers Neugier gefiel ihm nicht. Er sollte fahren, nicht fragen.
„Niemand ist so dumm, sich an den Straßenrand zu stellen und einfach den nächstbesten Autofahrer zu überfallen.“ Walther nahm eine Hand vom Lenkrad und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Noch dazu ohne Maske.“
Bruno verspürte wenig Lust, dem Fahrer die Gründe für seine Tat zu erläutern, wollte sich von ihm aber auch nicht als dumm bezeichnen lassen. Er war sich durchaus bewusst, dass seine Überfalltaktik nicht sehr clever war.
„Schulden“, sagte Bruno und trommelte mit dem Messer auf seinem Oberschenkel.
„So? Und wie hoch?“
„Vierhundert Euro. Eigentlich dreihundert, der Typ verlangt aber Zinsen.“
„Welcher Typ?“
Bruno schwieg. Sollte er Walther die ganze Geschichte erzählen? Seine Probleme gingen ihn zwar nichts an, aber immerhin bezahlte er die Rechnung. Was machte es schon aus, wenn er erfuhr, wer sie ausgestellt hatte?
„Klaus Kowalsky“, antwortete Bruno. „Der schmierige Boss einer Bande von Kleinkriminellen. Vor ein paar Tagen habe ich seinen Kiosk überfallen und die Kohle mitgehen lassen. Irgendwie hat der Mistkerl aber erfahren, wer seine Kasse geplündert hat.“
„Und jetzt will er das Geld zurück haben.“
Bruno nickte grinsend. „Das ist die offizielle Version“, sagte er.
Walther hob die rechte Augenbraue. „Ach, und was ist die inoffizielle?“
In der Ferne tauchten die Häuser Veltenhofs auf und mit ihnen auch erste Lebenszeichen einer bislang toten Straße. Eine kleine Gruppe Radfahrer kam ihnen schwitzend entgegen, ein Traktor rollte von einem Feldweg auf die Landstraße und wurde kurz darauf von einem weißen Auto überholt. In wenigen Minuten würden sie die Ortsgrenze passieren. Zeit genug, um Walther das kleine Detail zu offenbaren, das die offizielle Version von der ungleich befriedigenderen Wahrheit unterschied, eine Wahrheit, die Klaus Kowalsky niemals erfahren durfte. Sie war Brunos Triumph über seinen Widersacher, eine stille, heimliche Überlegenheit.
„Ich habe den Kiosk nicht überfallen“, sagte er im hämischen Tonfall eines zehnjährigen, der seine heimlich rauchende Schwester bei den Eltern anschwärzt. „Die Verkäuferin ist Kowalskys Frau. Sie hat mir das Geld freiwillig gegeben. Habe die Kohle für meine Miete gebraucht.“
Der Wagen hatte den vorausfahrenden Traktor erreicht. Walther trat auf die Bremse, wartete den Gegenverkehr ab und scherte zum Überholen aus.
„Und warum hat sie das getan“, fragte er und schaltete in den vierten Gang. Die Beschleunigung nahm nur unwesentlich zu, das Motorgeräusch dafür umso mehr.
„Ich habe eine Affäre mit ihr“, rief Bruno und versuchte, den Lärm zu übertönen.
„Was?“ Walther scherte vor dem Traktor ein und schaltete hoch.
„Ich habe gesagt, dass ich eine Affäre mit ihr habe“, wiederholte er. „Sie hat genug von diesem Bastard Kowalsky. Die Überfallgeschichte habe ich erfunden, um sie vor ihrem Mann zu schützen. Und natürlich auch um...“
„...dich zu schützen“, unterbrach ihn Walther
„Genau. Soll er lieber glauben, ich hätte ihm nur sein Geld geklaut, nicht seine Frau.“
Walther schüttelte den Kopf und kicherte; ein Geräusch wie stoßweise aus einem Ventil entweichende Druckluft. Die Geschichte schien ihn ernsthaft zu amüsieren. Er kicherte, als sie die Ortseinfahrt passierten, an den alten Bauernhöfen vorbeifuhren und den Ortskern mit seinen kleinen Geschäften erreichten. Er kicherte, als das Auto auf dem Parkstreifen vor der Bank zum Stehen kam und verstummte erst, nachdem Bruno ihm die Scheckkarte in die Hand gedrückt hatte und er seinen massigen Körper schnaufend aus dem Wagen zwängte. Walther stampfte über den Fußweg und verschwand im Bankgebäude. Bruno beobachtete ihn durch die große Glasscheibe, die wie ein Schaufenster den Blick in den Vorraum mit den Geldautomaten freigab.
Abgesehen von einer älteren Frau mit Handtasche, deren Sommerkleid an ihrem dürren Körper hing wie ein weiter Kittel an einer Vogelscheuche, war der Raum leer.
Walther ging zu einem der Geldautomaten und blieb davor stehen. Sein breiter Rücken verdeckte das Gerät vollständig.
Die alte Frau hatte die Handtasche auf den Kontoauszugsdrucker gestellt und sich darüber gebeugt. Ihre Nasenspitze schwebte wenige Zentimeter über der Öffnung, während sie mit zusammengekniffenen Augen auf ihre Hände starrte, die den Tascheninhalt mit hastigen Bewegungen durchwühlten.
Walther steckte sich derweil einen Stapel Geldscheine in die Hosentasche und ging in Richtung Tür. Bruno seufzte erleichtert. Der Anblick der Scheine hatte alle Zweifel vertrieben, der klebrige Sirup bildete nur noch eine Pfütze im hintersten Winkel seines Körpers. Was sollte jetzt noch schief gehen?
Walther hatte die Tür fast erreicht, als die alte Frau ihre Hände aus der Handtasche zog und mit kurzen Schritten auf ihn zu eilte. Bruno sah, wie sie ihn flüchtig am Arm berührte, ihre Lippen bewegten sich. Was wollte sie? Walther sah ihn durch die Glasscheibe kurz an, wandte sich dann wieder der Frau zu und nickte. Was sollte das?
Bruno umfasste mit der rechten Hand den Türöffner, die linke verkrampfte sich um den Griff des Messers. Mit geöffnetem Mund starrte er die beiden Personen an, die hinter der großen Glasscheibe standen wie lebende Schaufensterpuppen.
Walther klopfte die Taschen seiner Jeans ab. Die alte Frau sah ihn erwartungsvoll an. Wieder bewegten sich ihre Lippen. Was sagte sie?
Walther griff in die Hosentasche und holte einen kleinen, silbernen Gegenstand daraus hervor. Die Frau lächelte ein zahnloses Lächeln und schob sich eine Zigarette zwischen die schmalen Lippen.
Brunos Finger lösten sich vom Türgriff. Feuer. Die Alte wollte nur Feuer. Er schloss den Mund und lehnte sich zurück. Aus dem Augenwinkel sah er Walthers Feuerzeug aufblitzen, kurz darauf die Glut der Zigarette. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß aus den Augen. Es war einfach zu heiß für derartige Schreckmomente.
Walther hatte die Bank verlassen und riss die Fahrertür auf. Als er sich in den Sitz fallen ließ schaukelte das Auto wie ein Schiff in starkem Seegang, die Stoßdämpfer quietschten wie Ratten in der Kombüse.
„Hier, vierhundert“, sagte er und warf Bruno die Geldscheine in den Schoß „Und was jetzt?“
„Jetzt muss ich die Kohle nur noch loswerden. Der Treffpunkt ist nicht weit weg von hier. Fahr weiter.“
Als Walther den Wagen vom Parkstreifen steuerte, sah Bruno die Alte im Seitenspiegel aus der Bank schlurfen, die Zigarette lose im Mundwinkel. Mitten auf dem Gehweg blieb sie stehen und sah ihnen nach. Bruno drehte seinen Kopf nach hinten und erwiderte ihr Starren, bis eine Kurve sie aus seinem Blickfeld tilgte.
„Hast du ihr was erzählt?“, fragte er.
„Wem?“
„Der Alten in der Bank.“
„Was soll ich ihr erzählt haben?“
„Na was wohl?“ Bruno tippte mit der Messerspitze auf die Geldscheine.
Walther schüttelte den Kopf. „Nein, sie wollte nur Feuer. Brauchst dir keine Sorgen zu machen.“
Schaukelnd umschifften sie eine Verkehrsinsel, kurz darauf verschwanden die Häuser und wichen dem eintönig grünen Zuckerrübenmeer.
Bruno fächerte die Geldscheine auf, zählte sie, schob sie wieder zusammen und zählte sie abermals. Vierhundert Euro. Kowalskys Geld. Sollte er doch daran ersticken. Bruno sah auf die Uhr. Zwanzig nach drei. Er lag gut in der Zeit. Nur noch zehn Fahrtminuten bis zum Treffpunkt, zehn Minuten Landstraße und Zuckerrübenfelder. Bruno knickte die Geldscheine in der Mitte und schob den Stapel in seine Hosentasche. Landstraße und Zuckerrübenfelder. Er legte die rechte Hand in den Nacken und sah aus dem Fenster.
Die Dufttanne baumelte vom Rückspiegel, am Straßenrand zogen sporadisch Pappeln vorbei. Krähen stoben von einem Feld auf und flatterten in den blauen Sommerhimmel; kreisrunde weiße Flecken auf der Windschutzscheibe kündeten von ihrem Überflug.
„Verdammte Mistviecher“, blaffte Walther und fummelte an einem Hebel neben dem Lenkrad herum. Wasser spritzte aus kleinen Düsen auf die Scheibe, die Wischer verschmierten Flüssigkeit und Vogelkot zu einem milchigen Film. Zwei Wasserstöße und etliche Bewegungen der Scheibenwischer später, war die Sicht wieder klar und gab den ungetrübten Blick auf ein Gebäude frei, das ein paar hundert Meter vor ihnen am linken Straßenrand stand.
„Siehst du das?“, fragte Bruno und zeigte mit dem Finger auf das hölzerne Bauwerk. „Hinter der Scheune ist ein Feldweg. Da fährst du rein.“
Die Scheune war nicht viel mehr als eine windschiefe Ansammlung morscher Bretter, das Dach war zum Teil eingestürzt; herabgefallene Ziegeln schimmerten rötlich zwischen dem Unkraut. Das hölzerne Rolltor war aus der Schiene gesprungen und lag vor dem Eingang im Gras.
Als sie langsam an der Scheune vorbeifuhren, konnte Bruno in ihrem Innern eine Ansammlung verrosteter landwirtschaftlicher Geräte erkennen, Staubvorhänge wehten im hereinfallenden Sonnenlicht.
„Da ist der Weg“, sagte Bruno.
„Ich weiß. Hab ja schließlich auch Augen im Kopf“, antwortete Walther, bremste ab und steuerte den Wagen auf den schmalen Sandweg, der wenige Meter hinter der Scheune von der Straße abzweigte.
Der Fiat schaukelte quietschend und klappernd zwischen den Feldern hindurch, begleitet von einer Staubwolke, die das Auto umhüllte wie ein anhänglicher Moskitoschwarm. Bruno wollte gerade das Beifahrerfenster hochkurbeln, als auch schon Kowalskys schwarzer Mercedes vor ihnen auftauchte. Walther schaltete den Motor aus, ließ den Wagen die letzten paar Meter rollen und zog dann die Handbremse an. „Sieht so aus, als wären wir da“, sagte er.
Klaus Kowalsky lehnte mit verschränkten Armen an seinem Wagen und sah Bruno durch die sich langsam verziehende Staubwolke hindurch an. Sein hellblaues Sakko lag locker über seiner Schulter, die hochgekrempelten Hemdsärmel entblößten mit Goldkettchen geschmückte Arme.
Bruno stieg aus dem Auto und nickte ihm flüchtig zu. „Ich habe das Geld“, sagte er.
„Sehr schön. Genau das wollte ich hören.“ Kowalskys hageres, von der Sonne verbranntes Spechtgesicht blieb regungslos. „Dann mal her damit.“
Bruno zog die Geldscheine aus der Hosentasche und überreichte sie ihm. „Sind genau vierhundert. Kannst nachzählen.“
„Das werde ich tun, verlass dich drauf“, lächelte Kowalsky und begann, die Scheine leise murmelnd nacheinander von der linken in die rechte Hand zu schieben. Als er fertig war, hob er den Kopf, rieb sich mit dem Zeigefinger über seine lange, spitze Nase und sagte: „Passt.“
Bruno scharrte mit den Füßen im lockeren Sandboden, seine Hände in die Taschen gesteckt. „Kann ich jetzt gehen?“, fragte er.
„Von mir aus.“ Kowalsky zuckte mit den Schultern. „Vielleicht kann dich mein Assistent irgendwo absetzen. Schließlich war er ja bereits so freundlich, dich hier herzufahren.“
Bruno hob ruckartig den Kopf und starrte ihn an. Er konnte förmlich spüren, wie die letzte Farbe aus seinem ohnehin blassen Gesicht verschwand.
„Assistent?“
Klaus Kowalsky hatte seine Geldbörse aus der Tasche geholt und die Scheine auf den Kofferraumdeckel gelegt.
„Ja, mein Assistent und Leibwächter“, sagte er, nahm den obersten Schein vom Stapel, strich ihn glatt und verstaute ihn sorgfältig in seiner Geldbörse. „Ich habe ihn bei derartigen Treffen gerne mit dabei. Der Wunsch nach Sicherheit ist eine meiner besseren Eigenschaften.“
Bruno blickte zu Walther, der aus dem Fiat gestiegen war und mit der Haltung eines Türstehers neben seinem Wagen stand, dann wieder zu Kowalsky. Das Spechtgesicht hatte einen weiteren Geldschein in die Hand genommen und strich fest mit dem Zeigefinger darüber.
„Na los, verschwindet“, sagte er und schob die Banknote in seine Geldbörse.
„Vorher muss ich mit ihnen noch was besprechen, Boss. Es geht um ihre Frau.“
Bruno zuckte zusammen, als er Walthers Stimme hörte. Langsam wich er zurück, torkelte in das hinter ihm liegende Zuckerrübenfeld. Die kleinen Pflanzen raschelten unter seinen Schritten, während Walther erzählte und Kowalsky zuhörte. Bruno wollte weglaufen, doch seine Beine hatten andere Pläne; das sirupartige Angstgefühl kroch durch seinen Körper, hemmte seine Schritte. Hinter ihm zischte ein Sprenger wie eine Schlange, Krähen kreischten in der Ferne.
Klaus Kowalsky war derweil an den Rand des Feldes getreten, die Pistole in seiner Hand auf Bruno gerichtet. Sein sonnenverbranntes Spechtgesicht zeigte keinerlei Gefühlsregung, doch seine Stimme klang heiser und schrill, als er rief: „Du wirst dich nie wieder an ihr vergreifen! Hörst du? Nie wieder!“
„Es tut mir leid“, stammelte Bruno. Wie gebannt erwiderte er den einäugigen Blick der Waffe, starrte in das schwarze Auge der Mündung.
„Mir auch“, rief Kowalsky. „Mir auch.“
Dann drückte er ab.

 

Nur zur Erklärung: Diese Geschichte ist eine Hausaufgabe für mein Fernstudium beim ILS. Die Aufgabe bestand darin, einen Zeitungsartikel in eine zusammenhängende Erzählung umzuarbeiten.
Ich weiß, dass Handlung und Pointe nicht sonderlich spannend und originell sind, aber es handelte sich primär ja auch um eine Stilistikaufgabe.
Der Artikel, aus dem die Story entstanden ist, lautete ungefähr so:

„Um seine Schulden bei Drogendealern zu begleichen hat ein Anhalter aus Zeven einen Autofahrer überfallen. Er bedrohte laut Polizei den 35-jährigen, der ihn mitgenommen hatte. Das Opfer musste 400 Euro an einem Geldautomaten abheben und den Täter zu den Dealern fahren“

Ich weiß, dass die Geschichte keine Offenbarung ist. Besagter Zeitungsartikel war einfach der erste, zu dem mir eine kleine Story eingefallen ist.
Ist irgendwie ein schlechtes Zeichen, wenn die Rechtfertigung für die Existenz einer Geschichte fast so lang ist wie die eigentliche Story, was? ;)

 

Hi MrPotato!

Bruno konnte die verstreichenden Minuten fast körperlich fühlen.
Würde ich weglassen.

Keine Zigaretten.
Fand ich lustig.

Auto als alten Ford Fiesta.
Ein Sportwagen?

Sie brauchen mich nicht zu bezahlen. Springen sie rein!
Der ist aber freundlich und das obwohl er nicht gerade nett behandelt wird.

Die Stimme des Bedrohten zitterte leicht;
"des Bedrohten" will mir nicht gefallen.

nsgeheim verfluchte er seine Eigenschaft, erst zu handeln, dann zu denken,
Mir kommt, nach der Einleitung, eher der Gedanke, dass Bruno sehr wohl nachgedacht und geplant hat, da passt diese Formulierung nicht so ganz.

„Leute, die mich überfallen, dürfen mich grundsätzlich mit Vornamen anreden“
Jetzt mag ich Walther ehrlich.

das Werkzeug seiner Misere reflektierte ihre Folgen
Sehr schön.

Walthers Neugier gefiel ihm nicht. Er sollte fahren, nicht fragen.
Unnötig!


Zuerst ein Lob, den dein Stil ist zwar ausladend (im positivem Sinn), aber sehr flüssig. Hast du den text oft überarbeitet? Es liest sich nämlich so.
Und wenn man dann deine Nachbemerkung liest, weiß man auch warum. Jedenfalls: gefällt mir gut.

Mehr Schwierigkeiten habe ich dann aber mit der Geschichte selbst. Ein guter, flüssiger Stil ist mMn nie genug. Er macht zwar vieles leichter, aber eben nicht alles.
Und diese Story ist - du hast es selbst geschrieben, also sei nicht böse, wenn ich es dir bestätige - ist: "nicht sonderlich spannend und originell"

Die ganze Zeit über habe ich mich gefragt: Warum erzählt der Typ denn alles? Bis ins kleinste Details?
Und noch dazu einem völlig Fremden, den er gerade entführt hat!
Und als ich dann las, dass sie jetzt gemeinsam zu diesem Kowalsky fahren, da war mir dann auch klar, warum.

Und das Ende: ich hätte so sehr gehofft, dass du noch die Biege kriegst, dass du alles trotzdem (unerwartet) gut enden lässt, dass der Leibwächter nämlich ganz einfach nichts sagt. Das Kowalsky trotzdem der Dumme bleibt. Aber das ist jetzt subjektiv.

Eines noch, bevor ich es vergesse: den Charakter des Walther fand ich spitze! Kowalsky und Bruno waren eher eindimensional. Aber Walther: echt toll!

Zusammenfassend: sprachlich sehr gut, inhaltlich eher altbekannt.
Ich hoffe, das hilft dir.

In diesem Sinne
c

 

Hi chazar!

Danke für deine ausführliche Kritik!

Ein Sportwagen?

Nein, nur ein Kleinwagen mit defektem Auspuff. ;)

Mir kommt, nach der Einleitung, eher der Gedanke, dass Bruno sehr wohl nachgedacht und geplant hat, da passt diese Formulierung nicht so ganz.

Schon richtig, aber einfach in die nächstbeste Schrottmühle einzusteigen, die zu allem Überfluss auch noch von einem Kleiderschrank gefahren wird, ist nicht sehr durchdacht.

Zuerst ein Lob, den dein Stil ist zwar ausladend (im positivem Sinn), aber sehr flüssig. Hast du den text oft überarbeitet? Es liest sich nämlich so.
Und wenn man dann deine Nachbemerkung liest, weiß man auch warum. Jedenfalls: gefällt mir gut.

Vielen Dank! Genau darauf kam es mir hauptsächlich an, da es sich -wie schon erwähnt- um eine Stilistikaufgabe handelt. Auf die Story habe ich leider zu wenig Wert gelegt. Bei Kurzgeschichten, die ich aus freien Stücken schreibe, achte ich natürlich etwas mehr auf eine schlüssige, originelle Handlung.
Deine Verbesserungsvorschläge werde ich mir durch den Kopf gehen lassen. Insbesondere "des Bedrohten" gefällt mir im nachhinein auch nicht wirklich...
Nochmal vielen Dank für deine Kritik! Es freut mich wirklich, dass dir mein Stil zusagt!

Tobias

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom