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Das Blümchen
An das Alleinsein gewöhnt man sich normalerweise. Bei mir war es nie anders gewesen. Einzelkind und geschiedene Eltern, die einem ihre Aufmerksamkeit und Liebe durch teure Geschenke zu Teil werden lassen, doch einen eigentlich selbst ebenfalls für den gleichen Loser halten, wie ihren Ex-Ehepartner.
Einmal hatte ich ein Gespräch mit angehört, in dem meine Eltern, wohl wissend dass ich sie durch unsere Gegensprechanlage der Marke Lüftungsschacht hören konnte, schreiend und fluchend sich darüber ausgelassen hatten, dass es die Schuld des jeweils anderen wäre, welche Laufbahn mein Leben eingeschlagen hatte. Ich lag auf meinem Bett, während mein Gesicht von einem, manche würden wohl sagen verrückten Grinsen überzogen war. Doch es war ein Grinsen der tiefsten Zufriedenheit. Vielleicht konnte das eben nur ein Verrückter erkennen.
Mein Laken spickten noch immer die gleichen Herr-Der-Ringe-Figuren, mit denen ich schon als Kind aufregende Abenteuer erlebt hatte. Im Laufe der Jahre jedoch waren die Eskapaden in eine andere Richtung gerutscht. War ich früher mit Aragorn durch Lothlòrien gereist, wanderte ich jetzt mit Frodo durch Moria. Es hatte sich verdüstert.
Die Schreie aus dem dunklen Schacht wurden immer schriller, als meine Mutter anfing, über meine „Probleme“ zu sprechen. In Wirklichkeit jedoch interessierte es sie einen Dreck. Das einzige, was ihr Angst machte, war ihr Ansehen im Country-Club. Kaum zu glauben, doch so eine aufgetakelte, alte Schnalle war tatsächlich zwischen den jungen und hübschen Erste-Klasse-Müttern akzeptiert worden, die teilweise meine Abenteuer in Mittelerde ablösten. Und das sehr zu meinem Einverständnis.
Nachdem mein Vater darüber spekulierte, ob meine Seltsamkeit vielleicht von der Homosexualität herrührte, war ich endgültig mit der derzeitigen Atmosphäre fertig und öffnete das Doppelfenster. Draußen war es kalt und meine Beine rutschten von der Regenrinne, auf der sich bereits Reif gebildet hatte, immer wieder ab. Wie um mich zu verspotten warf mich das Blech auf den Boden inmitten der „wundervollen“ Tulpen meiner Mutter. Die kleine Gartenschaufel bahnte sich ihren Weg in meinen Hintern. Wäre ich nackt gewesen, hätte sie jetzt eine neue Behausung.
Ich stand auf und verfluchte währenddessen meine Eltern, die ich hinter den Vorhängen der Küche deutlich sehen konnte.
Den Garten verließ ich nicht durch das Tor sondern über den Zaun. Wir wohnten mitten in der Stadt und so hatte ich nicht weit bis zur Hölle. Die Hölle war nicht der Treffpunkt der Jugendlichen unserer Stadt. Bitte, was hätte ich den dort zu suchen gehabt? Es war vielmehr eine verdreckte, stinkende Bar unter dem Treffpunkt der Jugendlichen: Einer Spielhalle.
Meistens sah ich ein paar auf der Treppe lungern, die ihre Zigaretten rauchten, nur um zu zeigen, wie cool sie waren. Sollten die doch mal sehen, wie cool ich war. Zigaretten hatte ich schon lange abgesagt.
In der Hölle war dasselbe Treiben wie immer. Keines. Vielleicht vier fette Männer, die meisten wahrscheinlich Loser wie ich, nur etwas älter und bei der Müllabfuhr arbeitend, wucherten um die winzigen Tische. Die Wampe des einen wirkte wie ein gestrandeter Moby Dick, wie sie sich so über das Holz quälte.
Ich setzte mich in die hinterste Ecke und wartete auf die Kellnerin. Kaum zu glauben, doch sogar ein Laden wie der hier, in dem man die Kunden an einer Hand abzählen konnte, leistete sich eine Bedienung. Und sie war eine heiße Bedienung. Mit der hätte ich Dinge tun können! Dinge von denen die meisten Menschen nicht einmal träumten, doch wahrscheinlich würde sie mich nicht lassen. So blieb ich bei meinem Gedanken, schüttete an dem Tag mehrere Bier in meine lüsterne Kehle, die sich nach manch anderen Säften sehnte, und behielt eine meiner Hände schön unterm Tisch.
Nachdem ich meine Nüchternheit bereits soweit hinter mir gelassen hatte, dass ich sie nicht mal mehr mit Monokel und Fernrohr hätte erkennen können, bezahlte ich und stand auf. Beim Hinausgehen grabschte ich der süßen Kellnerin, die die dreißig bereits weit überschritten hatte, an den Hintern. Ihr Aufschrei war mehr als übertrieben. Hätte sie es nicht gewollt, wäre es intelligenter gewesen, den Arsch nicht so demonstrativ in meine Richtung zu strecken.
Draußen, die Hölle hinter und die sterbende Straße vor mir, leuchtete meine glühende Wange mir den Weg, den ich einzuschlagen hatte. Ich ging nach rechts. Richtung Heimat, Richtung echter Hölle.
Wäre ich nicht betrunken gewesen, hätte ich mir an diesem Tag bestimmt einen Schuss versetzt. Doch vom Alkohol war ich benebelt genug und mein gewaltiger Ständer, der überraschender Weise immer noch meine Einschlagsrichtung zeigte, raubte mir den restlichen Verstand.
Völlig überrascht stand ich wieder vor unserem Haus. Das Licht in der Küche und das in meinem Zimmer brannte noch immer, doch die Silhouetten waren weg. Der Wagen meines Vaters stand nicht mehr vor dem Haus, somit war alles klar.
Ich versuchte mich mit meinen gleichgewichtsgestörten Händen an der Regenrinne hinaufzuziehen, wie ich es schon so oft getan hatte. Doch nach wenigen Zentimetern rutschte ich ab und landete wieder auf dem Boden. Die Tulpen waren bereits bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und so setzte ich mich einfach in die von Würmern besiedelte Erde. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie gierig auf meinen knochigen Arsch starrten.
Plötzlich wurde mir speiübel und ich übergab mich geradewegs auf Mutterns Beet. Nun ja, vielleicht war’s ja guter Dünger. Als sich mein Würgen einstellte, blickte ich auf das Gemisch meines Mageninhaltes hinab und sah etwas, was meinen Blick für sich beanspruchte. Zwischen den Tulpen wuchs ein einzelnes, riesengroßes Gänseblümchen. Niemals zuvor hatte ich eines gesehen, das auch nur annähernd diese Größe erreicht hatte. Allerdings, muss ich zugeben, hatte ich auch noch nie zuvor darauf geachtet. Ich kannte mich nicht sonderlich mit Pflanzen aus, doch ich war mir sicher, dass es keine Margarite war.
Es war ein Gänseblümchen. Und wie es da inmitten der stolzen, schönen Tulpen stand, während mein Erbrochenes bereits in die Erde einsickerte, hatte ich Mitleid mit dem armen Ding. So allein, so einsam. Bevor ich es mit meinen langsamen Gedanken erfassen konnte, rollte eine Träne über meine Wange, durchbrach das Gitter meines von mir gebauten Gefängnisses.
Ich streckte die Hand aus und grub sie in die Erde. Vorsichtig entfernte ich das Blümchen mitsamt allen Wurzeln und trug es zum Wasserhahn. Ich wusch den Meisten Dreck von ihren zarten Blättern und betrat dann unser Haus. Meine Schuhe hinterließen braune, erdige Flecken auf dem hellgrauen Linoleum. Ich glaube, auf dem Weg zur Garage traf ich auf meine Mutter. Wahrscheinlich sagte sie etwas, doch es war mir egal. Ich pflanzte das Gänseblümchen in einen winzigen Topf und trug es in mein Zimmer.
Auf meinem Nachttisch war der perfekte Platz für sie.
Jede Nacht, kurz bevor mich der Schlaf überfällt, blicke ich ein letztes Mal auf die weißen Blätter. Bereits zweimal musste ich sie umpflanzen, sie wächst von Tag zu Tag.
Wenn die Sonne scheint nehme ich sie mit nach Draußen und lege mich mit ihr ins Gras. Wenn es regnet sitzen wir auf unserer Fensterbank, denn der Regen gefällt ihr. Manchmal, wenn die Wassermassen strömen als würden die Wolken gemolken werden, höre ich sie fast jauchzen. Doch leider hatte Gott ihr Stimmbänder verweigert.
Als ich heute Morgen aufwachte sah ich sie an und beinah wäre mein Herz stehen geblieben. Zwischen den erdigen Brocken bahnte sich ein weiteres Blümchen, klein und hilflos, ihren Weg nach Draußen, ihren Weg zu mir.
© Tamira Samir